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Wahlen in der afghanischen Provinz

Heiter bis bewölkt

Feature

Die Wahlen sind eine Erfolgsgeschichte, verliefen aber auch mit den für Afghanistan so typischen Widersprüchen. Doch bestätigt sich der positive Gesamteindruck auch außerhalb Kabuls? Teil 3 des Wahltagebuchs von Martin Gerner.

Es braucht ein zwei Tage Abstand, um zu realisieren, wie ambivalent und bisweilen verschieden und widersprüchlich Wahl und Wahlkampf in Afghanistan verlaufen sind. Widersprüche, also die Gleichzeitigkeit von Dingen, die sich auf den ersten Blick auszuschließen scheinen, machen einen Teil der afghanischen Wirklichkeit aus, in einer Gesellschaft, die oft genug für sich selbst nach Erklärungen sucht.

 

Da ist der überbordende Wunsch nach einem Neuanfang. Die einen setzen dabei auf Ashraf Ghani, den intellektuellen Paschtunen, die anderen auf Abdullah Abdullah, den Tadschiken mit paschtunischem Vater. Und zugleich ist da General Raschid Dostum, Ghanis designierter Vizepräsident für den Fall eines Wahlsieges, der im Zuge der afghanischen Kriege und Krisen wenig zimperlich mit Menschenleben umgegangen ist.

 

Ein Warlord mit vernichtender Menschenrechtsbilanz und nach unabhängigen Untersuchungen verantwortlich für die Massentötung an Zivilisten als auch an Hunderten von Taliban-Kämpfern, die er in der Dasth Leili-Wüste unweit von Mazar vergraben ließ, bevor US-Amerikaner und der Westen, mit ihm an der Seite, ein neues Afghanistan ausriefen. Tatsächlich sieht es in den anderen Kandidaten-Teams nicht grundsätzlich besser aus. Einer von Abdullahs Vize-Kandidaten weist eine nicht weniger eine fragwürdige Mujaheddin-Vergangenheit aus. »Wandel und Kontinuität« – so lautet ein prominenter Slogan in dieser Wahl.

 

Man darf gespannt sein, wie der am Ende siegreiche Kandidat das schwierige Spiel mit Bande angeht. Wolken ziehen vier Tage nach der Wahl auf, erwartungsgemäß, nach dem so strahlenden Eindruck des Wahltags, der allerdings ein typisch Kabuler Blick war. Ob der Himmel sich bildlich gesprochen dauerhaft verdunkelt, hängt davon ab, was in den nächsten Tagen aus den Provinzen an Nachrichten kommt.

 

In den Städten wurde unter dem Auge einer relativ kritischen Öffentlichkeit und in Abwesenheit der »Kommandan« gewählt, lokaler Anführer mit bewaffnetem Anhang. Schon wenige Kilometer außerhalb der Stadtgrenze von Kabul aber hatten eben diese »Kommandan« ihre Truppen in den Wahlzentren postiert. Dabei ist das Tragen von Waffen dort streng verboten.

 

Der größte Wahlerfolg: Vertrauen in die eigenen Sicherheitskräfte

 

Überflüssig zu betonen, dass sich so Wähler einschüchtern lassen und ein Resultat manipulieren lässt, wobei man davon ausgehen darf, dass alle Kandidaten in ihren Hochburgen darauf zurückgreifen. Die »Kommandan« dürften außerdem schlau genug sein, ihr Spiel ausgewogen im Sinne der beiden favorisierten Kandidaten zu betreiben. Unklar ist demnach zum heutigen Tag auch noch, ob der Senator aus der Wolesi Jirga, dem afghanischen Oberhaus, der am Wahltag spät ein Team der staatlichen Wahlkommission gewissermaßen in Geiselhaft nahm, um die Stimmzettel des einen Kandidaten zu entfernen und sie durch jene des Gegenkandidaten zu ersetzen, eine Randnotiz ist oder symbolisch für das Gesamtbild steht.

 

Die nächsten Tage werden Hinweise darauf liefern. Derweil hat sich die EU-Beobachtermission in Kabul bewusst offen gehalten, was man von der afghanischen Wahl- und der offiziellen Kommission zur Aufklärung der Beschwerden, erwarten darf. Die Wahl ist afghanisch verlaufen. Das wird immer wieder betont. Es lässt zugleich aufhorchen, dass die fehlende Anzahl an Stimmzetteln, die sich offenbar als landesweite Unregelmäßigkeit am Wahltag erwiesen hat, nicht zuletzt auf Empfehlungen westlicher und internationaler Akteure zurückging.

 

Die Begründung: Wo zu viele Wahlzettel im Spiel sind, steigt das Risiko von Fälschung. Das Kalkül, das afghanische Wahlvolk werde so zahlreich von seinem Stimmrecht Gebrauch machen – so wie es dann kam – war in dieser Rechnung offenbar nicht vorgesehen. Was nicht nur mir auffiel am Wahltag: Die afghanischen Sicherheitskräfte – Polizei, Armee und der Geheimdienst, der die Auszählung der Urnen mitbewacht hat – erschienen am Wahltag durchweg freundlich, unaufgeregt, jedenfalls in Kabul.

 

Das hat man schon anders gesehen. Nicht gesehen habe ich am Wahltag in Kabul das ISAF-Militär, aber auch eine Vielzahl privater Sicherheits- und Geheimdienste, die meist laut und bewaffnet auftreten. Gut möglich, dass hier eine Wechselbeziehung besteht. Jedenfalls vermag man sich vorzustellen, dass es ein Moment der Erleichterung für einheimische Streitkräfte darstellt, wenn nicht im nächsten Moment der gefürchtete Lehrmeister um die Ecke kommt.

 

Es hat allem Anschein nach aber auch am und um den Wahltag gelegentliche Rufe nach Luftunterstützung an das NATO-Militär gegeben. Das ändert nichts daran, dass die Afghanen rein psychologisch in diesen Tagen eher mehr als weniger Vertrauen gewonnen haben in ihre eigenen Sicherheitskräfte. Und Psychologie ist eine wichtige Währung am Hindukusch.

Von: 
Martin Gerner

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