Während Israels Angriffe in Gaza täglich zu neuen Todesopfern führen und die Verhandlungen über einen Waffenstillstand stocken, bläst die Regierung Netanyahu zum erneuten Angriff auf den Rechtsstaat. zenith befragte drei Experten zu den Gefahren für die israelische Demokratie.
Der ehemalige Generalstaatsanwalt Avichai Mandelblit warnte am Montag in einem Interview für den Radiosender Kan Reshet Bet, dass man sich in Israel auf das »Ende der Demokratie« zubewege. Dabei war es Netanyahu persönlich, der Mandelblit 2016 für den Posten des Generalstaatsanwalts nominiert hatte. Damals ahnte der Premierminister wahrscheinlich nicht, dass Mandelblit nur wenige Jahre später israelische Rechtsgeschichte schreiben würde. Denn 2019 wurde der angesehene Jurist zum ersten Generalstaatsanwalt, der einen regierenden Premierminister anklagte – und zwar keinen Geringeren als Benjamin Netanyahu. Die Vorwürfe lauteten: Bestechung, Untreue und Betrug. Mandelblits Warnung vor dem Ende der Demokratie löste in Israel ein beträchtliches Medienecho aus.
Bereits im März beschloss die Regierung einstimmig, Mandelblits Nachfolgerin Gali Baharav-Miara das Misstrauen auszusprechen. Damit sollten die Bedingungen für die Entlassung der Generalstaatsanwältin geschaffen werden. Der Justizminister und Architekt der sogenannten Justizreform, Yariv Levin, versuchte daraufhin, die Juristin zu einer Anhörung vorzuladen. Doch als die am 14. Juni stattfinden sollte, blieb Baharav-Miara fern und erklärte schriftlich, es handele sich um einen »unverhohlenen Versuch, die Generalstaatsanwaltschaft in eine Institution zu verwandeln, die verpflichtet ist, Gesetzesverstöße zu stützen und die von Strafverfolgungsmaßnahmen gegen Regierungsbeamte und ihre Mitarbeiter zurückschreckt.«
Die Anhörung sollte vor einem eigens dafür von Justizminister Levin geschaffenen Ministerkomitee stattfinden. Dadurch wurde das ursprünglich für das Verfahren verantwortliche Auswahlgremium unter der Führung des ehemaligen Präsidenten des Obersten Gerichtshofs, Asher Grunis, umgangen und eine Mehrheit für die Entlassung Baharav-Miaras sichergestellt.
Bereits im September legte der Journalist Ronen Bergman unter Berufung auf Quellen in den Sicherheitsdiensten dar, dass signifikante Teile des Berichts der Bild schlichtweg falsch gewesen seien oder verzerrt wurden
Kurz vor ihrer geplanten Anhörung legte die Generalstaatsanwältin mit zwei weiteren brisanten Ankündigungen nach. Zuerst erklärte sie, Anklage gegen ein Mitglied des israelischen Strafvollzugsdienstes zu erheben. Der Gefängnisbeamte Kobi Yaakobi soll nicht nur ein enger Vertrauter des rechtsextremen Innenministers Itamar Ben Gvir sein, sondern ebenfalls einen Kollegen bei der Polizei vor einer verdeckten Ermittlung gegen ihn gewarnt haben. Die Tageszeitung Haaretz enthüllte, dass der verdächtigte Polizeibeamte Hinweise des israelischen Inlandsgeheimdienstes Shin Bet zu terroristischen Siedlern ignorierte und von der Bekämpfung von Siedlergewalt im besetzten Westjordanland absah.
Kurz darauf geriet auch der Netanyahu-Vertraute und -Berater Yonathan Urich ins Visier der Generalstaatsanwältin. Auch gegen ihn soll Anklage erhoben werden, unter anderem wegen der »Weitergabe geheimer Informationen mit der Absicht, die nationale Sicherheit zu gefährden«. Laut der Anklageschrift soll er mit weiteren Komplizen aus Netanyahus Umfeld ein geheimes Schreiben an die Bild-Zeitung geleakt haben, um die öffentliche Meinung – nach der Ermordung von sechs Geiseln in einem Tunnel unter der Stadt Rafah im August 2024 – zugunsten Netanyahus zu beeinflussen. Zuvor hatte der israelische Zensor verhindert, dass das Papier in lokalen Medien veröffentlicht wird. Doch bereits im September legte der Journalist Ronen Bergman unter Berufung auf Quellen in den Sicherheitsdiensten dar, dass signifikante Teile des Berichts der Bild schlichtweg falsch gewesen seien oder verzerrt wurden.
Die versuchte Anhörung und die drohenden Anklagen trieben den Konflikt zwischen der Generalstaatsanwältin Baharav-Miara und der noch unabhängigen Justiz einerseits und der Regierung Netanyahu andererseits auf die Spitze. Wie steht es also um die israelische Demokratie?
Die Professorin Tamar Hostovsky Brandes vom Ono Academic College spricht im Hinblick auf den Versuch, die Generalstaatsanwältin zu entlassen, gar von einem »offenen Krieg« mit dem Ziel, die Gewaltenteilung zu schwächen. Ihr Kollege Professor Barak Medina von der Hebräischen Universität in Jerusalem bescheinigt der Regierung ebenfalls das Ziel, die Demokratie abzuschaffen. Professor Yaniv Roznai von der Universität Reichman bestätigt dies: Die israelische Regierung versuche gleichzeitig, Institutionen, die ihre Macht beschränken, zu schwächen oder zu übernehmen und mit Loyalisten zu besetzen.
Ein neuer Gesetzesentwurf soll es einer neuen Regierung erleichtern, in ihren ersten 100 Tagen im Amt hohe Beamte im öffentlichen Dienst zu entlassen
Der Generalstaatsanwältin kommt dabei eine besonders wichtige Rolle im israelischen Institutionengefüge zu. Ihre Aufgabe ist es, darauf zu achten, dass die Regierung ihre Ziele im Einklang mit dem Recht verfolgt, wozu sie zur Interpretation von Gesetzen befugt ist. Außerdem ist sie für die Leitung der Strafverfolgung verantwortlich. »Somit können lediglich der Oberste Gerichtshof und die Generalstaatsanwältin die Regierung wirklich bremsen«, betont Roznai. Und gerade der Obere Gerichtshof sei bereits geschwächt, da sich die Regierung weigere, Richterstellen nachzubesetzen, bevor das Auswahlverfahren nach ihren Vorstellungen umgestaltet werde, kritisiert Hostovsky Brandes.
»Anders als in Deutschland gibt es in Israel keine zweite Kammer in der Legislative – wie den Bundesrat –, ebenso wenig eine Verfassung, die durch etwas wie eine Ewigkeitsklausel geschützt wird, und auch keinerlei föderales Gegengewicht zur Regierung«, erklärt Roznai. Im Klartext bedeutet dies, dass jede neue Regierung »grundlegende Spielregeln« mit einfacher Mehrheit verändern könnte. Hinzu kommt, dass die Opposition »eigentlich keine Möglichkeit hat, ein Gesetz der Regierungskoalition in der Knesset zu stoppen«, so Hostovsky Brandes.
Neben den dafür vorgsehenen Posten und Institutionen der Generalstaatsanwältin und des Obersten Gerichtshofs spielt auch die Verwaltung eine bedeutende, wenngleich informelle Rolle bei der Begrenzung von Regierungsmacht. »Die israelische Bürokratie soll unabhängig, professionell und im Interesse der Öffentlichkeit handeln«, unterstreicht Hostovsky Brandes. Und anders als in den USA sei es in Israel nicht üblich, dass bei einem Regierungswechsel im großen Stil hohe Posten in der Verwaltung neu besetzt würden, fügt Roznai hinzu.
Das ist der Regierung natürlich ein Dorn im Auge. Abhilfe soll ein neuer Gesetzesentwurf schaffen, der es einer neuen Regierung erleichtern soll, in ihren ersten 100 Tagen im Amt hohe Beamte im öffentlichen Dienst zu entlassen. Darunter fallen zahlreiche Posten wie jener der Generalstaatsanwältin, der Geheimdienstleitung und Polizei sowie der Gefängnisverwaltung oder auch des Vorsitzes der Haushaltsabteilung im Finanzministerium.
Dass sich die Regierung weder in Gaza, im Westjordanland noch in Syrien an internationales Recht gebunden fühle, zeigt, wie wenig sie von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie halte
Die befragten Experten sind sich jedoch einig, dass es angesichts der aktuellen Koalitionskrise – die Regierung verfügt über keine stabile Mehrheit in der Knesset – sehr unwahrscheinlich ist, dass dieses Gesetz wirklich verabschiedet wird. Doch die Gesetzesvorlage offenbart laut Professor Medina auch, dass hohe Verwaltungsbeamte weiterhin Einfluss haben und die Regierung bremsen können – es sich also noch nicht um »Marionetten« handelt. Trotzdem ist das kein Grund zur Entwarnung, gibt Hostovsky Brandes zu bedenken, denn auch ohne eigene Mehrheit kann die Regierung weiterhin großen Schaden an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit anrichten.
Als Beispiel nennt die Professorin den mittlerweile gescheiterten Versuch, den palästinensischen Abgeordneten Ayman Odeh aus der Knesset auszuschließen, obwohl die notwendigen Voraussetzungen für einen Ausschluss überhaupt nicht gegeben waren. Zusätzlich haben Teile der Opposition dieses Vorhaben auch noch »verrückterweise«, wie Medina findet, unterstützt. »Studien zeigen immer wieder, dass solche Vorgänge zu einem Rückgang der Wahlbeteiligung der arabischen Minderheit führen. Dass die Repräsentanz von Minderheiten in einer Demokratie so sehr gefährdet wird, darf nicht passieren«, machte Hostovsky Brandes deutlich.
Allerdings reicht es nicht, nur die Opposition zu beschuldigen, argumentiert Medina. Er erinnert sich an den Beginn der Proteste gegen die sogenannte Justizreform: »Ich war ein Teil der Gruppe, die den Kampf gegen die Justizreform anführte, und wir mussten uns damals entscheiden, ob sich der Protest nur gegen die spezifischen Vorhaben richten wird oder auch die dahinterliegenden Werte und Ideologien angeht.« Die Gruppe entschied sich, Ideologien und Werte auszusparen, um auch Rechte, die zum Beispiel an die Gewaltenteilung glauben, für den Protest zu gewinnen. »Das Aussparen von Themen wie Gleichheit aller Menschen und Besatzung hatte einen Preis, denn wir haben die Möglichkeit verpasst, die grundlegenden Werte und Überzeugungen der Bevölkerung zu beeinflussen.«
Die Missachtung jener Werte, die eine liberale Demokratie stützen sollen, spiegelt sich auch in der aktuellen Kriegsführung wider. Hostovsky Brandes betont, dass im Hinblick auf den Krieg und die laufenden Verhandlungen über einen Waffenstillstand sowie die Freilassung der Geiseln die Regierung Entscheidungen nicht sachlich oder faktenbasiert treffe. Doch diese Art der Entscheidungsfindung ist ebenfalls ein zentraler Bestandteil einer rechtsstaatlichen Demokratie. Ähnlich sieht es auch Professor Medina, denn dass sich die Regierung weder in Gaza, im Westjordanland noch in Syrien an internationales Recht gebunden fühle, zeigt, wie wenig sie von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie halte.
Zu beobachten sei diese Einstellung insbesondere bei der Polizei und ihrem immer gewalttätigeren Handeln gegenüber Protestierenden
Die von der Regierung demonstrativ zur Schau gestellte Geringschätzung des Rechtsstaats wirkt tief in die israelische Gesellschaft hinein. »Wenn sie sich schon nicht an Recht und Gesetz hält, warum sollte ich es dann?«, spitzt es Hostovsky Brandes zu. Zu beobachten sei diese Einstellung insbesondere bei der Polizei und ihrem immer gewalttätigeren Handeln gegenüber Protestierenden. Medina ergänzt, dass der enthemmte Gewalteinsatz der Polizei letztendlich auch aus den besetzten Gebieten nach Israel übergeschwappt ist.
Wie bewerten also die drei Experten vor diesem Hintergrund den Zustand der israelischen Demokratie? Hostovsky Brandes wählt die Worte »schnell erodierend«, ähnlich Medina, der von einem »schnellen Verfall« spricht. Ihr Kollege Roznai geht sogar noch weiter, indem er sagt: »Formulierungen wie ›auf dem Rückzug‹ oder ›erodierend‹ sind eigentlich Euphemismen.« Denn der Angriff auf die Demokratie befinde sich auf dem Höhepunkt seiner Macht. Ginge es so weiter, mahnt Roznai, könne Israel kaum noch als liberale Demokratie bezeichnet werden. Dabei stuft der von der Universität Göteborg herausgegebene Demokratie-Index V-Dem, welcher mehrere hundert Merkmale zur Analyse heranzieht, bereits seit letztem Jahr Israel nicht mehr als liberale, sondern als Wahldemokratie ein.
Hostovsky Brandes und Medina sind überzeugt, dass nur ein eindeutiger Sieg der Opposition bei den nächsten Wahlen diesen Prozess aufhalten kann. Wohingegen Roznai zu bedenken gibt, dass gerade Wahlen den Anreiz für die Regierung schaffen, weiter zu polarisieren und ihre Angriffe auf unabhängige Institutionen zu verstärken. Seine Forschung habe gezeigt, dass die Unterstützung für die sogenannte Justizreform nicht auf den vorgelegten Begründungen basiere – zum Beispiel, dass der Oberste Gerichtshof angeblich links und aktivistisch sei –, sondern viel stärker auf dem Hass des politischen Gegners.
Es liege also im Interesse der Regierung, an ihrem spaltenden Populismus festzuhalten. Hinzu komme die Besonderheit, dass der Populismus in Israel sich vor allem aus einem Diskurs rund um Sicherheit speise – anders als etwa in Europa, wo vor allem Themen wie Migration, Demografie, Wirtschaft und Kultur im Vordergrund stünden. Die Fortsetzung des Krieges in Gaza und die anhaltende Besetzung des Westjordanlands gehen also Hand in Hand mit dem Angriff auf die Institutionen in Israel.
»All diese Schutzmaßnahmen bleiben letztendlich wertlos, wenn niemand auf die Straße geht, um sie zu verteidigen«
Umgekehrt bedeutet das auch, dass der Weg zurück zur liberalen Demokratie nur über Frieden, ein Ende der Besatzung und eine Beruhigung der sicherheitspolitischen Spannungen führen kann, ist Medina überzeugt. Ähnlich argumentiert Roznai, der darauf hinweist, dass Friedensverträge wie die mit Ägypten und Jordanien dem Sicherheitspopulismus der Regierung den Nährboden entziehen.
Außerdem müssten endlich besondere Hürden für die Änderung von Grundgesetzen festgelegt werden, fordert Roznai. »Etwas, was es in jeder normalen Demokratie gibt«, kommentiert Medina. Zusätzlich müsste der Menschenrechtskatalog in den israelischen Grundgesetzen vervollständigt werden. Aktuell wird beispielsweise der Gleichheitsgrundsatz im Gegensatz zur Menschenwürde oder Freiheit nicht explizit erwähnt. Doch dies seien eigentlich nur »Erste-Hilfe-Maßnahmen«, sagt Medina.
Denn ein Gesetz zu verabschieden sei zwar nicht trivial, aber um einiges einfacher, als große Teile der Bevölkerung von den Werten der liberalen Demokratie zu überzeugen. »All diese Schutzmaßnahmen bleiben letztendlich wertlos, wenn niemand auf die Straße geht, um sie zu verteidigen«, resümiert Roznai. Man ist sich einig, dass es zum nachhaltigen Schutz der Demokratie auch Erziehung zur und Bildung für die Demokratie braucht.
Damit das gelingt, bedarf es laut Medina auch der internationalen Gemeinschaft. Liberale Demokratien wie Deutschland sollten jene demokratischen Kräfte in Israel aktiv unterstützen, die sich für Freiheitsrechte, Gewaltenteilung und Gleichheit einsetzen. Dafür reiche allerdings eine Überweisung hier und dort an die ein oder andere NGO nicht aus. Denn es brauche auch deutliche Kritik an der Regierung, die klar macht, dass der Oberste Gerichtshof und das internationale Recht respektiert werden müssen.
Tamar Hostovsky Brandes ist Dozentin an der Juristischen Fakultät des Ono Academic College in Kiryat Ono. Sie lehrt und forscht auf dem Gebiet des Völker- und Verfassungsrechts mit den Schwerpunkten an der Schnittstelle zwischen Völkerrecht und innerstaatlichem Recht sowie an der Schnittstelle von Recht und politischer Theorie.
Yaniv Roznai ist außerordentlicher Professor und Vizedekan an der Harry Radzyner Law School und Co-Direktor am Rubinstein Center for Constitutional Challenges der Reichman University. Er lehrt und forscht in den Bereichen vergleichendes Verfassungsrecht, Verfassungstheorie, Gesetzgebung und Völkerrecht. Seine Schriften wurden in den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und zahlreichen Verfassungsgerichten auf der Welt zitiert.
Barak Medina ist Inhaber des Landecker-Ferencz-Lehrstuhls für den Schutz von Minderheiten und gefährdeten Gruppen an der Juristischen Fakultät der Hebräischen Universität Jerusalem. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich des Verfassungsrechts und der ökonomischen Analyse des Rechts. Medina ist Autor von Dutzenden Artikeln und sieben Büchern. Zu seinen Büchern gehören die neuesten Auflagen des maßgeblichsten Buches über das israelische Verfassungsrecht.