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Indien, Israel und der Nahostkonflikt

Modis Gleichung

Analyse
Indien, Israel und der Nahostkonflikt
Außenministerium Indien

Nach innen ideologiegetrieben, nach außen pragmatisch: Indien unter Modi sieht den Nahen Osten vor allem als Kernstück für den eigenen wirtschaftlichen Aufstieg. Der Gaza-Krieg kommt da ungelegen.

Am 28. März 2024 führte Indien den ersten Testflug seines einheimischen Kampfflugzeugs HAL Tejas MK1A durch. Die indische Luftwaffe hat 83 dieser Jets in Auftrag gegeben, um ihre veralteten MiG-21 aus der Sowjetzeit zu ersetzen, die jahrzehntelang das Rückgrat ihrer Kampfflotte bildeten. Zwei der wichtigsten Komponenten der Jets, das Radar und die Störsender, stammen aus Israel – Ausdruck einer Kooperation, die in den letzten Jahren immer mehr an Bedeutung gewonnen hat.

 

Den Tweet des indischen Premierministers Narendra Modi, der kurz nach dem Anschlag am 7. Oktober den Terroranschlag der Hamas verurteilte, werteten viele Beobachter als Änderung der historischen Positionierung Indiens, da Neu-Delhi lange Solidarität mit der palästinensischen Sache als antikolonialen Kampf um Selbstbestimmung an den Tag gelegt hatte. Wenig später erklärte das indische Außenministerium, dass das Bekenntnis zur Zweistaatenlösung ebenso wichtiger Teil der indischen Position im Nahostkonflikt sei. Dabei tariert Neu-Delhi sei der Formalisierung der Beziehungen zu Israel 1991 seine geostrategischen Interessen neu aus, insbesondere in kritischen Bereichen wie Verteidigung. Allerdings erkennt Indien auch seit 1988 den Staat Palästina an und eröffnete bereits 1996 eine diplomatische Vertretung in Palästina, die 2003 von Gaza-Stadt nach Ramallah verlegt wurde.

 

Indiens eigene strategische Interessen und Herausforderungen in seiner Nachbarschaft, sowohl in Bezug auf Pakistan als auch zunehmend China, haben einen erheblichen Einfluss auf seine Ansichten zur Situation in Gaza. Indiens Konflikte mit Pakistan reichen bis ins Jahr 1971 zurück, also vor Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Tel Aviv. Damals hatte die israelische Premierministerin Golda Meir zugestimmt, Indien mit Kleinwaffen und Munition zu versorgen. 28 Jahre später lieferte Israel erneut technisches Know-how, als sich Indien im 50 Tage währenden Kargil-Krieg in Kaschmir abermals Gefechte mit Pakistan lieferte. Lange war Russland Hauptlieferant, doch Neu-Delhi will seinen Rüstungsimport diversifizieren – seit den Grenzkonflikten mit China im Jahr 2020 stellt sich diese Frage noch dringlicher. Indien wiederum ist mittlerweile Israels wichtigster Exportmarkt für Rüstungsgüter.

 

Neben dieser strategischen Annäherung haben sich politische und ideologische Affinitäten entwickelt. Sowohl die israelisch-jüdischen konservativen Kreise als auch die indische Bharaitya Janata Party (BJP) und ihre hindu-ethnonationalistische Positionierung erkennen hier Gemeinsamkeiten. Diese Nähe schlägt sich im freundschaftlichen Verhältnis ihrer wichtigsten Vertreter nieder: Israels Premierminister Benjamin Netanyahu nutzte Bilder vom Treffen mit seinem Amtskollegen Narendra Modi sogar im Wahlkampf. Im Juli 2017 besuchte Modi als erster indischer Regierungschef überhaupt Israel. Jahrzehntelang hatte solch ein diplomatischer Schritt innenpolitisch negative Folgen gehabt. Modi dagegen stärkte sogar sein Image innerhalb der indischen Rechten und Mitte. Sein Kurs stößt nicht nur bei Religiös-Konservativen auf Zustimmung, sondern auch bei der eigentlich säkularen Wählerschaft der Kongress-Partei.

 

Der Krieg in Gaza hat seit Modis erstem Tweet eine gewisse Kurskorrektur der indischen Haltung erzwungen

 

Die arabische Welt schenkte der Entwicklung der Beziehungen Indiens zu Israel lange kaum Beachtung. Dies lag daran, dass Neu-Delhi in Sachen Diplomatie ein Gleichgewicht bewahrte, indem es sich nicht in die regionale Dynamik einmischte oder offen Partei ergriff. Tatsächlich sind auch die indisch-arabischen Beziehungen das Herzstück von Modis Außenpolitik. Gerade die in den letzten Jahren vertieften Verbindungen zu Machtzentren wie Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) riefen durchaus Verwunderung hervor: Warum versteht sich eine Regierung der Hindu-Nationalisten so prächtig mit ihren Partnern in der islamischen Welt? Und das gerade in Zeiten, in denen sich die indische Regierung immer häufiger dem Vorwurf ausgesetzt sieht, die einheimische muslimische Bevölkerung von immerhin 205 Millionen Menschen systematisch zu diskriminieren?

 

Tatsächlich hat sich Indiens Hinwendung zur arabischen Welt seit den frühen 2000er-Jahren langsam abgezeichnet. Einerseits angetrieben vom wirtschaftlichen Wachstumsschub ab 1991, andererseits von der Verlagerung der Welthandelswege Richtung Asien. Seit 2014 hat Modi die VAE sieben Mal besucht und im Februar sogar den ersten Hindu-Tempel in Abu Dhabi eingeweiht. Indien betrachtet den Golf auch immer häufiger als Absatzmarkt für einheimische Produkte. Das Freihandelsabkommen zwischen Indien und den VAE wurde in einer Rekordzeit von weniger als 90 Tagen ausgehandelt und unterzeichnet. Es soll das bilaterale Handelsvolumen bis 2030 auf 100 Milliarden US-Dollar steigern. Indiens Blick reicht aber auch über den Golf hinaus. 2018 stattete Modi Ramallah einen Besuch ab und bekräftigte seine Unterstützung für einen unabhängigen palästinensischen Staat.

 

Die Abraham-Abkommen zur Normalisierung der Beziehungen zwischen einer Gruppe arabischer Staaten unter der Führung der Vereinigten Arabischen Emirate und Israel im Jahr 2020 hat theoretisch eine seit langem bestehende Bruchlinie zwischen der arabischen Welt und dem jüdischen Staat überwunden. Es erleichtert zudem Ländern wie Indien, in der Region freier über wirtschaftliche Zusammenarbeit zu verhandeln. Die Gründung der Gruppierung Indien-Israel-VAE-USA, kurz I2U2, ist konkreter Ausdruck dieses Wandels. Ihr erster Gipfel auf Führungsebene fand im Juli 2022 statt. Im September 2023 gaben Saudi-Arabien, die VAE, die Europäische Union, Deutschland, Frankreich, Italien, die USA und Indien am Rande des G20-Gipfels in Neu-Delhi die Einrichtung des neuen multinationalen India-Middle East-Europe Economic Corridor (IMEC) bekannt.

 

Einige Monate nach Beginn des Gaza-Krieges plagen Verzögerungen und Störungen viele dieser Infrastruktur- und Handelsprojekte. Während grundlegende Vereinbarungen wie die Abraham-Abkommen die Krise bisher überstanden haben, ist damit zu rechnen, dass die Wiederaufnahme kooperativer Wirtschaftsprojekte im Jahr 2024 nur zögerlich voranschreiten wird.

 

Die Abraham-Abkommen erleichtern Ländern wie Indien, in der Region freier über wirtschaftliche Zusammenarbeit zu verhandeln

 

Der Krieg in Gaza hat seit Modis erstem Tweet eine gewisse Kurskorrektur der indischen Haltung erzwungen. Im Oktober 2023 enthielt sich Indien bei der Abstimmung der Vereinten Nationen für einen Waffenstillstand in Gaza und erhielt dafür Beifall von Israel. Doch im November votierte Neu-Delhi für eine UN-Resolution, die Israels Siedlungsaktivität im Westjordanland verurteilte. Während viele diese Abstimmungen im Zusammenhang mit umfassenden Narrativen rund um den unmittelbaren Konflikt sehen, stellen sie doch ein gewisses Maß an diplomatischer Kontinuität dar. Im Gegensatz zu vielen anderen Staaten hat Indien seine Zahlungen an das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina (UNRWA) etwa nie eingestellt. Im April enthielt sich Neu-Delhi auch bei einer Abstimmung im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen (UNHRC) über einen Waffenstillstand in Gaza und ein Waffenembargo gegen Israel.

 

Die eindeutige Verurteilung des Hamas-Angriffs auf Israel auf Führungsebene entsprach Indiens eigenen Kerninteressen und seiner politischen Positionierung. Indien trägt häufiger als früher das Thema Terrorismusbekämpfung bei den Vereinten Nationen vor. Im Oktober 2022 hatte etwa der Anti-Terror-Ausschuss des Sicherheitsrats erstmals in Indien getagt. Allerdings richten sich an Indien als wichtige Stimme des globalen Südens auch Erwartungen, wenn es um die Entwicklung von Ereignissen wie in Gaza geht. Die Kluft zwischen außenpolitischem Pragmatismus und einer noch nicht ausgereiften Idee einer multipolaren Ordnung stellt die traditionell risikoscheue indische Diplomatie vor Herausforderungen.

 

Anti-Kriegs-Proteste hat Indien dagegen kaum erlebt. Selbst die linken Parteien, die die Palästina-Frage in der Vergangenheit viel offensiver nach außen trugen, konnten mit dem Thema nicht mobilisieren. In den Monaten vor den Wahlen im Frühjahr sind vielen Indern innenpolitische Themen wichtiger als eine weitere Runde in einem auch geografisch weit entfernten Konflikt. Auch die Tatsache, dass Staaten in der arabischen Welt und darüber hinaus ihre eigenen Interessen in den Vordergrund zu stellen scheinen, entmutigt wohl die muslimische Minderheit in Indien, auf die Straße zu gehen.

 

Indiens Interessen in der Golfregion werden heute durch wirtschaftliche Zusammenarbeit bestimmt. Die indische Außenpolitik hat trotz Veränderungen in den Regierungen und ihren Ideologien über die Jahrzehnte hinweg ein Maß an Beständigkeit bewahrt, das von Eigeninteressen geleitet ist. Getreu diesem Grundsatz wird Indiens Sicht auf den Gaza-Krieg in gewisser Weise traditionell ausfallen: Neu-Delhi ruft zu Dialog auf und bekennt sich zur Zweistaatenlösung, und nimmt zugleich Haltungen ein, die den eigenen Interessen dienen, etwa bei der Terrorismusbekämpfung oder dem Ausbau der Handelswege.


Kabir Taneja ist Leiter der Westasien-Initiative des Strategic Studies Programme beim indischen Thinktank Observer Research Foundation.

Von: 
Kabir Taneja

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