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Sicht auf Pegida in der Türkei

»Deutschland verliert an Attraktivität«

Interview

Die Pegida-Proteste belasten auch die Beziehung zwischen Deutschland und der Türkei. Professor Faruk Şen erklärt im Interview den türkischen Blick auf deutsche Ressentiments – und was sonst hinter der gegenseitigen Entfremdung steckt.

zenith: Sie erforschen wissenschaftlich die deutsch-türkischen Beziehungen. Was ist ihre Einschätzung zu Pegida: Eine vorübergehende Erscheinung, der zu viel Aufmerksamkeit geschenkt wird oder eine ernsthafte Bedrohung?

Faruk Şen: Ich weiß es auch nicht. Ich habe Angst vor Pegida. Ob sie berechtigt ist, ist subjektiv. In Zeiten der Rezession gab es immer Ausländerfeindlichkeit. Meiner Meinung nach sind das keine Nationalsozialisten, sondern elitäre Rassisten. Skinheads erkennt man. Vor ihnen kann man sich deshalb noch irgendwie schützen. Aber Pegida, das sind normale, biedere, deutsche Bürger.

 

Das hört sich harmlos an. Worin sehen Sie die besondere Gefahr durch diese Menschen?

Pegida wird hoffentlich bald wieder von der Bildfläche verschwinden. Was mir Angst macht ist, dass diese rechtsextremen Tendenzen, die sie angestoßen hat, zukünftig von Konservativen übernommen werden. Ich denke da beispielsweise an Konrad Adam.

 

Sie meinen den Gründungssprecher der AfD.

Pegida ist ein geistiges Kind der AfD. Die AfD fährt den eurokritischen Kurs, aber das kann jeder. Die islamkritische Pegida ist für die breite Bevölkerung wesentlich attraktiver.

 

Allerdings gibt es bei der AfD auch Stimmen wie Hans-Olaf Henkel, die sich davon distanzieren.

Auch die werden verstummen, wenn sich der Erfolg bei der Partei einstellt, sobald sie die antiislamischen Parolen übernommen haben. Der Vorwurf beispielsweise, dass Renten sinken, weil es den Flüchtlingen so gut geht, ist Unsinn. Die Türkei hat 1,8 Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Sie haben eine vorübergehende Aufenthaltsgenehmigung bekommen. Wahrscheinlich werden 1,5 Millionen davon eine dauerhafte erhalten. Das sind Relationen, die mit Deutschland nicht vergleichbar sind.

 

Der türkische Premierminister Ahmet Davutoğlu bewertet das Vorgehen von Pegida nicht nur als islamfeindlich, sondern in Anbetracht der Herkunft der Mehrheit der Muslime in Deutschland als türkenfeindlich. Sehen das ihre Landsleute ebenso?

Leider muss ich Davutoğlu in diesem Punkt Recht geben. In der türkischen Gesellschaft hat sich dafür jedoch noch keine Sensibilität entwickelt. Viele haben durchaus davon gehört, aber setzen sich nicht damit auseinander. Die Türkei ist das Land mit den meisten Auswanderern weltweit: 6,8 von 76 Millionen Türken insgesamt, das sind 9 Prozent. Davon sind wiederum 5,8 Prozent in Deutschland. Eigentlich müssten die Türken eine größere Bindung zu den Auswanderern verspüren und sich dafür interessieren, wie es ihren Verwandten im Ausland ergeht. Ich kann wirklich sagen, dass unser Institut hier das Einzige ist, das in Fernsehtalkshows und Interviews immer wieder auf diese Missstände hinweist und sich dafür einsetzt.

 

Ich höre öfters von türkischen Freunden, dass das Ansehen der Deutschtürken in den Augen der türkischen Gesellschaft nicht besonders hoch ist und diese als rückständig gelten.

Ja, das stimmt leider; zu Unrecht. Allerdings habe ich neulich gelesen, dass in Nordrhein-Westfalen zwei Türkeistämmige festgenommen wurden, die im Verdacht stehen, sich dem IS anschließen zu wollen. Bis dahin bin ich fest davon ausgegangen, dass eine derartige Situation nahezu unmöglich sei. Nehmen wir als Gegenbeispiel die Anschläge von Paris. Im Vergleich zu Deutschland ist der Islam in Frankreich maghrebinisch geprägt. Die Jugendlichen in den »Banlieues« haben im Gegensatz zu den relativ stabilen türkischen Familien in Deutschland den Bezug zu ihren Familien häufig verloren. Und anders als in Deutschland bestehen für sie so gut wie keine Aufstiegsmöglichkeiten.

 


Faruk Şen

wurde in Ankara geboren und studierte ab 1971 Betriebswirtschaftslehre an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster, wo er später promovierte. Von 1985 bis 2008 war er Leiter des Zentrums für Türkeistudien. Zurzeit leitet er die Deutsch-Türkische Stiftung für Bildung und wissenschaftliche Forschung (TAVAK) in Istanbul.


Da Sie Frankreich ansprechen: Mir ist aufgefallen, dass weder auf der Istiklal Caddesi noch auf dem Taksim-Platz sichtbare Solidarität mit Charlie Hebdo wiederfinden lässt, auch nicht am Institut Francais und dem französischen Konsulat. Paris scheint sehr weit weg zu sein?

Natürlich haben am Tag des Anschlags und auch tags drauf die frankophilen Türken ihre Solidarität bekundet. Hie und da liest man »Je suis Charlie«. Aber seit der Sarkozy-Regierung ist das Verhältnis wegen der Armenienfrage auf Eis gelegt. Aber auch das Verhältnis zu Karikaturen ist ein anderes. Die Mehrheit lehnt die Gewalt bei diesem Anschlag ab, fühlt sich aber gleichzeitig durch die Karikaturen verletzt.

 

Glauben Sie, dass Pegida mit der Islamisierungsangst durch Einwanderer einem Phantom hinterherjagt und Deutschland für die Türken überhaupt nicht mehr so attraktiv ist?

Leider richtig! Unsere Umfragen haben ergeben, dass 60 Prozent der Türken eine distanzierte Haltung gegenüber Deutschland haben. Die Politik der Regierung, die NSU-Affäre und die Perspektive, dass 30 Prozent der Türken in Deutschland unterhalb der Armutsgrenze leben, machen Deutschland zu einem der unattraktivsten Länder für die Türken. Abgesehen davon wird die Bewaffnung der nordirakischen Kurden im Kampf gegen den IS als Affront in Richtung einer Spaltung der Türkei betrachtet. Ich betone in den Talkshows immer wieder, dass man das nicht so hochkochen sollte. Aber was man sehen muss: Es sind inzwischen schon 256.000 Türken, die Deutschland den Rücken wenden und in die Türkei zurückkehren.

 

Also Deutsche haben Angst vor türkischen Muslimen und die Türken wollen von Deutschland nichts mehr wissen. Sehen Sie Lösungsansätze, um diesem Auseinanderdriften entgegenzuwirken?

Solange Angela Merkel in Deutschland und Tayyip Erdogan in der Türkei an der Macht sind: Nein!

Von: 
Johannes Struck

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