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Tötung des Publizisten Rafiq Tagi hat in Aserbaidschan

Mord löst Debatte über Islam, Bürgerrechte und den Iran aus

Analyse

Die Tötung des Publizisten Rafiq Tagi hat in Aserbaidschan eine neue Debatte über drei der sensibelsten Themen ausgelöst: die Beziehungen zum Iran, die Rolle des Islams und der Umgang der Regierung mit der Meinungs- und Pressefreiheit.

Am 19. November wurde der 61-jährige Essayist Rafiq Tagi in der Innenstadt der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku von einem Unbekannten mit sechs Messerstichen niedergestochen. Vier Tage später erlag er in einem Krankenhaus seinen Verletzungen. In einem Interview mit Azadliq Radiosu, dem aserbaidschanischen Service von Radio Free Europe/Radio Liberty, sagte Tagi kurz vor seinem Tod, der Angriff sei die Rache unbekannter iranischer Agenten und muslimischer Fundamentalisten für zwei seiner Artikel.

 

Der Islam- und Iran-kritische Tagi löste erstmals im Jahr 2006 Ärger unter gläubigen Muslimen aus, als er einen deutlich formulierten Artikel in der aserbaidschanischen Wochenzeitschrift Sanat veröffentlichte. Darin behauptete Tagi, Islam und Demokratie seien unvereinbar. Zudem enthielt der Text als kritisch empfundene Verweise auf den Propheten Muhammad. Sozusagen als Antwort auf den Artikel gaben mehrere iranische Ayatollahs Fatwas heraus, in denen Tagi zum Tode verurteilt wurde. Im Jahr 2007 dann verbrachten Tagi und der Sanat-Chefredakteur Samir Sadagatoglu acht Monate in einem Gefängnis des Ministeriums für Nationale Sicherheit. Ihnen wurde Anstiftung zu religiösem Hass durch die Beleidigung des Propheten zur Last gelegt.

 

Doch die Fatwas und die Zeit hinter Gittern hielten Tagi nicht vom Schreiben ab. Am 10. November veröffentlichte er einen Blog-Artikel auf der Webseite kulis.az, indem er Iran direkt angriff. Darin heißt es unter anderem: »Der moderne Iran ist ein leicht zu brechender Mythos.« Außerdem stellte er die geistige Gesundheit des iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad in Frage. Diese Äußerungen, zusammen mit den vorausgegangenen Fatwas, ließen viele Aserbaidschaner glauben, der Iran sei der Hauptverdächtige im Fall Tagi.

 

Fatwa des verstorbenen Ayatollahs Lankarani

 

Bakus Beziehungen zum Iran waren in den letzten Monaten sehr angespannt. Auf der Website des inzwischen verstorbenen iranischen Ayatollah Fazil Lankarani, der eine der Fatwas gegen Tagi ausstellte, dankte sein Sohn Ayatollah Haci Scheich Muhammad Cavad Lankarani Gott für »die rächende Hand, die sich unter den Muslimen Aserbaidschans fand und die das böse Individuum, das islamische Heiligtümer und Allahs Boten beleidigte, zur Hölle schickte«. Vertreter der iranischen Botschaft in Baku leugneten jegliche Verbindung mit dem Angriff. 

 

Der Experte für islamische Theologie Elcin Askerov sieht keinen Zusammenhang zwischen dem Angriff und der Fatwa von Ayatollah Lankarani. »Tagi lebte hier noch fünf Jahre nach der Fatwa. Er ging zur Arbeit und zurück, benutzte öffentliche Verkehrsmittel, und niemand dachte daran, das Urteil umzusetzen, solange Fazil Lankarani noch am Leben war«, sagte Askerov, Vorsitzender des »Internationalen Eurasischen Rats der Islamischen Jugendkonferenz«, in einem Interview mit Azadliq Radiosu. Askerov wies auch den Verdacht von sich, ein aserbaidschanischer Religiöser könnte das Urteil vollstreckt haben. »Ein aserbaidschanischer Muslim ist kein zurückgebliebener Radikaler. Wir müssen die Ergebnisse der Untersuchungen abwarten.«

 

Der Sprecher des Staatsanwaltes, Eldar Sultanov, sagte, die Äußerung von Ayatollah Lankarani sei bekannt. Man würde darauf reagieren, wenn nötig. Weitere Details über die staatliche Untersuchung wurden nicht veröffentlicht. Die Anführer der muslimischen Gemeinden in Baku haben sich nicht öffentlich zu Tagis Tod geäußert.

 

Manche Beobachter meinen, die aserbaidschanische Regierung – immer vorsichtig in Bezug auf den Nachbarstaat Iran – riskiere mit ihrem Schweigen, sich Kritik wegen ihrer Untätigkeit einzufangen. Regierungskritiker beschuldigen die Sicherheitsbehörden, Tagi nicht mit demselben Schutz ausgestattet zu haben, den die britische Regierung dem Schriftsteller Salman Rushdie, der 1989 in einer Fatwa zum Tode verurteilt wurde, zuteil werden lässt. »Die Regierung hätte ihren Bürger beschützen und diejenigen verhaften müssen, die in Aserbaidschan Tagis Tod forderten. Zudem hätten sie Sanktionen gegen jene fordern sollen, die solche Fatwas im Ausland erlassen«, sagte Arastun Oruclu, Direktor des »Ost-West-Recherche Zentrums«.

 

»Das Schweigen der Regierung ist die Antwort«

 

Manche Kritiker gehen noch weiter und sagen, die Regierung würde die anscheinende Ermordung Tagis als Entschuldigung dafür nutzen, die Einschränkungen für praktizierende Muslime zu verschärfen. Jüngst nahm das Parlament einige Gesetzesentwürfe an, die – neben anderen Maßnahmen – den Verkauf von zugelassener religiöser Literatur einschränken und hohe Haftstrafen für diejenigen vorsehen, die nicht zugelassene religiöse Schriften verteilen oder verkaufen.

 

»Die ganze Welt diskutiert diesen Mord, nur die aserbaidschanische Regierung nicht«, ließ Intigam Aliyev, Vorsitzender der Menschenrechtsorganisation »Zentrum für rechtliche Aufklärung«, in einer Presseerklärung verlauten. »Das Schweigen der Regierung ist die Antwort. Sie sind genauso leise wie damals als (der Journalist) Elmar (Huseynov) umgebracht wurde, als Journalisten gekidnapped wurden und unter die Räder von Autos kamen, und als der Wohnraum von vielen zerstört wurde.«

 

Zwei journalistische Fürsprecherorganisationen, das »Komitee zum Schutz von Journalisten« und »Reporter ohne Grenzen«, mahnten die aserbaidschanische Regierung, die Schuldigen vor Gericht zu bringen. Die Regierung betonte, sie arbeite daran. Am 25. November verweigerte jedoch der einflussreiche Chef des Abteilung für politische Öffentlichkeitspolitik in der Präsidenten-Administration, Ali Hasanov, jegliche Aussage zur Identität des Täters. »Die Regierung versucht, alle Fälle zu lösen«, sagte Hasanov. »Wir behandeln diesen nicht gesondert.«

Von: 
Khadija Ismayilova

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