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Waffen, Milizen und Ben-Gvir in Israel

Zwei am Abzug

Feature
Waffen, Milizen und Ben-Gvir in Israel
Itamar Ben-Gvir (l.) und Yoav »The Shadow« Eliassi (r.)

Unter dem Schock nach dem 7. Oktober erlebt Israel eine beispiellose Aufrüstung von Zivilisten. Der rechtsextreme Innenminister Itamar Ben-Gvir nutzt tiefsitzende Ängste, um aus Bürgerwehren eine neue paramilitärische Machtbasis aufzubauen.

Am 21. Dezember 2023 postet Yoav Eliassi ein Foto auf Facebook, auf dem er vor einem Verkaufsgeschäft für taktische Ausrüstung steht. In olivgrüner Kampfkleidung, die Beine gespreizt wie ein Kampfhahn, lässt er ein Sturmgewehr vom Typ Arad zwischen seinen Beinen bäumeln, an seiner Hüfte hängt eine Pistole. Yoav Eliassi ist in Israel unter seinem Künstlernamen »The Shadow« bekannt. Der Rapper und rechtsextreme Aktivist ist trotz der auf seinen Profilen in den sozialen Medien zur Schau gestellten Montur eigentlich Zivilist. Auf seiner Schulter prangt ein Abzeichen mit der hebräischen Aufschrift Kitat Konenut – zu Deutsch: schnelle Eingreiftrupp.

 

Dieser Begriff bezeichnete in der israelischen Geschichte eine ganze Reihe unterschiedlicher Arten meist lokaler Bürgerwehren. Nach den Hamas-Anschlägen vom 7. Oktober griff der rechtsextreme Innenminister Itamar Ben-Gvir das Konzept auf, um seinen eigenen Plänen Vorschub zu leisten. Bis Juni 2025 vermeldete sein Ministerium rund 403.000 Lizenzanträge und insgesamt rund 335.000 erteilte Waffenscheine. Vor dem 7. Oktober zählte Israel rund 172.000 Waffenscheininhaber – die Zahl der legal bewaffneten Israelis hat sich also fast verdoppelt.

 

Zivile Aufrüstung wurde somit sowohl zu einem Bewältigungsmechanismus als auch zu einer öffentlichen Zurschaustellung von Virilität. Die Demütigung des 7. Oktober erschütterte die gesellschaftlichen Vorstellungen von Stärke und Sicherheit. Berichte über sexuelle Gewalt durch Hamas-Kämpfer verstärkten das Gefühl geschlechtsspezifischer Verletzlichkeit. Männer im ganzen Land, die Vertrauen in die Schutzfähigkeit des Staates verloren, griffen zur Waffe.

 

Journalisten fragten einen der Rädelsführer, den Likud-Abgeordneten Hanoch Milwidsky, ob es legitim sei, »einem Menschen einen Stock in den Anus zu stecken«

 

Ende Juli 2024 nahm Israels Militärpolizei mehrere israelische Wärter des Gefängnisses Sde Teiman wegen des Verdachts der Vergewaltigung eines palästinensischen Häftlings fest. Als die Nachricht die Runde machte, stürmte ein Mob – angeführt von maskierten Soldaten und Knesset-Abgeordneten – das Gericht, um die Freilassung der Beschuldigten zu erzwingen. Journalisten fragten einen der Rädelsführer, den Likud-Abgeordneten Hanoch Milwidsky, ob es legitim sei, »einem Menschen einen Stock in den Anus zu stecken«. Seine Antwort: »Ja! Wenn er zur Hamas gehört – dann ist alles legitim! Alles!«

 

Die Fetischisierung von Waffen als Ausdruck männlicher Dominanz ist zu einem zentralen Bestandteil der israelischen Nachkriegsidentität geworden. Schusswaffen sind keine Gebrauchsgegenstände mehr, sondern Symbole von Macht, Rache und sexueller Kontrolle. Sie sind Statussymbole und phallische Projektionen zugleich – Totems einer verletzten Männlichkeit, die nach Selbstbestätigung strebt.

 

Wenn die Grenze zwischen bewaffneten Zivilisten und dem Gewaltmonopol des Staates verschwimmt, verschwindet auch die Grenze zwischen Recht und Selbstjustiz. Die Ersten, die im bewaffneten Chaos den Preis zahlen, sind immer dieselben: Frauen, Kinder, Minderheiten und Staatenlose. In Gaza und im Westjordanland, aber auch in Israel selbst, hat eine Gesellschaft, die die Waffe mit dem Phallus verwechselt, wenig Platz für Menschen, die sie für schwach hält.

 

Der Zusammenbruch der vermeintlichen Unverwundbarkeit Israels hat das klassische Repertoire toxischer Männlichkeit aktiviert: Aggression, Kontrolle, Angst vor Verletzlichkeit. Und so eine politische Kultur genährt, die »harte« Männer mit »harten« Waffen belohnt. Dieses Bedürfnis befriedigt nun Ben-Gvir.

 

Aufgrund seines umfangreichen Vorstrafenregisters ist Itamar Ben-Gvir vom Erwerb eines Waffenscheins ausgeschlossen

 

Itamar Ben-Gvir musste sich nach eigenen Angaben 53 Mal vor Gericht verantworten und wurde in acht Fällen für schuldig befunden. Verurteilt wurde der 49-Jährige anderem wegen Aufruhr, Behindern von Polizeiarbeit, Anstiftung zum Rassismus sowie jeweils zweimal wegen Waffenbesitz und Unterstützung terroristischer Propaganda. Seit Ende 2022 ist Ben-Gvir – mit kurzen Ausnahmen infolge der Waffenpause im Gaza-Krieg – Innenminister im Kabinett Netanyahu. Damit unterstehen ihm auch Israels Polizeikräfte. Doch die ignorieren oft genug die Vorgaben ihres formal Vorgesetzten. Und so nutzt Ben-Gvir die Aufrüstung von Zivilisten, um sich eine paramilitärische Machtbasis aufzubauen.

 

Dazu instrumentalisiert Israels Innenminister berechtigte Ängste und manipuliert das Kitat-Konenut-System, um eine unregulierte Miliz zu schaffen, die sich von Polizei und Armee unterscheidet. Dabei steht Ben-Gvirs eigene Vergangenheit im Widerspruch zu seinem Law-and-Order-Image: Aufgrund seines umfangreichen Vorstrafenregisters durfte er nicht in der Armee dienen und ist vom Erwerb eines Waffenscheins ausgeschlossen. Nach seinem Einzug in die Knesset im Jahr 2021 wurde ihm allerdings der Besitz einer Handfeuerwaffe gestattet. Mindestens zweimal schwang er diese Pistole in aller Öffentlichkeit – einmal um Palästinenser in Scheich Jarrah einzuschüchtern, ein anderes Mal während eines Streits mit arabischen Parkplatzwächtern. Anklage wurde in keinem der beiden Fälle erhoben.

 

Schon bevor Ben-Gvir Teil der Regierung wurde, setzten sich Figuren wie Yoav Eliassi über Recht und Gesetz hinweg. 2014 gründete der Rapper eine Gruppe namens »Löwen des Schattens« – ein Schlägertrupp, der linke Demonstranten aufmischt. Im vergangenen Sommer tauchte Eliassi bewaffnet und in Uniform in Tel Aviv auf, kommandierte Freiwillige seiner gerade gegründeten Kitat-Konenut-Einheit und kontrollierte wahllos arabische Passanten. Anstatt Ermittlungen einzuleiten, belohnte Ben-Gvir Lob den selbsternannten Milizenführer mit einem fiktiven Polizei-Ehrentitel.


Dr. Eran Tzidkiyahu ist französisch-israelischer Politikwissenschaftler. Er lehrt an der Hebräischen Universität Jerusalem und ist Mitglied des Sekretariats der Bewegung »Ein Land für alle: Zwei Staaten. Ein Heimatland«.

Von: 
Eran Tzidkiyahu

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