Lesezeit: 7 Minuten
Siedler im Zentrum von Hebron

Unsere feindlichen Nachbarn

Reportage

Nur wenige hundert militante Siedler schaffen es, das Zentrum von Hebron im Westjordanland zu paralysieren und die Anwohner zu drangsalieren. Zu Besuch in einem Ort, in dem die Welt auf dem Kopf steht.

Wir sind spät dran. Während der letzten Viertelstunde hat mich der Guide, der uns heute durch Hebron führen wird, schon dreimal angerufen. Im »Serveece«, dem palästinensischen Minibustaxi, ist jedoch nichts zu verstehen: Motorendröhnen und arabische Gesänge vom Band mischen sich zu einer nur schwer zu durchdringenden Klangmauer. Der Bus fährt ab, wenn er voll ist und hält an, wenn jemand laut ruft – die Ankunftszeit kann also nur angepeilt werden.

 

Die palästinensische Stadt Hebron, im südlichen Westjordanland gelegen, hat circa 170.000  Einwohner. 400 bis 800 davon, je nachdem, welcher Quelle man Glauben schenkt, sind israelische nationalistische Siedler, geschützt von 5.000 Soldaten des israelischen Militärs. Nach Hebron zieht kein Siedler aufgrund von Steuervergünstigungen oder billigen Mieten, wie in den großen Siedlungen, es geht um die Erfüllung eines ursprünglichen Traums der Bewegung: Besiedelung als göttliche Mission zur Befreiung des Heiligen Landes. Siedeln als Full-Time-Job. Zwischen ideologischen Siedlern und Palästinensern, für die das in Hebron gelegene Patriarchengrab ebenso eine heilige Stätte darstellt wie für Juden, kommt es immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Seit dem Hebron-Abkommen 1997 ist die Stadt daher zweigeteilt.

 

Wir haben Glück, Hashem Azzeh wartet auf uns. Zusammen mit einer Gruppe französischer Studenten steht er am Anfang der Al-Shuhada-Straße, direkt vor dem israelischen Checkpoint, der die Straße und ihre umlegende Gegend als so genannte Hebron-2-Zone (H2) vom Rest des arabischen Hebron (H1) abgrenzt. Sie ist als rechtlicher Zuständigkeitsbereich des israelischen Militärs deklariert. Die H1-Zone hingegen unterliegt offiziell der Kontrolle der palästinensischen Autonomiebehörde. Die israelische Armee behält sich jedoch das Recht vor, die H1-Zone jederzeit zu betreten. Hausdurchsuchungen mitten in der Nacht sind an der Tagesordnung. Für die israelische Armee dienen sie dazu festzustellen, wer wo, und mit wie vielen Familienmitgliedern wohnt – »mapping« heißt das im Militärjargon.

 

Die Geschäfte laufen schlecht, nur wenige Touristen verschlägt es nach Hebron

 

Wir begrüßen uns und Hashem stellt uns einen Freund vor, der als einer der letzten Palästinenser mit seiner Familie in der Al-Shuhada-Straße wohnt. Hier fand früher täglich ein belebter arabischer Markt stattfand. Seit dem grausamen Attentat des fanatischen Siedlers Baruch Goldstein, der am 25. Februar 1994 in der Abraham-Moschee 29 Muslime während des Gebets tötete und weitere 150 verletzte, ist damit Schluss. Heute ist der Markt ein paar Straßen weiter in der H1-Zone angesiedelt, doch die Geschäfte laufen schlecht, nur wenige Touristen verschlägt es nach Hebron.

 

Unsere Gruppe unterzieht sich dem israelischen Sicherheitscheck: Taschen abgeben, durch den Metalldetektor laufen, Pässe kontrollieren. Ich warte eine gefühlte Ewigkeit, bis der israelische Soldat mein Visum im Pass gefunden hat und mich passieren lässt. Wir betreten eine Geisterstadt: Alle Läden sind verriegelt, die Türen zugeschweißt, auf der Straße ist weit und breit niemand zu sehen. In erhöhten Wachtürmen sitzen gelangweilt israelische Soldaten, ihre Maschinengewehr im Anschlag.

 

Die rund 30.000 Palästinenser, die in der H2-Zone leben, sind seit der Teilung erheblich in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt: Die Al-Shuhada-Straße war einmal die Hauptverkehrsader Hebrons, seit der Trennung ist den Palästinensern ihre Benutzung jedoch untersagt. Stattdessen legen sie kilometerlange Umwege zurück. Im direkten Umfeld der Siedlungen gilt erhöhte Sicherheitsstufe: Palästinenser dürfen sich hier gar nicht aufhalten, es sei denn, sie sind Anwohner oder besitzen eine spezielle Genehmigung der israelischen Armee.

 

Wir laufen ein Stück auf der Straße, bis zu einem kleinen Unterstand, in dem ein Soldat Wache hält. Ab hier ist der Zutritt für Palästinenser verboten. Wir zweigen rechts ab und erklimmen einen kleinen Abhang, hier befindet sich die palästinensische Schule. Aus den Klassenzimmern hören wir Kinderstimmen, auf dem Hof spielen ein paar Jungs Basketball. Die Schule umgibt ein hoher Zaun, die Fenster sind vergittert, sie wurden wiederholt eingeschmissen. Die Lehrerin erzählt uns von den Ängsten der Kinder vor Siedlerangriffen. »Viele Kinder können nur mit Licht einschlafen, es muss die ganze Nacht angeschaltet bleiben. Andere Kinder sind sehr aggressiv, sie gehen brutal mit ihren Mitschülern um.« Um den palästinensischen Schulkindern einen möglichst sicheren Weg zur Schule zu ermöglichen, werden sie von internationalen Freiwilligen begleitet, menschlichen Schutzschildern. Trotzdem kommt es immer wieder zu Übergriffen. Die Kinder werden beschimpft, bespuckt und getreten.

 

In Tel Rumeida leben 16 Familien in aufeinandergestapelten Wohncontainern

 

Seit der Etablierung der Siedlungen und der Teilung Hebrons haben viele palästinensische Familien die Gegend rund um die Siedlungskomplexe verlassen. Nur wenige sind geblieben, darunter die   Familie von Hashem. Er führt uns auf einem Trampelpfad durch Hinterhöfe und über Mauern hinweg zu seinem Haus, das unmittelbar unter der jüdischen Siedlung Tel Rumeida liegt. Hier leben 16 Familien in aufeinandergestapelten Wohncontainern. Seitdem die Siedlung errichtet wurde, kann er sein Haus nicht mehr von der Straße erreichen, sie ist für Palästinenser gesperrt. Die Eingangstür muss verschlossen bleiben, nur der Hintereingang darf genutzt werden.

 

Wir sitzen in Hashems Wohnzimmer, trinken Tee und essen Kuchen, während Hashem uns von seinem Alltag erzählt. Die Siedler haben die Stämme seiner Bäume durchtrennt und seine Weintrauben vergiftet. Sie werfen ihren Müll in den Garten hinunter und bedrohen die Familie.  Hashem erzählt vom Tod seines Vaters: »Er starb bei uns und wir wollten mit der Familie die letzten Stunden, bevor er begraben wird, hier verbringen. Das israelische Militär untersagte meinen Angehörigen jedoch den Zutritt zum Haus.« Mit Hilfe internationaler Menschenrechtsaktivisten konnte die Zeremonie letztendlich stattfinden. »Als wir meinen Vater anschließend zur Beerdigung tragen wollten, wurden wir vom Militär kontrolliert«, fährt Hashem fort, »mein Vater trug noch immer seine Armbanduhr. Als ein Soldat die Uhr sah, schlug er mit dem Gewehrkolben zu. Dabei brach er ihm das Handgelenk.« Hashems Frau steht in der Tür und hört zu.

 

Zusammen schauen wir ein Video, dass die israelische Menschenrechtsorganisation B´Tselem aufgenommen hat. Wir sehen, wie Hashem versucht, in seinem Garten Oliven zu ernten. Er kommt nicht weit, die Siedler aus Tel Rumeida beschimpfen und bedrohen ihn. Die israelischen Soldaten versuchen den aufgebrachten Siedlern zu erklären, dass das Grundstück und die Olivenbäume laut einer israelischen Gerichtsentscheidung eindeutig Palästinensern gehören. Sie schreiten jedoch nicht ein, als es zu Handgreiflichkeiten kommt.

 

Die Rolle der israelischen Soldaten in Hebron wird kontrovers diskutiert. Die Palästinenser fühlen sich von ihnen nur unzureichend geschützt und kritisieren, dass die Armee zusieht, während Siedler Palästinenser angreifen. Die Siedler beschimpfen die Soldaten und fühlen sich von ihren eigenen Leuten verraten. »Hebron ist verkehrte Welt. Einfach auf den Kopf gestellt. Hier beschützt du die Palästinenser. Ich schwör´s dir, wegen der Juden hier. Du bist daran gewöhnt, dass die Araber Steine schmeißen, aber in Hebron ist es anders. Die Araber tun nichts, wirklich nichts, und die Siedler sind die, die den ganzen Tag Steine schmeißen«, so die Bilanz eines ehemaligen israelischen Soldaten. Seine Aussage wurde von der israelischen Menschenrechtsorganisation »Breaking the Silence« aufgenommen, die Zeugnisse aus der Militärzeit junger Israelis dokumentiert.

Von: 
Anne-Sophie Reichert

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.