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Wahlen zur Knesset 2015

Der König von Jerusalem und der Herzog von Tel Aviv

Analyse

Benjamin Netanjahu wiederholt, dass Mahmud Abbas nicht für das gesamte palästinensische Volk sprechen könne. Die Knesset-Wahlen zeigen aber: Der Premier selbst muss das Land einen, um glaubwürdig das gesamte israelische Volk zu vertreten.

»Wegen dieses wiedergewählten Idioten suche ich einen süßen Typen mit ausländischer Staatsangehörigkeit, um per Heirat aus diesem selbstzerstörerischen Land zu entkommen. Irgendwer Interesse?« Was Sharon K. kurz nach der Knesset-Wahl in einer Facebook-Gruppe für Tel Avivis postet und dafür innerhalb einer Stunde fast dreihundert Likes bekommt, ist nur ein Symptom für jenen tiefen Graben, der sich immer tiefer durch die israelische Gesellschaft zieht. Immer mehr verfestigt sich der Eindruck, dass sich über die viel beschrieene »Blase« Tel Aviv wirklich eine Käseglocke legt.

 

Würde ganz Israel wie Tel Aviv wählen, hätte Jitzhak Herzogs Zionistische Union 41 Sitze bei den Knesset-Wahlen am 17. März erhalten. Zusammen mit den 16 fiktiven Sitzen der linken Meretz-Partei, deren ehemaliger Vorsitzender Yossi Sarid kurz nach der Wahl trotzig resümierte, dass Meretz »zu gut für Israel« sei, wäre man nur noch drei Sitze von der absoluten Mehrheit entfernt. In einem autonomen Staat Tel Aviv wäre Herzog ohne jeden Zweifel Premierminister.

 

Unterdessen regiert in Jerusalem und selbst in einigen Gemeinden rund um den Gaza-Streifen, die eigentlich schon der kriegsrhetorischen Muskelspiele der Rechten überdrüssig sein müssten, König Bibi und sein Likud. Zusammen mit den noch rechteren HaBait HaYehudi (»Jüdisches Haus«) und Israel Beitenu (»Unser Haus Israel«) und beiden religiösen Parteien Vereinigtes Thora-Judentum (UTJ) und Schas, käme man dort auf stolze 77 Prozent. Der Weg zum monoreligiösen Apartheids-Staat wäre nicht weit. Im Gegenzug bekamen Zionistische Union und Meretz in Jerusalem nicht einmal 14 Prozentpunkte zusammen.

 

Selbstverständlich sollte man Abweichungen zwischen Städten nicht überbewerten. Parteihochburgen und Landstriche, in denen eine Partei kaum Anhänger hat, sind in Demokratien mit heterogenen Gesellschaften natürlich. Aber was in Israel passiert, ähnelt eher einem Zerfall des Landes in zwei Teile mit zwei Gesellschaften. So sehr sich Benjamin Netanjahu im ersten Moment über die Stärke seines Likud und des gesamten rechten Blocks in Jerusalem und in großen Teilen des Landes freuen kann, so sehr sollte er über die rechte Schwäche im großen Gusch-Dan-Gebiets in und rund um Tel Aviv besorgt sein.

 

Nach der Wahl ist Tel Aviv fast apathisch, die Stadt scheint sich in die kollektive innere Emigration zurückzuziehen. Mickey Gitzin, der im Tel Aviver Stadtrat für die Bewegung »Be Free Israel« sitzt, erkennt, dass es »viel Dissonanz gibt zwischen den Eliten Tel Avivs und der Realität des restlichen Israels«. Für den alten und vermutlich neuen Regierungschef bedeutet dies, dass das wirtschaftliche und kulturelle Zentrum des Landes seinem Kurs schlichtweg nicht mehr folgen will.

 

Die Frage ist berechtigt, ob die Menschen am Tel Aviver Gordon-Strand überhaupt noch eine Schnittmenge mit den Menschen am Jerusalemer Jaffa-Tor haben. Wäre Israel keine geographische Einheit, sondern wie das palästinensische Volk in zwei Teile geteilt, könnte Palästinenser-Präsident Mahmud Abbas dann nicht auch lauthals jegliche Gespräche mit Israel mit der Begründung ablehnen, dass Benjamin Netanjahu nur für einen Teil des Volkes sprechen könne? Immerhin leben zwei bis drei Millionen, und damit ungefähr ein Drittel der Gesamtbevölkerung, im Gusch Dan.

 

Wie lange dulden die Tel Avivis noch Bibis Politik der Angst? Die Rechte hingegen wirft der linken Bohème Tel Avivs vor, einerseits die Zionistische Union zu wählen, gleichzeitig, aber schon jeden Restfunken an zionistischem Geist über Bord geworfen zu haben und sich von den teilweise bitteren Realitäten Israels gänzlich abgehoben zu haben. Der Unterschied zwischen Tel Aviv und Jerusalem ist mittlerweile nicht bloß ein Höhenunterschied von knapp 800 Metern, sondern vor allem einer in der Mentalität und im Zeitgeist.

 

Die Wechselstimmung war schon lange nicht mehr so stark im Gelobten Land und die Aussichten für einen politischen Wechsel lange nicht mehr so gut. Das Ergebnis hat allerdings auch eins vergegenwärtigt: Es gibt schlichtweg keine Mehrheit mehr für eine linke Regierung. Mit einer immer schneller wachsenden orthodoxen Wählergemeinschaft und expandierenden Siedlungen ist nicht gerade zu erwarten, dass die rechten Parteien einen starken Einbruch erfahren werden. Dies ist gerade bitter, da die Vorzeichen in diesem Jahr infolge von Sara Netanjahus Pfandflaschen-Skandal, Korruptionsvorwürfen und der immer weiter wachsenden internationale Isolation besonders gut standen. Das Israel der Vorväter, das auf sozialistischen Idealen aufbaute, gibt es nicht mehr.

Von: 
Max Rotenkamp

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