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Binnenexil in der Türkei

Der neue Reiz der Provinz

Reportage
Der neue Reiz der Provinz
Die knapp 70.000 Einwohner Urlas verteilen sich auf rund ein Dutzend dörflicher Gemeinden und einen historischen Stadtkern im Herzen des fruchtbaren Hügellands, das im Süden vor dem Golf von Samos endet. Foto: Stefan Pohlit

Viele Istanbuler kehren ihrer Stadt den Rücken. Sie kommen mit Geld und Ideen an die Ägäis-Küste und wollen vor allem eines: von der Regierung in Ruhe gelassen werden.

Ihr Atelier in Istanbul hat Necla Köse aufgegeben. Jetzt arbeitet die Konzeptkünstlerin von Urla aus, einer Kleinstadt in der Nähe von Izmir. Ihre beruflichen Kontakte könne sie auch von hier aus pflegen, erzählt Necla – dafür brauche sie Istanbul nicht. Die Künstlerin ist bei Weitem nicht die einzige, die aus der Metropole am Bosporus ausgezogen ist, um in der Provinz Izmir ein neues Zuhause zu finden. Insbesondere in Urla wächst ganz im Verborgenen eine Oase für verstoßene »Dichter und Denker« heran.

 

Seit dem Putsch im Juli 2016 befördern die politischen Entwicklungen eine innertürkische Fluchtbewegung, wie sie das Land seit der Zypernkrise in den Siebzigern nicht mehr erlebt hat. Es ist der Auszug all jener, die Erdoğans Reformen im eigenen Land entfremdet haben. Die meisten von ihnen kommen aus Istanbul und verfügen über einen Hochschulabschluss.

 

Sie einseitig in der Tradition des Kemalismus oder gar im Milieu der Protestbewegungen zu verorten, würde der Buntheit dieses stillen Exodus nicht gerecht: Was sie verbindet, sind die Angst vor dem autoritären Präsidialstaat und die Resignation über die Gleichschaltung des öffentlichen Lebens. Insbesondere Familien fürchten die zunehmende Gewalt auf den Straßen oder suchen einen Ausweg, um eine Einschulung ihrer Kinder im »Imam-Hatip«-System noch abzuwenden.

Die Auswanderer verbindet die Resignation über die Gleichschaltung des öffentlichen Lebens.

Andere haben schlicht genug von der Anspannung in der aus den Fugen brechenden Metropole. Wie die Istanbuler Griechen in den 1960er- und -70er-Jahren überlassen sie den einstigen Schmelztiegel der Kulturen einer immer eintönigeren Islamisierung.

 

Izmir, wo sie sich in ihren demokratischen Überzeugungen noch mehrheitlich unter sich wähnen, gilt als die letzte Hochburg des Laizismus. Es könnte schlechtere Orte geben, um dem politischen und gesellschaftlichen Klima der »neuen Türkei« zu entgehen: Umgeben von Bergkuppen und dichten Wäldern, eingebettet in ein klares Meer und die sauerstoffreiche Luft, erweckt diese träge, freundliche Stadt alle Sehnsüchte Zivilisationsmüder zum Leben.

Der neue Reiz der Provinz
Die Küste hat Yurdagül an ihre alte Heimat erinnert: die Prinzeninseln im Marmarameer. Bis zu ihrer Pensionierung arbeitete sie als Sekretärin an der TU Istanbul. Nun haben sie und ihr Mann Rahmi ein Haus in Urla gekauft und renoviert. Foto: Stefan Pohlit

Mit offenen Armen werden die Neuankömmlinge allerdings nicht empfangen: Die örtliche Schönwettergesellschaft empfindet sie als Eindringlinge, denn angeblich drohen die exzentrischen Ansprüche, die man ihnen zuschreibt, die lang bewahrte Nostalgie auf den Kopf zu stellen. Angesichts steigender Mieten und Grundpreise ist bereits von einer schleichenden »Istanbulisierung« die Rede.

 

Dabei fallen die Auswanderer vom Bosporus als Minderheit kaum auf, und anders als die Syrer kommen sie nicht mit leeren Händen. Sie stärken den Einheimischen in der Verteidigung ihrer Privilegien vielmehr den Rücken. So wurde ein Plan der Großstadtverwaltung, ein beliebtes Naherholungsgebiet zur Bebauung freizugeben, im August 2017 mit Hilfe einer Online-Petition verhindert, ohne dass es zu Gewalt kam.

Der neue Reiz der Provinz
Önder hat Mathematik studiert, danach jedoch wie viele Absolventen keine Arbeit gefunden und sich für eine Beamtenlaufbahn bei der Post entschieden. Vor zwei Jahren haben er und seine Frau sich dann nach Urla versetzen lassen. Foto: Stefan Pohlit

Izmir wächst. Auch der Zustrom ärmerer Menschen aus den anatolischen Provinzen reißt nicht ab. Der Einfluss der Neuankömmlinge aus Istanbul, ihre Intelligenz und ihr Kapital entfalten sich am sichtbarsten in der Nische. Vor allem an Orten, wo die Regierung infolge von Tradition und Landschaftsschutz auf Dauer keinen Fuß in die Tür bekommen wird, wie in Urla im Südwesten der Halbinsel, knapp über 20 Kilometer südwestlich vom Izmirer Stadtzentrum entfernt. Die Alphabetisierungsrate in dieser Kleinstadt gehört von Haus aus zu den höchsten des Landes. Sowohl die Schule des Deutschen Generalkonsulats als auch das Institut für Technologie Izmir haben hier ihren Standort.

 

Das Schulangebot und die Aussicht, dass ihre Töchter hier in einem sorglosen Umfeld aufwachsen und ohne Gefahr im Freien spielen können, hat die Familie von Önder nach Urla gelockt. Önder hat Mathematik studiert, danach jedoch wie viele Universitätsabsolventen keine Arbeit gefunden und sich für eine Beamtenlaufbahn bei der Post entschieden. Vor zwei Jahren hat er sich dann – gemeinsam mit seiner Frau – nach Urla versetzen lassen.

 

Die knapp 70.000 Einwohner Urlas verteilen sich auf rund ein Dutzend dörflicher Gemeinden und einen historischen Stadtkern im Herzen des fruchtbaren Hügellands, das im Süden vor dem Golf von Samos endet. Von der Anhöhe führt eine von Pinien gesäumte Allee in den ausgelagerten Hafendistrikt hinab. Der Literatur-Nobelpreisträger Giorgos Seferis verbrachte an dieser Küste seine Jugend, was bis auf die Betreiber des verstaubten Boutique-Hotels in seinem Geburtshaus lange niemanden rührte.

Die Alteingesessenen befürchten schon eine »Istanbulisierung«.

Die Küste und die Inseln hat Yurdagül an ihre alte Heimat erinnert: die Prinzeninseln im Marmarameer. Bis zu ihrer Pensionierung arbeitete sie als Sekretärin im Prüfungsamt der Technischen Universität Istanbul. Jetzt hat sie mit ihrem Mann Rahmi ein Haus in Urla gekauft und eigenständig renoviert.

 

Karantina, die größte und nächstgelegene von insgesamt zwölf unbewohnten Inseln, wurde bereits in der Antike mit einem Damm ans Festland gebunden und diente in osmanischer Zeit als Quarantäne-Station für einfahrende Schiffe. Im 5. Jahrhundert v. Chr. gründeten hier peloponnesische Siedler Klazomenai, eine der zwölf Städte jenes Bundes, auf den in der arabischen und der türkischen Sprache der Name Griechenlands verweist: Yūnān, Yunanistan – Ionien. Die ersten Amphoren und Sarkophage wurden 1921 noch vor dem Griechisch-Türkischen Krieg freigelegt. Heute teilen sich die Universitäten von Ankara und Ordu die Ausgrabungen, die längst in die Bronzezeit und weit unter den Meeresspiegel
hinabreichen.

 

Die politische Lage wirft jedoch bereits einen langen Schatten: Durch das Ausbleiben der ausländischen Touristen gehen die Staatseinnahmen zurück, und das bedeutet auch einen Rückgang der Fördermittel, klagt Yaşar Ersoy, der Projektleiter der prähistorischen Stätte Limantepe gleich gegenüber von Klazomenai. Die Archäologen setzen inzwischen vermehrt auf Öffentlichkeitsarbeit und die Gewinne, die sich mit den ausgestellten Funden beim eigenen Volk verdienen lassen. Ähnlich wie die ionischen Naturphilosophen haben sie sich erst nach und nach mit viel Geduld und Humor gegen die viel weltlicheren Interessen der Anlieger durchgesetzt.

 

1979, als Güven Bakır im Auftrag der Izmirer Ege-Universität in der Gegend zu graben anfing, sahen die meisten Anlieger nur den Angriff auf ihr Hab und Gut, weil betroffene Grundbesitzer damals nicht entschädigt wurden. Ironischerweise wird der entscheidende Hinweis, dass man auf eine archaische Olivenöl-Manufaktur gestoßen war, ausgerechnet auf einen Bauern zurückgeführt, der in drei nebeneinander ausgeschachteten Gruben die Überreste eines polyma erkannt haben soll – einer bis in die Neuzeit geläufigen Technologie zur Trennung von Öl und Wasser.

 

Eine originalgetreue Nachbildung dieser »Fabrik« wurde in Zusammenarbeit mit einem deutschen Reetdach-Händler verwirklicht und 2006 mit der Produktion von 38 Liter Öl öffentlich eingeweiht. Seither zählt sie zu den Wahrzeichen des Hafenviertels.

Der neue Reiz der Provinz
Im Unterschied zu den Äckern im Landesinneren galten gerade die Strände früher als völlig wertlos. Der Bau der ersten zweistöckigen Feriensiedlungen begründete einen neuen Wirtschaftszweig und einen dauerhaften demografischen Wandel. Foto: Stefan Pohlit

Auch Urlas schleichende Verwandlung in ein Zentrum des regionalen Fremdenverkehrs begann Ende der 1970er-Jahre. Damals vertraute das Gewerbe noch ausschließlich auf die Landwirtschaft – Oliven, Tabak, Mandarinen und Okraschoten. Erst in den vergangenen Jahren hat sich der Schwerpunkt auf Landschaftsarchitektur und ertragreicheren Qualitätsanbau verlagert; dazu gehören Wein und der aus Chios importierte Mastix-Baum, in erster Linie aber Artischocken, die nach einmaliger Aussaat eine mehrjährige Ernte versprechen.

 

Im Unterschied zu den Äckern im Landesinneren galten gerade die Strände früher als völlig wertlos, was sich schon daran zeigt, dass man sie traditionell an Töchter vererbte. Der Bau der ersten zwei- bis dreistöckigen Feriensiedlungen begründete aber nicht nur einen neuen Wirtschaftszweig, sondern eine planlose Verstädterung und einen dauerhaften demografischen Wandel.

 

Nachdem nämlich die Grundstücke nahe der Küste aufgebraucht waren, wurden bald auch die Felder verkauft, was viele wohlhabende Familien dazu verführte, ihre Einkommensgrundlage für einmalige Prämien zu verschleudern. So verdienen die ehemaligen Gutsherren ihr Brot heute als Dienstleistende im Tourismus. Inmitten von Beton, Staub und Asphalt mag an die einstigen Grünflächen entlang der Uferstraße nach Izmir nur noch der Name erinnern: Güzelbahçe, zu Deutsch »schöner Garten«.

 

Der Ansturm auf den Immobilienmarkt wurde im Oktober 2015 noch einmal durch ein Gerücht befeuert. Angeblich seien Angelina Jolie und Brad Pitt nach Urla gezogen. Die Nachricht erschien sogar in der Hürriyet und führte zu einer beispiellosen Preisexplosion. Die Mieten für das beschränkte und weiterhin marode Wohnungsangebot sind entsprechend der Torschlusspanik auf Istanbuler Niveau geklettert, in einigen Fällen sogar darüber hinaus.

Wer hier an ökologisches Verständnis appelliert, kommt angesichts der Inflation und der weiterhin guten Geschäfte zu früh.

Der Bau der nunmehr fünften Moschee im selben Amtsbezirk lässt zudem darauf schließen, dass die Regierung in absehbarer Zeit auch eine Genehmigung zur Rodung weiterer Hügelkämme erteilt und die heimischen Wildschweine, Füchse, Wiesel, Eichelhäher und Greifvögel aus ihren Revieren vertreibt.

 

Wer hier an ökologisches Verständnis appelliert, kommt angesichts der Inflation und der weiterhin guten Geschäfte zu früh: »Die Leute kommen ja nicht einmal mit den Mülltonnen klar«, kommentiert ein Anwohner. Das Rathaus hingegen schweigt und äußert seinen Enthusiasmus eher dort, wo prestigeträchtige Projekte hohe Einnahmen garantieren. Dabei steht es vor der Aufgabe, eine Korruption einzudämmen, in die sie allem Anschein nach lange selbst verwickelt war.

 

Insbesondere die Sommerhäuser am Meer verstoßen gegen ein Gesetz, das die Strände zum Gemeinschaftseigentum erklärt. Kommunalpolitiker haben im eigenen Interesse vermieden, sich gegen die jahrzehntelange Praxis von Sondergenehmigungen aufzulehnen. Vielmehr entsteht im Norden des Hafenviertels, auf einem historischen Gräberfeld, eine neue Villensiedlung, deren Bauherr, Selçuk Karaosmanoğlu, bis 2014 selbst als Bürgermeister im Amt war.

Der neue Reiz der Provinz
Der Ansturm auf den Immobilienmarkt führte zu einer beispiellosen Preisexplosion. Die Mieten für das beschränkte und weiterhin marode Wohnungsangebot sind entsprechend der Torschlusspanik auf Istanbuler Niveau geklettert. Foto: Stefan Pohlit

Seit einiger Zeit entstehen Windparks in der Region. Die Verteilung liegt jedoch in den Händen einer einzigen Firma und der Erdoğan nahestehenden Familie Sancak. Die übt ihre Befugnisse ohne Absprache mit den lokalen Behörden aus. Windräder werden über Nacht in Naturschutzzonen installiert, die Zugangswege gesperrt, um Bäume zu fällen. Die in den Windparks gewonnene Energie könnte den Bedarf der umliegenden Dörfer decken, stattdessen wird die gewonnene Elektrizität von der Ägäis aus durchs ganze Land gepumpt.

 

Urla bleibt dafür weiterhin auf den privaten Betreiber Gediz aus Izmir angewiesen, der auf die steigende Verbraucherzahl ungenügend vorbereitet scheint. Obwohl die Gebühren deutlich erhöht wurden, fällt häufig der Strom aus.

 

Weil die Immobilienblase nicht ewig fortwähren kann, investiert die Stadtverwaltung in ihre unvergänglichen kulturellen und topografischen Schätze, um Kurzurlauber anzulocken. Mit einem Artischocken- und einem Weinlesefest wird bereits jetzt das Bedürfnis eines urbanen Publikums nach ländlicher Idylle gestillt. Für den Kulturtourismus wurde im Stadtzentrum das jüngst sanierte Griechenviertel mit seinen wertvollen alten Steinhäusern in eine »Künstlergasse« umfunktioniert. Außerdem wird jedes Frühjahr ein Kompositionswettbewerb zum Gedenken an den Popsänger Tanju Okan ausgelobt.

 

Und alljährlich veranstaltet die UMAK, eine private Akademie für klassische Musik, Meisterkurse mit internationalen Dozenten. Der Schriftsteller Necati Cumalı, der seine Kindheit in Urla verbrachte, wird in einem eigenen Museum geehrt. Selbst der ionische Naturphilosoph Anaxagoras darf sich seit Herbst 2017 als sitzende Bronzeskulptur hinter dem Rathaus unter die Teetrinker mischen – ein Symbol für die Partnerschaft mit dem benachbarten Chios und Zeichen dafür, dass die Bevölkerung den »Feind« längst nicht mehr im Westen, sondern in Ankara sieht.

Von: 
Stefan Pohlit

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