»Das System Netanyahu« ist weit mehr als eine politische Biografie des israelischen Premierministers. Autor Joseph Croitoru bedient sich dafür eines besonderen Kniffs.
Der Autor Joseph Croitoru will sein Buch »Das System Netanjahu« als »politische Biografie« verstanden wissen. Auf den ersten Blick wirkt diese Selbstbeschreibung sehr einleuchtend. Chronologisch zeichnet der in Haifa geborene Historiker Croitoru den politischen Werdegang des israelischen Premierministers nach. Und der beginnt für den Autor mit Netanyahus Studium in den USA und seinem Engagement als proisraelischer Campusaktivist Mitte der 1970er-Jahre.
Von da an liefert das Buch einen akribisch recherchierten Bericht über die politische Laufbahn des mehrmaligen Regierungschefs. Doch Croitoru gibt sich nicht damit zufrieden, lediglich nachzuerzählen, wie Netanyahu Sprosse für Sprosse die Karriereleiter erklommen hat, sondern benennt auch immer klar jene Akteure, die seinen raschen Aufstieg überhaupt erst ermöglichten.
Etwa den Likud-Politiker Mosche Arens. Der rechte Hardliner und gute Freund von Netanyahus Vater wird 1982 israelischer Botschafter in Washington und erklärt Benjamin gegen die Widerstände im israelischen Außenministerium zu seinem Stellvertreter – dort hielt man Netanyahu mit seinen 32 Jahren für zu jung und unerfahren. Seine zweijährige Amtszeit in Washington stellte sich als Sprungbrett für seine weitere politische Karriere heraus.
Um Schlüsselmomente wie diese in all ihrer Komplexität zu beleuchten, greift Croitoru auf einen reichen Quellenschatz zurück. Oft handelt es sich dabei um Artikel und Kommentare aus israelischen Zeitungen, wodurch der Autor dem deutschen Leser einen wertvollen Einblick in die israelische Diskussionslandschaft im Verlauf vieler Jahrzehnte gewährt. Hinzu kommen auch bisher unveröffentlichte Dokumente und Briefe, die das Buch damit auch für all jene attraktiv machen, die meinen, dass die Geschichte Benjamin »Bibi« Netanyahus bereits auserzählt sei.
Diejenigen allerdings, die versuchen sollten, dieses Buch als eine Art Einführung in die israelische Politik zu lesen, werden wahrscheinlich etwas zu kämpfen haben mit der Detailtiefe und den zahlreichen Querverweisen zu anderen Akteuren, Bewegungen, Ideologien oder Kontroversen.
Doch die eigentliche Stärke dieses Buchs ist eine andere. Deutlich wird sie, wenn man einen zweiten Blick auf den Titel wirft und die Selbstbeschreibung als »politische Biografie« für einen kurzen Moment vergisst. Denn in Großbuchstaben sitzen die Worte »Das System Netanyahu« auf dem unteren Rand des Buchdeckels. Es lohnt sich, einen Moment bei dem Begriff des Systems zu verweilen. Intuitiv versteht man darunter oft ein Netz von Akteuren, doch der deutsche Soziologe und Systemtheoretiker Niklas Luhmann würde dem scharf widersprechen.
Das »System Netanyahu« wird wohl auch ohne die Person Netanyahu auf die eine oder andere Weise weiterbestehen
Für Luhmann bestehen – vereinfacht gesprochen – soziale Systeme vor allem aus Kommunikation. Politik ist dabei für den Systemtheoretiker die Kommunikation, die versucht, kollektiv bindende Entscheidungen durch das Erhöhen ihrer Konsenschancen vorzubereiten.
Was erst einmal abstrakt klingt, nimmt bei der Lektüre von Croitorus Werk Konturen an. Denn das Buch lässt sich durchaus als Systemanalyse lesen. Der Fokus liegt nicht nur auf wichtigen Förderern wie Mosche Arens oder Kontrahenten wie Jitzhak Rabin, sondern auch auf Netanyahus ideologischem Weltbild und all den politischen Argumenten, die er im Verlauf seiner Karriere nicht nur vorgetragen, sondern auch weit in die israelische Mitte hineingetragen hat.
Im Verlauf des Buches wird die Konsistenz von Netanyahus Positionen – etwa seine Ablehnung eines palästinensischen Staates oder die Vorstellung, dass Israel die freie Welt vor dem Terrorismus beschützen würde – überaus deutlich. Die Argumente, die Netanyahu nutzt, um diese Positionen zu untermauern, sind zu einem beträchtlichen Teil dieselben wie aus seiner Zeit als Campusaktivist in den USA. Ebenso deutlich wird, wie es Netanyahu gelang, immer breitere Unterstützung für seine Positionen zu gewinnen.
Das macht den großen Mehrwert dieses Buches aus: Es erliegt nicht der Versuchung, Netanyahu als eine Art Ausnahmeerscheinung zu untersuchen, sondern verdeutlicht, dass auch er ein Produkt eines politischen Systems ist, das sich durch bestimmte ideologische Bruchlinien auszeichnet. Das bedeutet allerdings nicht, dass Netanyahu diesem System nicht seinen Stempel aufgedrückt hätte und es insbesondere heute aggressiv nach seinen Vorstellungen umbaut – denn auch das wird im Buch deutlich. Trotzdem ist Netanyahu ein Glied in einer Kette, wie es Joseph Croitoru beschreibt.
Der Fokus auf das System, in dem sich seine politische Karriere abspielte, richtet das Augenmerk darauf, dass das »System Netanyahu« wohl auch ohne die Person Netanyahu auf die eine oder andere Weise weiterbestehen wird, denn seine Ideologie und die dazugehörigen Argumente bleiben. Dadurch wird dieses Buch auch lange nach dem Ende von Netanyahus politischer Karriere eine wichtige Ressource bleiben, um das politische Israel besser nachvollziehen zu können.
»Das System Netanjahu«
Joseph Croiteru
Verlag Klaus Wagenbach, 2025
304 Seiten, 29 Euro





