2003, während der Zweiten Intifada, stellten wir sechs ausgewählten Nahost- und Islamexperten die Frage: »Wer regiert in zehn Jahren Jerusalem?« Was haben sie damals vorausgesagt – und wie stehen sie heute dazu?
Christoph Reuter
Damals
Ich glaube, irgendwann – wenn genug Menschen gestorben sind – wird der letzte Plan zwischen Barak und Arafat umgesetzt werden. Dazu muss sich Scharons Politik aber ändern. In Jerusalem werden zwei Parteien regieren, die aber neue Generationen sind.
Heute
Verhalten optimistisch, das war ich damals – weil ich davon ausging, dass die gesellschaftliche Vernunft sich durchsetzen würde, die ganz simple Mengenrechnung, dass Israel (denn letztlich ist es Israels Entscheidung) entweder ein jüdischer Staat oder ein demokratischer Staat bleiben werde. Beides geht nicht, wenn es den Palästinensern nicht ihren Staat gibt. Fassungslos bin ich heute, denn aller Vernunft widersprechendes, kindisches Wunschdenken bestimmt heute das politische Geschehen nicht nur in Tel Aviv und Jerusalem, sondern auch in Washington, London, Rom, Budapest, Warschau, in einer wachsenden Zahl von Staaten, Gesellschaften, deren politisches Urteilsvermögen (jedenfalls das der regierenden Mehrheit) sich rasant zurückentwickelt. Ich bin pessimistischer als vor sechs Jahren, was die israelisch-palästinensische Zukunft angeht. Aber vor allem bin ich bestürzt über diese grassierende Wirklichkeitsverweigerung, die Folgen des eigenen Wahlverhaltens nicht sehen zu wollen. Prognosen würde ich im Moment keine mehr wagen.
Der Islamwissenschaftler Christoph Reuter, geboren 1968, ist seit 2011 als Reporter für den Spiegel tätig. Er lebt in Beirut, von wo aus er vor allem über den Krieg in Syrien berichtet.
Udo Steinbach
Damals
Eine israelische und eine palästinensische Regierung, beide demokratisch verfasst.
Heute
Ich würde es heute genauso sagen. Eine Lösung des palästinensisch-israelischen Konflikts konnte schon 2003 (Zweite Intifada, Siedler-Premier Scharon, Fokussierung der internationalen Aufmerksamkeit auf die Invasion der USA im Irak) nur als Utopie gedacht werden. Das gilt heute noch viel mehr, insofern die Palästinafrage ein Glied der Kette der Umbrüche im Nahen Osten insgesamt darstellt und nur mit Blick auf die Neuordnung der politischen Landschaft als Ganzes zu beantworten ist. Die Machtverhältnisse zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan haben sich zwar weiter zugunsten Israels verändert; auch scheint sich der machtpolitische Fokus der Region weiter nach Osten – an den Golf – verschoben zu haben.
Gleichwohl bleibt das Ringen um Palästina »der Nahostkonflikt«. Die von mir seinerzeit geforderte Lösung mahnt insbesondere Europa, dies auch heute nie aus dem Blick zu verlieren. Schon sagen die Vereinten Nationen ex cathedra, dass 2020 Gaza unbewohnbar sein werde. Der einzige Weg, diesem – realistischen – Schreckensszenario entgegenzuwirken, ist eine Gesamtlösung des Konflikts – die Parameter dafür hat die internationale Gemeinschaft seit Langem formuliert. Ich habe sie 2003 wiederholt und werde sie auch heute wiederholen.
Udo Steinbach, von 1976 bis 2006 Direktor des Deutschen Orient-Instituts in Hamburgund lebt heute in Berlin. Der 1943 geborene Islamwissenschaftler ist Mitglied im Kuratorium der Candid Foundation.
Volker Perthes
Damals
Ich bin historischer Optimist. Sehr wahrscheinlich wird Jerusalem Hauptstadt zweier souveräner Staaten sein.
Heute
Die kurze Antwort heute ist: Ich lag mit meiner optimistischen Antwort falsch. Die etwas längere: Ich meine, auch in dem Interview gesagt zu haben, dass ich keine Prognosen abgebe. Und meine Aussage, dass Jerusalem zehn Jahre später, also 20 Jahre nach Oslo, die Hauptstadt zweier Staaten sein werde, war eben die optimistische Variante möglicher Zukunftsentwicklungen. Grund meines historischen Optimismus bleibt, dass die Menschen, einschließlich der politischen Entscheider, oft doch das Vernünftige tun, wenn sie lang genug alles andere ausprobiert haben und damit gescheitert sind. Und ich bleibe wie die Mehrheit der Israelis und Palästinenser überzeugt, dass die Zweistaatenlösung und ein Kompromiss in der Hauptstadtfrage weit vernünftiger und tragfähiger sind als die Einstaatenrealität, die Israel derzeit entstehen lässt. Aber sie ist halt noch nicht gescheitert.
Volker Perthes ist nach wie vor für die Stiftung Wissenschaft und Politik tätig. Seit 2005 leitet der 1958 geborene Politologe die in Berlin angesiedelte Denkfabrik.
Michael Lüders
Damals
Ich hoffe, Israelis und Palästinenser gleichermaßen, fürchte aber, dass die Palästinenser auch dann nicht über einen Staat verfügen, der Gaza und das Westjordanland inklusive Ostjerusalem umfasst.
Heute
Leider dürfte die damalige Prognose auch in zehn oder 20 Jahren noch Bestand haben. Die Palästinenser haben keine Lobby im Westen, der Israels Politik der illegalen Landnahme, Entrechtung und Demütigung vor allem im besetzten (und völkerrechtswidrig annektierten) Ostjerusalem und im Westjordanland nichts entgegensetzt. Die offizielle Haltung der Europäer, man strebe eine Zweistaatenlösung an, ist wenig mehr als Rhetorik.
Vor allem die US-Administration und die gut vernetzten Befürworter eines Großisrael schaffen Fakten, darunter der Umzug der US-Botschaft nach Jerusalem und die geplante amerikanische Anerkennung der De-facto-Annexion jüdischer Siedlungsblöcke in »Judäa und Samaria«. Premierminister Netanyahu spricht offen davon, die Palästinenser von dort »zu entfernen«. Wohin das führt? Zum Frieden ganz sicher nicht.
Der 1959 geborene Politik- und Islamwissenschaftler Michael Lüders lebt nach Stationen als Journalist und Stiftungsmitarbeiter heute als Politikberater, Publizist und Autor in Berlin.
Gernot Rotter
Damals
Israel. Günstigstenfalls wird es eine Internationalisierung der Altstadt geben.
Der Islamwissenschaftler Gernot Rotter, bis zu seiner Emeritierung Professor für Gegenwartsbezogene Orientwissenschaft an der Universität Hamburg, ist 2010 im Alter von 69 Jahren gestorben.
Bassam Tibi
Damals
Ich hoffe, Jerusalem ist dann eine geteilte Hauptstadt mit einer jüdischen und einer islamisch-christlichen Seite.
Der 1944 geborene Politikwissenschaftler Bassam Tibi, emeritierter Professor für Internationale Beziehungen der Universität Göttingen, hat uns mitgeteilt, dass er zu diesem Thema eine differenzierte Position vertrete, es angesichts der heutigen Polarisierung aber vorziehe, zu schweigen.