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Sexuelle Gewalt gegen Frauen in Indien

Sexuelle Gewalt und Doppelmoral in Indien

Feature

Seit Jahrzehnten gehören Vergewaltigungen zum traurigen Alltag für viele indische Frauen – insbesondere in der Konfliktregion Kaschmir. Dass die Gewalt dort hauptsächlich von Soldaten ausgeht, ignoriert die aktuelle Debatte.

Der Fall der in Neu-Delhi vergewaltigten indischen Studentin beschäftigt in diesen Wochen die indische Gesellschaft und die Weltpresse. Auch mehrere Notoperationen konnten die junge Frau nicht retten – sie erlag am 29. Dezember ihren Verletzungen. Aktivisten weisen nun darauf hin, wie sehr sexuelle Gewalt sich durch weite Teile der Gesellschaft zieht.

 

Ein Aspekt der Debatte wird jedoch auch von ihnen bislang ausgeblendet: Das Ausmaß von staatlich tolerierten Vergewaltigungen durch Militärangehörige in der indischen Krisenregion Kaschmir. Während gewaltsame Proteste in der Hauptstadt und anderswo erste Todesopfer gefordert haben, ist Gewalt und Unterdrückung in der von Indien wie Pakistan beanspruchten nord-westlichen Region an der Tagesordnung.

 

Verrohte Soldaten und Polizisten müssen hier kaum Konsequenzen für ihr Handeln fürchten und vergreifen sich regelmäßig an Frauen. Ein Beispiel hierfür ist das Schicksal von Saira Bano, über das das UN-nahe Nachrichtenportal Women News Network im Juli 2011 umfangreich berichtete. Sie wurde knapp eine Woche nach ihrer Hochzeit von einer Gruppe Soldaten in ihrem Heimatort Bijbehara vergewaltigt. Ihr Ehemann verstieß sie daraufhin für ein Jahr und misshandelte sie in den Monaten danach mehrfach.

 

Saira Banos Schicksal teilen viele Frauen in Kaschmir, Missbrauchsfälle werden jedoch aus Angst selten gemeldet. Einerseits fürchtet man sich vor der Rache der Täter, andererseits wäre dann der Ruf der Frau innerhalb der Gesellschaft zerstört. Hinzu kommt, dass geeignete Ansprechpartner für Betroffene fehlen, da die Sicherheitskräfte oft direkt an Vergewaltigungen beteiligt sind, oder sie zumindest nicht ahnden. Opfer von sexueller Gewalt finden meistens keinen Heiratspartner und fallen so vollständig aus dem Sozialgefüge.

 

Kastensystem noch immer präsent

 

Auch erinnern sich viele Einwohner Kaschmirs noch immer an die traumatischen Ereignisse vom Februar 1991. Damals wurden unter anderem im Dorf Kunan Pospora mehr als hundert Frauen von indischen Soldaten vergewaltigt. Unter den Opfern befanden sich auch Minderjährige und ältere Frauen. Dieses Verbrechen wurde vom UN-Menschenrechtsrat ausführlich dokumentiert, doch bis heute bestreitet das indische Militär die Vergehen.

 

Allein 2008 wurden im ostindischen Bundesstaat Manipur 141 sexuelle Gewaltdelikte aufgezeichnet. Die Dunkelziffer dürfte viel höher liegen. In Manipur ist es üblich, dass hauptsächlich Hindus der höheren Kasten sexuelle Gewalt ausüben. Eine Ahndung dieser Verbrechen bleibt die Ausnahme. Das indische Kastensystem, eigentlich hinduistischen Ursprungs, wird von den christlichen und muslimischen Minderheiten der Grenzregion imitiert.

 

Obwohl das Kastensystem aus bürokratischer Sicht längst abgeschafft ist, spielt es insbesondere in der Heirats- und Familienplanung weiterhin eine entscheidende Rolle. So sind Ehen zwischen Mitgliedern der höchsten Kasten, den Brahmanen, und Angehörigen der Schudra oder Harijans in den Augen vieler Familien unvorstellbar. Einzelne Menschenrechtsaktivisten, wie die indische Autorin Arundhati Roy kritisieren die aktuelle Entwicklung für ihre Doppelmoral.

 

Die Bestrafung der Täter im Neu-Delhi-Fall reiche nicht aus, die Debatte über sexuelle Gewalt dürfe die  Tabu-Themen Kaschmir und Kastenwesen nicht ignorieren. Vor allem in Kaschmir wundern sich viele Menschen über die gegenwärtigen Ausschreitungen. Den Unmut vieler Bewohner Kaschmirs bringt Roy gegenwärtig auf den Punkt: »Warum haben die Inder nicht die Todesstrafe für jene verlangt, die bis heute für ihre Untaten im unterdrückten Kaschmir frei herumlaufen?«

Von: 
Emran Feroz

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