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Präsident Mursi entmachtet

Und jetzt, Ägypten?

Kommentar

Die ägyptische Opposition triumphiert: Nach sechs Tagen Protest ist Präsident Mursi entmachtet. Doch der Preis war hoch, denn der erste Demokratieversuch am Nil ist gescheitert. War das nun ein guter Tag für Ägypten?

Als General Abdel-Fattah Al-Sisi am Mittwoch Abend endlich vor die Kamera tritt, wird es kurz still auf dem Tahrir-Platz. Dann brandet ein Sturm der Begeisterung auf, die Menschen jubeln, singen und tanzen. Feuerwerksraketen werden in den Nachthimmel geschossen, Vuvuzelas, Hupen und Sprechchöre tönen durch die Innenstadt von Kairo. Man könnte meinen, Ägypten sei gerade Fußballweltmeister geworden. Was bereits seit Stunden klar ist, wird nun offiziell bestätigt: Präsident Muhammad Mursi ist abgesetzt. Die Verfassung ist außer Kraft, eine Expertenregierung unter Adli Mansour, dem obersten Verfassungsrichter, soll die Geschicke des Landes leiten, bis eine neue Verfassung ausgearbeitet ist und Neuwahlen durchgeführt werden.

 

Die »Tamarrod«-Kampagne, die in den vergangenen drei Monaten mehr als 22 Millionen Unterschriften gegen den Präsidenten sammelte und die Proteste initiierte hat damit ihr Ziel erreicht. Die Erwartungen an die Demonstrationen anlässlich des ersten Amtsjubiläums von Muhammad Mursi waren hoch und wurden dennoch übertroffen. Die Zahl der Menschen auf den Straßen und Plätzen von Kairo und anderen Städten überstieg jene während der Revolution im Januar 2011 deutlich.

 

Der umjubelte General verteidigte einst die erniedrigenden »Jungfräulichkeitstests«

 

Früh wurde deutlich, auf wen die Demonstranten ihre Hoffnung richteten. Jedem Militärhubschrauber der in den letzten Tagen über die Proteste der Opposition flog, wurde frenetisch zugejubelt. Die vielen Opfer der anderthalbjährigen Militärherrschaft scheinen vergessen. An die erniedrigenden »Jungfräulichkeitstests«, die Soldaten damals an festgenommen Demonstrantinnen vornahmen und die genau jener General Al-Sisi – der nun als Held gefeiert wird – damals eifrig verteidigte, lässt man sich nur ungern erinnern.

 

Die Stimmung auf dem Tahrir-Platz erinnerte in den letzten Tagen an die Revolution im Januar 2011. Doch der Mann, den die Massen und das Militär nun aus dem Amt gejagt haben, ist kein Diktator, der sich Jahre oder gar Jahrzehnte an der Macht gehalten hat. Mursi mag sich nicht wie ein lupenreiner Demokrat verhalten haben, aber an die Macht kam er durch die ersten, halbwegs demokratischen Wahlen der neueren ägyptischen Geschichte.

 

Auch wenn man auf dem Tahrir-Platz und in der ägyptischen Blogosphäre lieber von einem »Neustart der Revolution« spricht – der erste Demokratieversuch in Ägypten ist gescheitert. »Yasqut, yasqut, Hukm al-Murschid – nieder mit dem Hohen Rat der Muslimbrüder« hallte es in den letzten Tagen durch Mohamad-Mahmud-Straße, die vom Tahrir-Platz Richtung Osten führt – die Demonstranten sahen Mursi als Marionette des Rates und insbesondere dessen Vorsitzenden Muhammad Badie.

 

Vor anderthalb Jahren sangen sie hier noch »Yasqut, yasqut Hukm al-Askar – nieder mit der Militärherrschaft«. Auf die friedliche Forderungen nach Wahlen reagierte der Oberste Militärrat (SCAF) damals mit einem Massaker, das 47 Tote und hunderte Verletzte unter den Demonstranten forderte.

 

Der Sicherheitsapparat arbeitete eigentlich erstaunlich gut mit Mursi und seiner Regierung zusammen

 

Einige wenige scheinen sich besser zu erinnern – fassungslos reagieren sie auf die Euphorie über den Militärputsch. Doch sie bleiben in der Minderheit. »Das Militär und das Volk sind eines«, hört man die Demonstranten singen. Sind sie das wirklich? Ein Facebook-Post fasst das widersprüchliche Verhältnis zwischen Volk und Militär folgendermaßen zusammen: Frage Beziehungsberater: »Warum kommst du immer wieder zurück, selbst wenn er dich schlägt?« Antwort Ägypten: »SCAF meint es nur gut mit mir. Er schlägt mich, weil er mich liebt!«

 

Doch das Militär liebt vor allem seine Privilegien. Welche Regierung diese gewährt, ist sekundär. Auch deshalb arbeitete der Sicherheitsapparat, der Mitglieder der Muslimbrüder vor der Revolution über Jahrzehnte einkerkerte und folterte, plötzlich erstaunlich gut mit Mursi und seiner Regierung zusammen. Für das brutale Vorgehen des Präsidenten gegen seine Gegner erwiesen sich die Streitkräfte als williger Vollstrecker.

 

Doch der wachsende öffentliche Widerstand gegen die Muslimbrüder und die möglichen Unruhen begannen die Interessen der Offiziere zu gefährden. Die Streitkräfte kontrollieren etwa mehr als ein Viertel der ägyptischen Wirtschaft. Sie betreiben Straßen, Hotelressorts und besitzen ganze Industriekonzerne. Militäreigene Unternehmen zahlen wenige oder gar keine Steuern und unterliegen keiner nennenswerten Aufsicht. In den Branchen, in denen das Militär aktiv ist, kann sich kaum freier Wettbewerb entfalten – ein fundamentales Strukturproblem der ägyptischen Wirtschaft. Doch die Bereitschaft künftiger Politiker, die Privilegien des Militärs in Frage zu stellen, dürfte mit dem Putsch weiter gesunken sein.

 

Wenn die Übergangsregierung nicht zeitnah liefert, könnte sie ihre Anhänger sehr schnell wieder verlieren

 

Die Opposition muss nun zunächst einmal gemeinsame Programme und Strukturen für die kommenden Wahlen entwickeln. Was vor einem Jahr scheiterte, ist nicht einfacher geworden, denn ihre Zusammensetzung könnte widersprüchlicher kaum sein: Aktivisten, die im Kampf gegen das Mubarak-Regime ihr Leben riskierten, stehen nun Seite an Seite mit dessen ehemaligen Vertretern und Sympathisanten. Nun, da der gemeinsame Gegner besiegt scheint, könnten alte Differenzen und Animositäten wieder zu Tage treten.

 

Ein Großteil der Demonstranten, der in den letzten Tagen gegen Mursi marschierte, ist eher aus materiellen denn aus ideologischen Gründen auf die Straße gegangen und erwartet nun, dass sich seine Lage schnell bessert. Die Erwartungen an die neue Regierung sind ähnlich unrealistisch hoch wie jene an die Regierung Mursi es waren. Wenn die Übergangsregierung nicht zeitnah liefert, könnte sie ihre Anhänger sehr schnell wieder verlieren.

 

Auch wenn Mursi nun als Sündenbock für alle Missstände herhalten muss, sind die strukturellen Probleme der ägyptischen Wirtschaft und Gesellschaft im Wesentlichen ein Erbe des Mubarak-Regimes. Der neuen Regierung könnten es sogar noch schwerer fallen die Probleme in den Griff zu bekommen als den Muslimbrüdern. Der Putsch wird Touristen und Investitionen aus dem Ausland mittelfristig fernhalten. Gleichzeitig könnten Hilfsgelder aus dem Ausland spärlicher fließen. Insbesondere auf die umfangreiche finanzielle Unterstützung aus Katar wird man nun nicht mehr zählen können. Auch die USA sind nach der Absetzung des Präsidenten rein formal eigentlich dazu verpflichtet, ihre umfangreichen Zahlungen einzustellen.

 

Die Muslimbrüder müssen weiter in die politische Gestaltung mit einbezogen werden

 

Gleichzeitig muss die neue Regierung die gesellschaftliche Spaltung des Landes verhindern. Der Tahrir-Platz ist nicht Kairo und Kairo ist nicht Ägypten. So beeindruckend die Machtdemonstration der Opposition auch war – gerade auf dem Land können die Muslimbrüder weiterhin auf eine breite Anhängerschaft zählen. Die Organisation war nicht stark genug, um die Präsidentschaft zu halten, aber sie bleibt zu stark, als das man sie politisch ignorieren könnte – und mehr als stark genug um Ägypten ins Chaos zu stürzen.

 

Die Muslimbrüder wurden über Jahrzehnte brutal verfolgt und unterdrückt. Nun fürchten sie, dass sich ihr Schicksal wiederholen könnte. Die Zerstörung ihrer Hauptquartiere in Alexandria und Kairo während der Proteste und die aktuelle Verhaftungswelle gegen ihre Führungskader bestätigen diese Ängste und rufen bereits entsprechende Gegenreaktionen hervor. In Algerien führte ein Putsch gegen demokratisch gewählte Islamisten 1991 zu einem langjährigen Bürgerkrieg, dessen Wunden längst nicht verheilt sind.

 

Auch wenn es nicht soweit kommt – die historische Chance auf einen gesellschaftlichen Konsens zwischen Islamisten und Säkularen in Ägypten scheint vergeben. Die gemeinsame Ablehnung des alten Regimes und der Militärherrschaft hatte beide Seiten nach der Revolution im Januar 2011 näher zusammenrücken lassen. Doch das vergangene Jahr und insbesondere die Ereignisse der letzten Tage haben tiefe Gräben aufgerissen. Die Zukunft Ägyptens hängt vor allem davon ab, ob es gelingt, diese wieder zu schließen und die Muslimbrüder weiter in die politische Gestaltung mit einzubeziehen. Die gestrige Party auf dem Tahrir-Platz war beeindruckend. Es bleibt zu hoffen, dass nun kein allzu großer Kater folgt.

Von: 
Ragnar Weilandt

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