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40. Jahrestag des Militärputsches in der Türkei – Teil 3

»Die türkische Linke stand niemals im Widerspruch zum Kemalismus«

Interview
40. Jahrestag des Militärputsches in der Türkei – Teil 3
Doğan Akhanlı (*1957), Schriftsteller, Übersetzer und Menschenrechtler Foto: Manfred Wegener

Zeitzeugen, Journalisten und Forscher schildern in zenith, wie der Putsch vor 40 Jahren die Türkei bis heute prägt. Heute mit dem Schriftsteller Doğan Akhanlı und dem Journalisten Jürgen Gottschlich.

Jürgen Gottschlich (*1954), Journalist und Buchautor, Marmaris

Jürgen Gottschlich studierte Philosophie und Publizistik und war 1978 an der Gründung der tagezeitung (taz) beteiligt. Ein Jahr später kam er zum ersten Mal in die Türkei, wo er seit 1998 lebt. Von 1992 bis 1994 war er Stellvertretender Chefredakteur der taz. Neben seiner Arbeit als Korrespondent hat er zahlreiche Bücher veröffentlicht, unter anderem gemeinsam mit seiner Frau, der Schriftstellerin Dilek Zaptçıoğlu.

40. Jahrestag des Militärputsches in der Türkei – Teil 3
königschulte/taz

 

zenith: Wie haben Sie den Militärputsch 1980 miterlebt?

Jürgen Gottschlich: Zum Zeitpunkt selbst befand ich mich nicht vor Ort. 1979 hatte ich für die taz die Stadt Fatsa am Schwarzen Meer besucht, wo es der linken (extremistisch eingestuften) Partei »Devrimci Yol« (kurz: DEV-YOL, türkisch: »Revolutionärer Weg«) gelungen war, die Kommunalwahlen zu gewinnen. Fatsa galt damals als sozialistische Hochburg und wurde dementsprechend bereits im August 1980 vom Militär eingenommen. Mitte September, eine Woche nach dem Putsch, wurde ich von der taz wieder nach Istanbul geschickt.

 

Waren die Auswirkungen im öffentlichen Leben sichtbar?

Soldaten patrouillierten praktisch überall. Ab 19 Uhr herrschte Ausgangssperre, und niemand hätte sich dann auf die Straße gewagt. Mich erstaunt, wie schnell ganze Organisationen eingesackt wurden: Die Leute wurden in Massen, manche für Jahre verhaftet. Viele setzten sich ins Ausland ab. In Deutschland hatte ich mit zahlreichen politischen Flüchtlingen zu tun, beispielsweise aus dem Umfeld des DEV-YOL. Die unpolitischen Teile der Bevölkerung begrüßten die Ereignisse mitunter, denn die jahrelangen Ausschreitungen und Schießereien zwischen zivilen Milizen hatten ganze Stadtteile in No-Go-Areas verwandelt.

 

Haben sich Flüchtlinge in Deutschland organisiert?

Den meisten Asyl-Anträgen wurde stattgegeben. Der DEV-YOL zum Beispiel koordinierte seine Aktivitäten aus dem Exil. Einzelne begannen sich dann allmählich auch in der deutschen Politik zu engagieren, bei den Grünen oder der Alternativen Liste. Trotzdem wollten viele zurück. Um wenigstens seine Verwandten wiederzusehen, ließ man etwa durch einen Anwalt vorfühlen, ob in der Türkei weiterhin Anklage bestehe. Aydın Engin beispielsweise durfte erst 1991 zurückkehren und arbeitete ab 1992 bei der Zeitung Cumhuriyet.

 

Welche Auswirkungen lähmen die Türkei bis heute?

Seit Einführung der neuen Verfassung führen die Gewerkschaften in der Türkei ein Schattendasein. Überhaupt ist es aufgrund der neuen Gesetzeslage unmöglich, ohne Genehmigung der Betriebsleitung Mitglied zu werden. Die Führung des Gewerkschaftsbunds Devrimci İşçileri Sendikaları Konfederasyonu (DİSK), der Millionen Mitglieder zählte, landete damals durchweg im Knast. Manche wurden für mehr als zehn Jahre aus dem Verkehr gezogen. Als sie Mitte der 1990er Jahre wieder anfingen, waren an ihre Stelle Gewerkschaften wie die Türkiye İşçi Sendikaları Konfederasyonu (TÜRK-İŞ) getreten, um den türkischen Markt für den Kapitalismus zu öffnen. Das Recht auf Streiks und Tarifverhandlungen wurde damit abgeschafft. Mich erstaunt, mit welcher Leichtfertigkeit Islamisten und etliche Sekten protegiert wurden, um ein Wiedererstarken der Linken zu verhindern. Das Ergebnis ist jetzt sichtbar.

 

War der Westen an dem Putsch beteiligt?

Es ist anzunehmen, dass die NATO den Generälen grünes Licht gab, um in ihrem Land »aufzuräumen«. Dagegen war wohl niemand, durch die NATO geplant war der Putsch aber nicht. In einem Interview habe ich dazu einmal den damaligen bundesdeutschen Verteidigungsminister Hans Apel befragt, jedoch keine Antwort erhalten.


Doğan Akhanlı (*1957), Schriftsteller, Übersetzer und Menschenrechtler, Köln

Doğan Akhanlı kam mit zwölf Jahren nach Istanbul und studierte später in Trabzon Pädagogik und Geschichte. 1975 wurde er nach dem Kauf einer linksgerichteten Zeitschrift zum ersten Mal verhaftet. Als Mitglied der »Revolutionären Kommunistischen Partei« (TDKP) ging er nach dem Militärputsch von 1980 in den Untergrund, wurde 1985 festgenommen und gemeinsam mit seiner Frau und seinem 16 Monate alten Sohn für zweieinhalb Jahre inhaftiert.

 

1989 erschien der erste Teil seiner Romantrilogie Kayıp Denizler (»Die verschwundenen Meere«). 1991 floh er nach Deutschland und begann, sich mit historischer Gewalt, insbesondere mit dem Völkermord an den Armeniern, zu beschäftigen. 2010 geriet er in Istanbul erneut in Untersuchungshaft, 2017 in Madrid mit einem internationalen Auslieferungsbescheid für zwei Monate unter Hausarrest. Er ist Träger, u. a., der Pfarrer-Georg-Fritze-Gedächtnisgabe und der Goethe-Medaille.

40. Jahrestag des Militärputsches in der Türkei – Teil 3
Foto: Türkan Kentel

 

Warum wurden Sie 1985 verhaftet?

Es ging um meine Mitgliedschaft in linken Organisationskommittees wie der »Patriotischen Revolutionären Jugendföderation«.

 

Wie wurden Sie behandelt?

Im Polizeipräsidium wurde ich einen Monat lang gefoltert. Man war dort jeder Zeit auf körperliche Gewalt vorbereitet. Elektroschockgeräte gab es nicht. Zu den üblichen Methoden gehörten beispielsweise das Pfahlhängen und die Bastonade; auch Männer wurden unter Umständen sexuell erniedrigt. Das schwerste Trauma war für mich die Angst um meine Frau, die in Izmir mit unserem Sohn in jenem Gebäude einsaß, in dem man mich gegen Abend verhörte. Man ließ sie dann stundenlang an ein Heizungsrohr ketten, um sie und mich gemeinsam zu quälen.

 

Im September 1987 wurden Sie aus der Haft entlassen. Wie ging es weiter?

Mein Verfahren wurde wegen Verjährung eingestellt. Diese Entscheidung kippte der Gerichtshof jedoch 1988 und verlängerte das Urteil in unserer Abwesenheit zu dreizehn Jahren und vier Monaten für meine Frau und zwanzig Jahren für mich. Kurz darauf wurde unsere Tochter geboren. Da für uns in der Türkei nur die Wahl zwischen Gefängnis und erneuter Flucht blieb, traten wir 1991 die Ausreise nach Deutschland an.

 

Was motivierte Sie dazu, die Geschichte der türkischen Nation kritisch aufzuarbeiten?

Von meiner politischen Gesinnung kam das nicht, denn mit Ausnahme von İbrahim Kaypakkaya stand die Linke in der Türkei niemals im Widerspruch zum Kemalismus. In den 1980er Jahren litten kurdische Aktivisten und radikale Linke gleichermaßen unter Verfolgung. Nationalismus und ethnische Diskriminierung wurden bei uns aber nicht diskutiert. Nach dem Gefängnis fühlte ich mich durch meine Erlebnisse quasi von meiner Sprache entfremdet. Dagegen beeindruckte mich die rege Debatte um den Holocaust, die ich Anfang der 1990er Jahre in Deutschland beobachtete. Für mich war das ein ideales Beispiel, wie ein Land mit seiner Vergangenheit umgehen muss. Im Vergleich dazu haben wir es in der Türkei mit einer offiziellen Geschichtsschreibung zu tun, der 90 Prozent der Bevölkerung zustimmen. Die vertriebenen Griechen, die ermordeten Armenier und unterdrückten Kurden werden darin verschwiegen.

 

2010 wurden Sie durch Untersuchungshaft in Istanbul daran gehindert, Ihren sterbenden Vater zu besuchen. Was hat der türkische Staat an Ihnen auszusetzen?

Man warf mir vor, Teil einer illegalen Organisation zu sein, die mir nicht bekannt war. Diese vollkommen willkürliche Anklage ohne jegliche Indizien zielte wahrscheinlich auf meine frühere Mitgliedschaft in der radikalen Linken. Gleichzeitig, so nehme ich an, hatte man mir die Entmantelung der unbequemen Details unserer Geschichte nicht verziehen.

 

Wie hat sich die Türkei seit 1980 verändert?

Zugegeben, die systematische Folter der 1980er Jahre ist verschwunden, das haben mir unter anderem Mitinsassen in Tekirdağ 2010 bestätigt. Allenfalls nach dem 15. Juli 2016 mögen einige Offiziere besonders schwer misshandelt worden sein, meinem Eindruck nach waren das Ausnahmen. Aber anders als beispielsweise Griechenland, Portugal und Spanien, wo sich die Demokratie nach militärischer Intervention frei entfalten konnte, ist die Türkei nie über den Putsch hinaus gekommen. Weil das Militär die radikale Linke als Gefahr betrachtete, öffnete es dem Islamismus die Tür. Dabei entstand eine neue, ein wenig laizistische und doch grundlegend konservative Gesellschaft. Sie ist heute an einem Punkt angelangt, an dem sie sich nicht weiter islamisieren kann. Mit willkürlichen Verhaftungen, sei es von Osman Kavala, Selahattin Demirtaş oder der Schriftstellerin Aslı Erdoğan, sendet man nicht nur kritischen Stimmen in der Türkei Signale. Man zeigt auch, wie wenig das Vertrauen ausländischer Regierungen heute noch gilt. Das Absurde an diesen Methoden ist ja, dass sie oft das Gegenteil erreichen. Nehmen Sie mich: Die Verhaftung in Madrid 2017 hat in mir alte Wunden aufgerissen und dennoch dazu geführt, dass man sich in ganz Deutschland für mich interessierte.

 

Wie schätzen Sie in der Türkei die Opposition ein?

Die Führung der wichtigsten Oppositionspartei, der kemalistischen CHP, erscheint mir ebenso konservativ wie kraftlos. Die Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee Ende Juli 2020 war ein Schlag gegen das säkulare Staatssystem. Die CHP hat geschwiegen, und wenn nicht einmal Atatürks eigene Partei ihren Laizismus verteidigt, muss das heißen, dass man ihr nicht trauen kann. Um dieses Vertrauen zurückzugewinnen, müssten sie bei den Kurden anfangen und sich offiziell von der nationalistischen Politik der 1930er Jahre distanzieren. Davon abgesehen, verhalten sich auch die linken Parteien zu unentschieden.

Von: 
Stefan Pohlit

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