Wer sich weder vom Regime noch von der bewaffneten Opposition vertreten sieht, stand bisher am Rande des Geschehens. Das sollte sich sehr bald ändern.
Die Farbe Grau gilt als reizarm. Sie steht für Langeweile, Unentschlossenheit, aber auch für die Welt der Geister, welche bekanntlich über höhere Einblicke verfügen als die eitel Lebenden. Wenn man im syrischen Kontext seit 2011 von den »Grauen« (Al-Ramadiyin) redet, dann meistens ohne Wertschätzung. Grau hießen die, welche aus Furcht oder Charakterschwäche abwarten, bis der Krieg ausgefochten ist. Bis dahin aber stärken sie durch ihr Nichtstun den Status Quo. Diese Zuschreibung mag auf manche »graue« Syrer zutreffen, insgesamt aber beruht sie auf einem Missverständnis. Denn zwischen grau und farblos besteht ein Unterschied.
Das graue Syrien hat großes Leid erfahren. Für die Grauen gibt es weder Sieger noch Besiegte, sondern ein Volk, das verloren hat auf ganzer Linie. Die Grauen haben im Aufstand und seiner erbarmungslosen Niederschlagung nicht öffentlich Partei ergriffen. Ihre Kinder aber sind unter Bomben und auf den Schlachtfeldern gefallen. Ihre Häuser und Höfe konfisziert durch ausländische Kämpfer. Ihre Obstbäume zu Brennholz zerschlagen; ihr Kulturerbe, das sie mit Stolz erfüllte, geplündert oder demontiert. Das graue Syrien stand dem Konflikt nicht gleichgültig gegenüber. Aber es fühlte sich weder vom Regime noch von einer wie auch immer gearteten bewaffneten Opposition vertreten.
Diplomatische Initiativen, allen voran die Genfer Gespräche unter Führung der UN, folgten naturgemäß einer schwarz-weißen Logik bewaffneter Akteure: Regime versus Opposition. Man rief einen Prozess ins Leben, an dessen Ende nichts Anderes hätte stehen können als die Auflösung eben Jener, die man als mächtig und damit relevant betrachtete. Darin lag der Systemfehler, oder auch die Lebenslüge. Das syrische Regime hatte anderes im Sinne, als Zugeständnisse zu machen oder gar Macht und Territorium zu teilen.
Den Clausewitz’schen Lehrsatz vom Krieg als »Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln« erweitert es nicht nur, sondern kehrt ihn um: Die Politik als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln, die einem Zeit und Handlungsspielräume verschaffen. Man kann dem Regime und seinen inoffiziellen Gesandten, die oft die westliche Welt bereisten und Gesprächskanäle offenhielten, nicht einmal unterstellen, sie hätten diese Absichten verschleiert.Die bewaffnete Opposition, in der militante Islamisten den Ton angaben, war zwar dynamischer und erlebte – anders als das Regime – Prozesse innerer Meinungsbildung. Letztendlich hätte man aber auch von ihr – wollte man den Genf-Prozess logisch zu Ende denken – verlangen müssen, dass sie ihre Macht hergibt und ihre Waffen streckt. Und zwar in dem Moment, in dem sie sich politisch behauptet hätte. Die Selbstabschaffung als Erfolgsprämie? Das hätte man vielleicht von einer friedensbewegten Veganer-Partei erwarten können, aber nicht von kampfgestählten Salafisten.
Insofern hält die Annahme, man könne Waffenstillstandsverhandlungen an einen wirkungsvollen politischen Prozess koppeln, kaum einer kritischen Prüfung stand. Das Regime nahm diesen Widerspruch dankbar als Arbeitsgrundlage an.
Die Unterstützer der Opposition suchten den Erfolg also in einer anderen Formel: Die Opposition müsse »liefern«, also geeint sein. Wer aber mochte säkularen Kritikern des Assad-Regimes abverlangen, dass sie sich militanten Islamisten unterwerfen, die ihre Haltung wahlweise verschleierten oder auch offen propagierten? Mangelnde Einheit war kein Defizit, das sich durch Coachings und Konferenzen optimieren lässt. Und je mehr sich friedliche, säkulare Kräfte dem Druck beugten, desto geringer – nicht größer – wurde ihre Legitimität vor den Augen derer, die sich nicht erhoben hatten.
Nicht nur die militärischen Erfolge des Regimes – auch diese Entwicklung ließ immer mehr bedeutende Persönlichkeiten der syrischen Zivilgesellschaft im »grauen« Syrien verschwinden. Selbst diejenigen, die versuchten, einen zivilgesellschaftlichen Dialog mit Vertretern bewaffneter, islamistischer Organisationen aufzusetzen, um die Genfer Verhandlungen zu untermauern, werden sich das eingestehen müssen. Nach langem Krieg und erfolglosen Verhandlungen rückt das graue Syrien vermutlich bald in den Fokus internationaler Mächte. Nur: Wie definiert man diese Größe und wie erreicht man sie? Kann man mit ihr Beziehungen eingehen, ohne dass dieser Prozess vom Regime dergestalt unterwandet wird wie einst das Vorhaben, eine legitime Opposition aufzubauen, von bewaffneten Vereinigungen des politischen Islams? Und wie übt man Druck auf Graue aus?
Das graue Syriens ist kein einfacher Kunde. Aber als potenzieller Friedensstifter ist es – angesichts des Scheiterns der Logik von Regime vs. Opposition – als konkurrenzlos zu betrachten. Dieses Syrien mit seinen vielen Graustufen zu erreichen, wird von Europas Außenpolitik viel Kreativität verlangen. Immerhin steht grau nicht nur symbolisch für Weisheit, sondern ist auch die bevorzugte Farbtracht unserer Diplomaten.