Gegen Ende des 7. Jahrhunderts versank der Nahe Osten in Aufruhr. Ausgerechnet ein Vertreter der verfemten Umayyaden sorgte für Stabilität – und gab dem Islam eine neue Vergangenheit.
Am Anfang des Islam stehen der Prophet Muhammad und der Koran. Aber was für ein Islam war das? Der Koran wurde erst im Lauf des 7. Jahrhunderts zum Buch und stand als solches nur wenigen zur Verfügung. Die Sunna – also die überlieferte Handlungsweise – des Propheten wurde erst später ausgearbeitet; im 7. Jahrhundert war die wichtigste Sunna die der jeweiligen Kalifen. Die Scharia gab es auch noch nicht. Gab es schon Muslime? Man nannte sich meist »Gläubige« (Mu’minun), und das Wort Islam als Religionsbezeichnung war noch nicht gängig. Der Islam war einfach noch nicht auskristallisiert. Er brauchte Gestaltung und dazu hat der Umayyadenkalif Abd Al-Malik, der von 685 bis 705 regierte, vieles beigetragen – so viel sogar, dass man ihn als Gründer oder Zweitgründer des Islam auffassen kann.
Ein Umayyaden-Kalif als Gründer des Islam? Mancher Muslim wird das wütend leugnen: Die Umayyaden waren doch Mörder, Säufer, Usurpatoren und noch vieles mehr! Mag sein, aber Abd Al-Malik hat einen Islam gegründet und ihn der Öffentlichkeit präsentiert. Dass sein Islam abwich von dem Islam-Entwurf späterer Schriftgelehrter, dafür konnte er nichts.
Als Abd Al-Malik antrat, hatte er mit vielen Feinden zu kämpfen. Er hatte von seinem Vater Marwan zwar ein riesiges Reich geerbt, das ganz Persien und halb Ostrom umfasste, aber das Reich war marode. Der Ostteil wollte nie spuren und war aus Damaskus heraus schwierig zu regieren. Schiiten und Kharidschiten rebellierten, und anfangs musste er noch ein anderes Kalifat vernichten: das von Abdallah Ibn Al-Zubair (er regierte von 680 bis 692). Dieser residierte in Mekka; sein kompetenter Bruder Mus’ab herrschte über große Teile des Iraks und Irans, während den Umayyaden manchmal nicht viel mehr blieb als Syrien und ihre Hauptstadt Damaskus. Abdallah und seinen Bruder zu vernichten gelang Abd al-Malik 692: Beide wurden getötet, der Bürgerkrieg war beendet. Der Kalif muss erschrocken gewesen sein über die Kluft, die sich aufgetan hatte zwischen Syrien und Arabien. Jetzt kam es darauf an, die Einheit wiederherzustellen.
Der nach dem Krieg wiedervereinigte Staat brauchte eine allgemein akzeptierte Ideologie und einen Gründungsmythos, in dem Arabien eine Hauptrolle spielen sollte. Dazu war Urwa Ibn al-Zubair (643–712) sehr von Nutzen. Als Abd Al-Malik dessen Brüder Abdallah und Mus’ab getötet hatte, eilte der viel jüngere Urwa nach Damaskus, um seine Haut zu retten und dem Umayyaden-Kalifen die Treue zu geloben. Das war ein gewagter Schritt, aber er war erfolgreich. Der Kalif, der bereits aus strategischen Gründen eine Staatstrauer für Mus’ab ausgerufen hatte, verzichtete auf die Hinrichtung Urwas und entschied, sich dessen Talente selber zunutze machen zu lassen. Urwa war der Intellektuelle der Familie, der nie militärisch aktiv gewesen war, sondern sich in Medina in Ruhe dem Studium der Hadith-Überlieferungen, des Rechts und der Prophetenbiografie gewidmet hatte. Der Kalif ließ ihn nach Medina zurückkehren und bat ihn, die wahre Geschichte des Islam für ihn niederzuschreiben.
Das tat Urwa: Er schrieb eine ganze Reihe von »Briefen« (rasa’il) an den Kalifen und später noch an dessen Sohn Al-Walid. Diese Texte sind äußerst wichtig, sie enthalten den Kern der Prophetenbiografie und der frühen Geschichte der »koranischen Bewegung« – die seit Abd Al-Malik »Islam« heißt. Spätere Autoren greifen fast alle auf Urwas Texte zurück. Die sind kurz gefasst, denn fantastische Erzählungen mochte Abd Al-Malik nicht
Urwa war nicht nur ein Sohn des vornehmen Prophetengefährten Al-Zubair, sondern auch der Asma’, der Tochter des ersten Kalifen Abu Bakr. Die Prophetenwitwe Aischa war seine Tante. Somit gehörte er väter- wie mütterlicherseits zum frühen Verdienstadel. Seine Schriften »atmen Arabien« und unterstützen stark Abu Bakr und dessen Familie.
Vor Abd Al-Malik drohte die früheste »koranische Bewegung« zu zerfasern: In Syrien war die Atmosphäre noch sehr römisch, man verkehrte mit Christen, und das heilige Jerusalem war eine formidable Erscheinung für sich. Im Irak, der persisch beeinflussten Brutstätte des Widerstands gegen Damaskus, entstand gerade die Schia; hier ergingen auch die ersten Rufe nach der Sunna des Propheten und wuchs die Hadith-Literatur heran. Abdallah Ibn Al-Zubair und seine Brüder fokussierten sich voll auf Arabien und profilierten sich als die treuesten Hüter des Gewohnheitsrechts von Mekka und Medina. Als solche wären sie vielleicht am ehesten zum Kalifat berechtigt gewesen. Durch Urwas Werk wurde dem Erbe Arabiens und des frühen Verdienstadels wieder der zentrale Platz in der offiziellen Ideologie gewährt.
Als der Bürgerkrieg noch wütete, ließ Abd Al-Malik auf dem ehemaligen Tempelberg in Jerusalem den Felsendom bauen, der 692 fertig wurde. In der Mitte befindet sich ein großer Felsbrocken, um den Pilger ihre Runden drehen konnten, wie in Mekka auch. Dabei sahen sie dann Inschriften, in denen einige deutliche Aussagen den Triumph des Islam verkünden, etwa Vers 3:19 des Korans: »Die Religion bei Gott ist der Islam.«
Warum hat der Kalif den Felsendom errichten lassen? Es liegt nahe, das Gebäude als Botschaft an die Christen zu interpretieren. Christen bildeten ja den Großteil der Bevölkerung des Westreichs, und für sie war Jerusalem mit seiner alten Grabeskirche ein zentraler Ort. In der Kirche wurde das Heilige Kreuz aufbewahrt, das Kaiser Herakleios erst 630 in die Kirche zurückgebracht hatte, nachdem es von den Persern geraubt worden war. Der Felsendom war ein frischer Neubau, herausfordernd durch seine Lage und Schönheit und durch die Inschriften darauf und darin. Aus einer der Inschriften – Vers 4:171 des Korans – wird klar, was über Jesus zu denken sei:
»Christus Jesus, der Sohn der Maria, ist (nur) der Gesandte Gottes und sein Wort, das er der Maria entboten hat, und ein Geist von ihm. Glaubt denn an Gott und seine Gesandten und sagt nicht: ›Drei‹! Hört damit auf, das ist besser für euch. Gott ist (nur) ein (einziger) Gott, gelobt sei er! Dass er ein Kind haben würde!«
Jahrhunderten christlichen Gezänks über die Natur Christi sollte mit diesem und anderen Korantexten ein Ende gesetzt werden. Auch Muhammad wird in den Inschriften erwähnt; das war zuvor noch kaum in der Öffentlichkeit getan worden.
Abd Al-Malik hatte große Verdienste für das Reich. Er hat die Einheit wiederhergestellt, innere Feinde kleingehalten und den Kaiser in Konstantinopel in die Schranken gewiesen. Er brachte Verwaltungs- und eine Münzreform auf den Weg, wobei er aus dem römischen Solidus – dem Euro der damaligen Zeit – ausstieg. Arabisch hat er zur Amtssprache gemacht. Das alles waren sehr wichtige Errungenschaften, aber nachhaltiger waren seine Förderung einer islamischen Identität und sein Anstoß zu einer islamischen Geschichtsschreibung.
Mit dem Abschied vom Christentum wurde der arabische Islam geboren. Allmählich verschwand immer mehr von dem jüdischen und christlichen Material (den isra’iliyat), das anfangs die »Erzählungen« und Genealogien, die Korankommentare und die Prophetenbiografie gefüllt hatte. Der Islam wurde einer »Entbibelung« unterzogen (siehe auch zenith 4/2013). Der Felsendom, so neu, wie er war, blieb von lokaler Bedeutung. Mekka, die Kaaba und Medina standen fortan im Mittelpunkt. Und der Prophet Muhammad wurde immer wichtiger, bis im 8. Jahrhundert seine Sunna die der Kalifen entmachtete.
Der Arabist DR. WIM RAVEN schreibt regelmäßig in zenith über Themen aus der arabisch-islamischen Geschichte. Er betreibt den Blog lesewerkarabisch.wordpress.com.