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Der Arabist

Löwenmähne, Adlerklauen

Essay
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»Ruines de la Mosquee du Calife Hakem au Caire«, Musée du Louvre, Paris

Viele der Extravaganzen, die Al-Hakim lange Zeit nachgesagt wurden, erweisen sich bei genauerer Betrachtung als nicht gar so bizarr. Heute lautet das Urteil über den Fatimiden-Herrscher: Er war verhaltensauffällig, aber nicht total behämmert.

In der traditionellen Sichtweise war der Kalif Al-Hakim bi-amr Allah, der von 996 bis 1021 von Kairo aus das Fatimiden-Reich regierte, nichts weniger als ein Geisteskranker, der zahlreiche Menschen ermorden ließ und sein Volk mit seltsamen Verordnungen verwirrte. Aber war er wirklich so verrückt, wie es in der letzten Ausgabe detailliert nacherzählt wurde?

Wie so oft fanden sich Gelehrte, die das Bild nuancierten, neue Fakten entdeckten und alte als fake news entlarvten. Meist erweist sich bei solchen Forschungen, dass die Verrückten gar nicht verrückt waren, oder wenigstens nicht ganz. Der babylonische König Nebukadnezar, der von 605 bis 562 v. Chr. regierte, war dem Propheten Daniel (4:29-34) zufolge sieben Jahre lang geisteskrank, aber der Autor stand ihm feindselig gegenüber. Und vielleicht hat er ihn verwechselt mit König Nabonidus (regierte 556 bis 539 v. Chr.), der als gestört galt und einige Jahre im arabischen Taima verbrachte, womöglich zur Kur. Moderne Altphilologen haben längst nachgewiesen, dass »verrückte« Kaiser wie Nero und Caligula zwar grausam und gewalttätig waren, aber nebenbei ganz vernünftige Dinge taten.

Auch Al-Hakim ist Gegenstand solcher kritischen, nuancierenden Studien geworden, unter anderem von Josef van Ess und vor allem Heinz Halm. Inzwischen erkennt man, dass viele Erzählungen über Al-Hakim von Christen stammen, die unter ihm gelitten hatten, oder von Sunniten, die ihn im Nachhinein kaputtschreiben wollten, weil er Schiit war. 

Manche Gräueltaten können einfach gestrichen werden, wenn man bedenkt, dass die Autoren Christen waren und ihre »Klassiker« kannten: So soll Al-Hakim das alte Kairo (Fustat) in Brand gesteckt haben und noch zwei Tage genüsslich vom Berg Muqattam aus auf die Flammen geschaut haben. Aber das ist natürlich ein narratives Recycling des großen Brandes von Rom, den Kaiser Nero befohlen haben soll. Ein Großbrand in Fustat ist zu der fraglichen Zeit nicht belegt. 

Auch wird erzählt, der Kalif wusch sich sieben Jahre lang nicht, wohnte in einem unterirdischen Gewölbe, ließ seine Haare wachsen, bis sie lang waren wie Löwenmähnen, und seine Fingernägel, bis sie Adlerklauen glichen. Dies hört sich an wie die Verrücktheit Nebukadnezars, wie sie Daniel beschrieben hatte. In den Augen christlicher Historiker eine schöne Parallele: Nebukadnezar musste wie ein Verrückter herumirren, weil er den Tempel in Jerusalem zerstört hatte; Al-Hakim, weil er dort die Grabeskirche hatte abreißen lassen. 

Frauen auf der Straße und Alkohol waren einfach nicht zu unterbinden. Die Scharia wird in ihrer vollen Pracht nur von Fundamentalisten für ausführbar gehalten, und Al-Hakim war einer. Das war er sich selbst und seinem Stand schuldig: War er nicht der Messias? 

Die berühmten bizarren Dekrete Al-Hakims entsprachen bei näherer Betrachtung in weiten Teilen dem islamischen Recht. Auch in anderen Umgebungen wurden schon mal Weinfässer kaputtgeschlagen oder Juden und Christen mit diskriminierenden Maßnahmen belästigt; nur nie so eindringlich und nie alles auf einmal. Al-Hakims Dekrete waren auffällig, weil niemand zuvor je die Regeln so streng angewendet hatte. Dass sie ständig aufs Neue erlassen werden mussten, zeigt, dass die Bevölkerung so viel Rechtschaffenheit nicht gewohnt war. Frauen auf der Straße und Alkohol waren einfach nicht zu unterbinden. Die Scharia wird in ihrer vollen Pracht nur von Fundamentalisten für ausführbar gehalten, und Al-Hakim war einer. Das war er sich selbst und seinem Stand schuldig: War er nicht der Messias? 

Andererseits musste der Kalif die Bevölkerung zufrieden halten. Mit der Abschaffung von Steuern und Zöllen befolgte er islamische Regeln und erfreute zugleich das Volk. Leider konnte die Staatskasse nicht ohne diese Einnahmen auskommen, sodass sie wieder eingeführt werden mussten. Auch seine Dekrete schaffte Al-Hakim manchmal wieder ab, wenn sie nicht durchführbar waren oder wenn das die Stimmung im Volk hob. Auch Al-Hakims wechselhafte Haltung der sunnitischen Mehrheit gegenüber wird so verständlich: In schwierigen Zeiten konnte er keine unzufriedenen Massen gebrauchen. Was reine Willkür zu sein schien, war eine pragmatische Strategie des Machterhalts. 

Eine generelle Christenverfolgung gab es zu Zeiten Al-Hakims nie: Einen Tag nach der Zerstörung einer Kirche konnte ein Christ zum Minister ernannt werden. Al-Hakim konnte nicht allzu streng sein mit den Christen: Er brauchte sie ja für die Staatsverwaltung. Gelegentliche Plünderungen von Kirchen und Klöstern erfolgten, wenn die Staatskasse leer war. Aus dem gleichen Grund konfiszierte er auch die Erbschaften der hingerichteten Funktionäre und das Vermögen seiner Mutter. Sogar die Gewohnheit des Kalifen, ganz bescheiden auf einem Esel zu reiten, steht in einer Tradition: So verhält sich nämlich ein Messias (siehe zenith 4/2014). 

Kurzum: Al-Hakim war verhaltensauffällig, aber nicht total behämmert. Allerdings ein sehr strenger und unberechenbarer Herrscher, der viel mehr Hinrichtungen auf dem Kerbholz hatte, als zu der Zeit üblich war. Volksnah, aber gerade dem Hof und den höheren Beamten gegenüber sehr misstrauisch. 

Nun ist die Nuancierung bestehender Auffassungen eine Sache; es gibt aber auch propagandistische Geschichtsschreibung, die das Bild einer Person gänzlich revidieren kann. Stalin zum Beispiel war, nachdem russische Historiker und Medien die Fakten neu gemischt hatten, ein Spitzenmanager und ein netter Kerl, unter dessen Regierung das Leben in der Sowjetunion, wie er selbst sagte, »besser, fröhlicher geworden ist«. 

Zu Al-Hakim findet man solche »Geschichtsschreibung« unter anderem in der »Encyclopaedia Iranica«. Die ist ein meistens vorzügliches englischsprachiges Nachschlagewerk, das alle Themen zu Iran und zum schiitischen Islam behandelt. Den Artikel »Hakem be-Amr-Allah« aber kann man nur parteiisch nennen. Nichts als Lob dort für diesen Kalifen, der sein Reich so schön zusammenhielt und sogar noch zu vergrößern wusste, der sich um die Sittlichkeit seiner Untertanen kümmerte und die Wissenschaft förderte. Kein Wort zu der Zerstörung von Kirchen, den Hinrichtungen, den Dekreten, der Vergöttlichung oder etwaigen Geistesstörungen. Der Mord an seinem Vormund Bargawan heißt dort zum Beispiel »the latter’s removal« (Hervorhebung von mir). Dass Al-Hakim einen so schlechten Ruf hatte, liegt dem Autor zufolge nur an der feindseligen Haltung christlicher und sunnitischer Historiker. Der Autor ist Farhad Daftary, ein führender Ismailit, also von derselben Glaubensrichtung wie der Kalif. 

Es gibt noch eine Textgattung, die sich mit Al-Hakim beschäftigt hat: die Volksepik, sira scha’biya. Fantastische, vielbändige Heldengeschichten über historische Personen oder wenigstens unter Verwendung ihrer Namen waren in der ganzen islamischen Welt weitverbreitet. Die Klientel dürfte solche Erzählungen oft für Geschichte gehalten haben. 

Posthum erschien auch eine »Lebensgeschichte Hakims«. Den fiktiven Lebenslauf des Kalifen aus diesen 1.600 Seiten zusammenzufassen wäre verlorene Liebesmüh. Aber wo war der Kalif letztendlich geblieben? Für die seriösen Historiker war er wohl ermordet worden; den Drusen zufolge war er verschwunden. Die Volkserzähler »wussten« aber, dass er nicht auf, sondern in dem Berg Muqattab (eine Verballhornung von Muqattam) verschwunden war. Er war ja mit 360 Schätzen vertraut gemacht worden; nur zwei Schätze blieben ihm verwehrt, in einer Höhle im Berg. Sein Rivale Abd al-Aziz, der aus magischen Büchern viel Wissen gesammelt hatte, führte ihn in das Höhlensystem, das randvoll mit Gold und Juwelen war, und ließ ihn dort zurück. Er selbst eilte nach Kairo, um die Macht zu ergreifen und für die Bluttaten des Kalifen Rache zu üben. 

Der Kalif war also tief im Berg eingeschlossen, aber für seine Ernährung war gesorgt. Jahre später fand seine Tochter ihn dort, als er gerade verstorben war. • 


Der Arabist Dr. Wim Raven schreibt regelmäßig in zenith über Themen aus der arabisch-islamischen Geschichte. Er betreibt den Blog lesewerkarabisch.wordpress.com. 

Von: 
Dr. Wim Raven

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