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Interview über »Ask Project« zu Israel und Palästina

»Bei der Frage hatte ich Bauchschmerzen«

Interview
Interview über »Ask Project« zu Israel und Palästina
privat

Corey Gil-Shuster möchte mit Straßeninterviews ein authentisches Bild von Israel und Palästina zeigen. Im Gespräch mit zenith erklärt er, warum er für seinen YouTube-Kanal »Ask Project« schon eine blutige Nase riskiert hat.

zenith: Sie interviewen seit 2012 Israelis und Palästinenser. Wie hat sich über diesen Zeitraum die öffentliche Meinung gewandelt?

Corey Gil-Schuster: Die Menschen denken ähnlich wie vor zehn Jahren. Im Westen denkt man gerne, dass sich die Dinge immer zum Guten oder zum Schlechten verändern. Doch seit dem Ende der Zweiten Intifada 2005 ist der Status quo in Stein gemeißelt.

 

Glauben die Menschen auf der Straße, dass der Israel-Palästina-Konflikt jemals gelöst werden kann?

Die meisten nicht. Die Zwei-Staaten-Lösung ist seit 20 Jahren tot. Die Idee von Israel und einem unabhängigen Palästina entstand während den Oslo-Verhandlungen und schien zunächst vielversprechend. Mit Ausbruch der Gewalt der Zweiten Intifada beschlossen die Israelis jedoch, dass sie keinen Frieden schließen können. Die Palästinenser hingegen sahen sich in einer Situation, in der sie Widerstand leisten mussten. Die Menschen mögen die Hoffnung auf die Zwei-Staaten-Lösung aufgegeben haben, ich aber nicht. Ich glaube immer noch fest an die Koexistenz von Israel und Palästina, weil ich sie für die beste aller schlechten Lösungen halte.

 

 

Die Israelis haben in dem Konflikt die Oberhand, deshalb unterstützen sie den Status Quo. Warum wollen die Palästinenser aber die aktuelle Situation nicht drastisch verändern?

Die Palästinenser wollen abwarten. Zehn Jahre, hundert oder gar tausend. Sie glauben, dass sie irgendwann ganz Palästina zurückbekommen und sich die Israelis einfach in Luft auflösen werden. Das ist meiner Erfahrung nach das vorherrschende Narrativ im Westjordanland. Sie sehen deshalb auch keinen Sinn in Verhandlungen. Das ist deprimierend, aber bis zu einem gewissen Grad macht das für alle Sinn. Die Menschen in der Westjordanland sind unzufrieden, aber sie haben genug Geld für ein schönes Auto und um shoppen zu gehen. Die Israelis müssen sich nicht um die Palästinenser kümmern, solange keine Unruhen ausbrechen. In Gaza sieht die Situation natürlich anders aus.

 

Was sind die größten Unterschiede zwischen Israelis und Palästinensern, wenn man mit ihnen auf der Straße spricht?

Israelis neigen eher zur Mäßigung. Wenn man mehr Macht hat, ist man vielleicht eher bereit, etwas davon aufzugeben. Für die Palästinenser bedeutet Mäßigung, sich zu ergeben. Sie sind der Meinung, dass sie bereits zu viel verloren haben und wollen nicht über Zugeständnisse diskutieren. Diese beiden Denkansätze sind aber nicht in Stein gemeißelt. Wenn es hart auf hart kommt, sind die Palästinenser vielleicht bereit für Zugeständnisse, oder die Israelis werden sich womöglich an jedwede Macht klammern. Verhandlungen und Kompromisse werden jedoch nur möglich sein, wenn ein Vermittler wie die USA oder Deutschland darauf pocht.

 

Sie interviewen Palästinenser oft in deren Autos. Ist das repräsentativ? Und wo finden Sie eigentlich Ihre Gesprächspartner?

Beide Gruppen lieben ihre Autos. Aber die Palästinenser sind viel geduldiger, wenn sie in ihren Fahrzeugen angehalten werden, während Israelis es eher eilig haben. Außerdem gibt es in Palästina kaum Parks, in denen ich Menschen interviewen könnte. Ich versuche, meine Gesprächspartner an den Orten zu erwischen, an denen sie sich sammeln. Palästinenser tummeln sich gerne in Straßengeschäften, während man Israelis in Einkaufszentren und Grünanlagen antreffen kann.

 

»Einmal hat mir ein Israeli gesagt, dass er mich verprügeln wird«

 

Sie haben über tausend Videos hochgeladen. Welche Frage war von allen am schwierigsten zu stellen?

Die Frage »Warum tun die Israelis den Palästinensern dasselbe an, was die Nazis den Juden angetan haben?« war schwer zu stellen. Ich bin Jude, und meine Freunde und Bekannten haben oft einen persönlichen Bezug zum Holocaust. Als Interviewpartner für diese Frage habe ich Israelis europäischer Herkunft ausgewählt. Ich wollte ihre Reaktionen sehen, aber ich hatte Bauchschmerzen, als ich ihnen diese Frage stellte. Ich denke, dass es trotzdem wichtig war. Weil viele Araber oft davon reden, dass die Israelis zu dem geworden seien, vor dem sie ursprünglich geflohen sind.

 

 

Sind Sie bei Ihren Interviews jemals in Schwierigkeiten geraten?

Viele Gesprächspartner werden laut oder fühlen sich beleidigt. Aber einmal hat mir ein Israeli gesagt, dass er mich verprügeln wird. Er wusste nicht wirklich, weswegen ich Interviews führte, nahm aber an, ich wolle Israel verunglimpfen. In dem Moment fühlte ich mich nicht einmal bedroht. Nach dem Interview war ich aber wirklich wütend und sagte mir, dass ich die Polizei hätte rufen sollen. Einige Tage später erhielt ich eine E-Mail von ihm, in der er mir schrieb, dass er meine Arbeit gut findet und dass er sich geirrt habe: Ich wolle Israel gar nicht schlecht reden.

 

Die Fatah-Regierung im Westjordanland ist in den letzten Jahren immer repressiver geworden. Reden die Palästinenser offen über ihre Regierung?

Fragen über die politische Führung sind wahrscheinlich das größte Tabu in der palästinensischen Bevölkerung. Normalerweise kann ich die Gesichter der Interviewten nicht zeigen, wenn sie über die derzeitige Regierung sprechen. Einige meiner Zuschauer wollten, dass ich Fragen zu Nizar Banat stelle, einem Kritiker der Palästinensischen Autonomiebehörde, der im Sommer 2021 in einer Polizeizelle getötet wurde. Die Menschen wollen aus Angst einfach nicht über dieses heikle Thema reden. Wenn Palästinenser die Palästinensische Autonomiebehörde zu scharf verurteilen, kann es sehr gefährlich werden. Aber auch palästinensische Kritik an Israel kann zu Problemen führen, wenn auch weitaus weniger gefährlicheren. Israelis müssen sich hingegen vor nichts fürchten, wenn sie mir ein Interview geben.

 

»Ich erlebe es oft, dass Menschen mir eine Meinung sagen, hinter der eine Menge emotionaler Ballast steckt«

 

Welche Antwort auf eine Ihrer Fragen hat Sie am meisten überrascht?

Ich habe Israelis die Frage »Warum sind Araber höflicher als Juden?« gestellt. Eine Frau im Zug sagte mir, dass sie nicht antworten wolle, weil ihre Tochter bei einem palästinensischen Terroranschlag getötet worden war. Ihre Antwort überrumpelte mich total. Ich erlebe es oft, dass Menschen mir eine Meinung sagen, hinter der eine Menge emotionaler Ballast steckt.

 

Warum haben Sie mit dem »Ask Project« angefangen?

Ich verfolgte im Netz Diskussionen über den Israel-Palästina-Konflikt, und vieles von dem, was dort gesagt wurde, passte nicht mit meinen Gesprächserfahrungen mit Israelis zusammen. Das frustrierte mich, also schnappte ich mir schließlich meine Kamera, erkundigte mich online, welche Fragen ich stellen sollte, und machte mich daran, Leute zu interviewen.

 

Was wollten Sie erreichen?

Viele Medien betrachten den Konflikt immer aus einem bestimmten Blickwinkel. Selbst Haaretz tappt in diese Falle, aber die ausländische Berichterstattung ist davon besonders geprägt. Die deutsche Berichterstattung zum Beispiel betrachtet den Konflikt durch die eigene historische Brille und hat meist auch keinen Zugang zu arabischen und hebräischen Quellen. Die Nachrichten kommen oft aus zweiter Hand und decken nicht alle Sichtweisen ab. Wenn man einen Konflikt lösen will, muss man aber wissen, wie alle beteiligten Akteure denken. Ich wollte die vielen unterschiedlichen Meinungen aus Israel und Palästina der Welt zugänglich machen, damit die Menschen selbst entscheiden können, wie sie die Situation einschätzen.

 

»Ich bekomme gesagt, dass meine Videos eine Konfliktseite vermenschlicht haben«

 

Die meisten Ihrer Fragen werden Ihnen online zugesandt. Warum sind die Menschen so neugierig auf Israel und Palästina?

Der Israel-Palästina-Konflikt ist ein Dauerbrenner und bekommt hier mehr Platz als andere Schauplätze mit viel mehr Toten. Auch der biblische Aspekt von Israel und Palästina spielt eine Rolle, warum sich die Leute dafür interessieren. Die Region ist natürlich immens wichtig für viele Christen, Juden und Muslime weltweit.

 

Wie fallen die Reaktionen auf Ihre Videos aus?

Ich lese die Kommentare auf YouTube nicht, weil sie meist nicht konstruktiv sind. Trotzdem bekomme ich mit, was die Leute über meine Interviews denken: Ich erhalte regelmäßig E-Mails oder treffe Leute, die mich von meinen Videos wiedererkennen. Ungefähr 90 Prozent der palästinensischen und israelischen Reaktionen sind positiv: Viele sind neugierig, was Menschen im Ausland denken. Und sie sind meist sehr jung, etwa zwischen 15 und 25 Jahre alt. Aber einige unterstellen mir auch, dass ich mit meinen Videos eine Kampagne entweder gegen die Palästinenser oder die Israelis fahre. Aber ich bekomme auch gesagt, dass meine Videos eine Konfliktseite oder beide vermenschlicht haben. Über solche Reaktionen freue ich mich am meisten. Oft erreichen mich Nachrichten dieser Art aus der arabischen Welt. Einige Menschen erzählten mir auch, dass sie wegen meiner Videos Israel oder das Westjordanland besucht haben. Sowas höre ich natürlich gerne.

 

Glauben Sie, dass Ihnen jemals die Fragen ausgehen werden?

Ich denke immer, dass ich kurz davorstehe. Wenn mich die israelischen Perspektive langweilt, interviewe ich wieder mehr Palästinenser und umgekehrt. Mein Plan ist es, so lange weiterzumachen, bis es mir keinen Spaß mehr macht. Aber das ist in den vergangenen zehn Jahren noch nicht passiert.


Corey Gil-Schuster (53), geboren und aufgewachsen im kanadischen Ottawa, ist seit 1995 israelischer Staatsbürger und lehrt Konfliktstudien an der Universität Tel Aviv. Seit 2012 postet er Videos auf seinem YouTube-Kanal »Ask Project«.

Von: 
Raphael Bossniak

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