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Die israelische Gesellschaft – von Yahya Sinwar terrorisiert und traumatsiert

Jagd auf Yahya Sinwar

Essay
Yahya Sinwar in den Tunnel Gazas
Foto: Pressebild IDF

Selten zuvor hat ein Mann Israels Öffentlichkeit derart umgetrieben: Mancher vergleicht ihn mit Adolf Eichmann. Wird Netanyahu den Krieg in Gaza beenden, wenn der Hamas-Führer tot oder gefangen ist?

Am vergangenen Dienstag veröffentlichte die israelische Armee ein Video auf dem Yahya Sinwar zu sehen sein soll, wie er offenbar mit mehreren Kindern und Familienmitgliedern durch einen Tunnel von Gaza eilt. Der kurze Ausschnitt elektrisierte Israels Medien geradezu: endlich kommt man ihm näher, zeigt sich das Phantom. Seit dem 7. Oktober gilt Sinwar als das Böse in Person – ein finsterer, aber brillanter Schurke. Längst hat Sinwar, der die Hamas im Gazastreifen seit 2017 anführt, dem Hizbullah-Chef Hassan Nasrallah in der israelischen Öffentlichkeit den Rang abgelaufen.

 

Symbolisch dafür steht die Titelseite der Zeitung Yedioth Achronot vom 14. Februar: »Der Verschwundene« steht unter dem Bild Sinwars aus den Tunneln Gazas. Auch die nächste Doppelseite ist überwiegend dem Hamas-Anführer aus Chan Yunis gewidmet. Mittlerweile stellte die Zeitung Haaretz klar, dass die Aufnahme zwar neulich gefunden wurde, aber auf den 10. Oktober zu datieren sei.

 

Doch eigentlich ist das allen egal. Seit Kriegsbeginn gibt es eine Flut medialer Berichterstattung über Sinwar, Anlass hin oder her. Auf der Internetseite des Senders Kan 11 wird seit dem 7. Oktober jede Woche durchschnittlich mindestens ein Artikel zu Sinwar veröffentlicht. Beim Nachrichtensender N12 überbietet man diese Zahl sogar noch und versucht den Wissensdurst nach Informationen über das Mastermind des schlimmsten Angriffs in der Geschichte des Landes mit mindestens zwei Artikeln pro Woche zu stillen.

 

Sinwar ist für die israelische Gesellschaft – aus nachvollziehbaren Gründen – zu einer Obsession geworden. Gewiss wird auch die beliebte Dokuserie »Feinde« vom Sender Kan 11 bald von ihm handeln. Bisherige Protagonisten: Hassan Nasrallah, Ali Chamenei, der Großmufti von Jerusalem Mohammend Amin al-Husseini, IS-Kalif Abu Bakr al-Bagdadi, Saddam Hussein oder der ideologische Vater der Hamas, Scheich Achmad Yasin und viele weitere. Dass es diese Serie, noch dazu genügend Material für drei Staffeln gibt, ist zweifelsfrei eine israelische Besonderheit.

 

Sinwar ist anders, als die anderen Feinde. Er spricht sehr gutes Hebräisch, verfolgt gewiss israelische Nachrichten und hat ihnen in der Vergangenheit auch Interviews gegeben. In Israel hat man das Gefühl: Er kennt uns und er spielt mit uns. Dieses Gefühl inspiriert eine Flut von Beiträgen mit dem Tenor »Wer ist und was will Sinwar«, die teilweise kuriose Züge annehmen. Die Website ice. titelte: »Enthüllt: Welche Nachrichtensender schaut Yahya Sinwar«. Die Antwort: angeblich Kanal 12 und 13 und damit absoluter israelischer Mainstream.

 

Ein weiterer Höhepunkt der Sinwar-Berichterstattung: ein 15-minütiges Special in den Freitagabend-Nachrichten bei N12 mit dem ehemaligen Gefängniszahnarzt Yuval Biton, der Sinwar betreute. 10 Jahre behandelte Biton überwiegend palästinensische Gefangene und erklärt sein teilweise sehr persönliches Verhältnis zu ihnen: »Wenn man jemanden behandelt, dann gibt man etwas von sich«, erklärte er. Bitons Neffe wurde am 7. Oktober in den Gazastreifen entführt, also von Menschen, die er möglicherweise behandelt hat. Das Nachrichtenteam begleitet ihn zu seinem ausgebrannten Haus im Kibbuz Nir Oz, unweit des Gazastreifens. Zwischen Trümmern erinnert sich der Arzt an eine Begegnung mit Sinwar aus dem Jahr 2004. Der von 1989 bis 2011 inhaftierte Sinwar soll sich herzlich bedankt haben, nachdem israelische Ärzte einen Hirntumor bei ihm entdeckt und diesen entfernt hatten. »Das ist der Dank«, stellte Biton in Hinblick auf die Ereignisse des 7. Oktober fest.

 

Auch Interviews mit redeseligen Geheimdienstlern, die Sinwar in der Vergangenheit verhörten, erfreuen sich großer Nachfrage. Im Dezember führte Haaretz ein Interview mit einem hochraningen Beamten des Inlandsgeheimdienstes Shin Bet (Codename Dalet). Die Konkurrenz bei der Zeitung Maariv hat mittlerweile nachgezogen, gleichwohl weniger geheimnisvoll, mit dem Ex-Geheimdienstmann Micha Kobi. Laut Dalet ist Sinwar »ein emotionsloser Mann ohne Mitgefühl« gleichzeitig aber »intelligent und gebildet« und sogar »wahnsinnig charismatisch«. Kobi rückt ihn in die Nähe Hitlers: »Wenn er könnte, würde er ganz Israel vernichten.«

 

Das Schlimmste für die israelische Seele: Dieses »Monster«, wie er oft in den Medien genannt wird, ist der israelischen Gesellschaft noch dazu unangenehm nahe. »Sinwar kennt die israelische Kultur in ihrer Gesamtheit, die israelische Literatur – er weiß also, wo er uns verletzten kann und was uns am härtesten trifft«, führte Kobi aus. Diese abstrakte Nähe wurde nach diesen Entführungen sehr real. Die befreite Geisel Yochava Lipschitz berichtete Ende November, dass sie Sinwar während ihrer Zeit in Gefangenschaft begegnet sei, und trat damit eine weitere Welle der Sinwar-Berichterstattung los. Umso mehr fragen sich Kommentatoren und Journalisten: Wie kann es sein, dass wir es trotz aller Opfer und eingesetzter Feuerkraft nicht schaffen, an ihn ranzukommen?

 

Es wirkt, als fühle sich Israels Gesellschaft Sinwar ausgeliefert, trotz Armee und Iron Dome. Dieses Gefühl der Hilflosigkeit nährt wiederum die zahlreichen historischen Vergleiche. Es ist nicht verwunderlich, dass auf den Tag, an dem die meisten Jüdinnen und Juden seit der Schoa getötet wurden, auch Vergleiche mit der Schoa folgen.

 

Als Reaktion forderte der N12-Moderator Dany Kuschmaro bereits im Oktober, dass Sinwar nicht »eliminiert« werden dürfe. Er müsse gefangen, vor ein Gericht gestellt werden wie einst Adolf Eichmann. Die Familien der Opfer müssten ihm in die Augen sehen können. 1961 wurde der SS-Mann und Chefplaner der Judenvernichtung Eichmann in Jerusalem zum Tode verurteilt. Vor seiner Entführung durch israelische Agenten aus dem argentinischen Exil war auch Eichmann als Gespenst durch die Medien gegeistert.

 

Kuschmaros Forderung nach einem Eichmann-Prozess 2.0 beantwortet eine zentrale Frage, welche in der israelischen Gesellschaft diskutiert wird: Wann haben wir gewonnen? Oder auf Hebräisch: Wie sieht unsere Tmunat Nitzachon aus – das Siegesbild. Viele sehnen sich offenbar nach einem klaren visuellen Endpunkt: Ganz nach dem Vorbild des Sechstagekriegs 1967, welcher mit dem Bild mehrerer junger Soldaten verbunden ist, die voller Ehrfurcht auf die eingenommen Klagemauer in Jerusalem blicken. (Übrigens behaupteten zwei unterschiedliche Soldaten jahrelang, die Person ganz links auf dem Bild zu sein. Der Streit ging sogar vor Gericht).

 

Im Verlauf des Kriegs in Gaza versuchte man bereits etwas wie Siegesbilder zu zeichnen, welche international allerdings von den Tiktok-Videos israelisches Soldaten überschattet werden, die Freudentänze aufführen, palästinensische Kinderzimmer demolieren oder jubelnd zivile Gebäude im Gazastreifen in die Luft sprengen. Diese Fälle werden womöglich einmal den internationalen Gerichtshof beschäftigen, eignen sich jedoch gewiss nicht als Siegesbild für die israelische Gesellschaft.

 

Mitte Dezember nahmen Soldaten das Haus des Hamas-Anführers Sinwar ein und stellten ein bekanntes Foto aus dem Jahr 2021 nach, welches Sinwar grinsend in einem Sessel, vor den seinem damals ebenfalls zerbombten Hauses zeigt (2021 tobte ebenfalls ein Gazakrieg). Für ein eindeutiges Siegesbild wird es dieses Mal wohl Sinwar persönlich brauchen.

 

Ob man es schafft ihn jemals zu erwischen?  Die Armee gibt sich siegesgewiss, so verkündete Sprecher Daniel Hagari am 13. Februar, dass man ihn kriegen werde. Anders äußerte sich der Geheimdienstmann Dalet im Interview mit Haaretz: Er vermute, dass Sinwar die Geiseln nutzen werde, um einen Deal auszuhandeln mit dem Ziel »seine eigene Haut zu retten«.

 

Sinwar und sein Schicksal ist für den Verlauf des Krieges genauso zentral, wie das der Geiseln. Zusätzlich sind diese beiden Schicksale engstens miteinander verwoben. Das ausgerufene Kriegsziel »Zerstörung der Hamas« bleibt vage. Sinwar gibt diesem Ziel nicht nur ein Gesicht, seine Gefangenahme stellt auch eine Möglichkeit dar, es zu erreichen. Der Hamas-Anführer treibt die israelische Gesellschaft tagtäglich um. Dem Ziel, sein Verhalten vorauszusehen, scheint man dennoch nicht wirklich näherzukommen.

Von: 
Ignaz Szlacheta
Fotografien von: 
Pressebild IDF

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