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Interview mit Fatah-Funktionär Rawhi Fattouh

»Es gibt nichts mehr mit Israel zu diskutieren«

Interview
Interview mit Fatah-Funktionär Rawhi Fattouh
Foto: Hannes Alpen

Rawhi Fattouh leitete 2005 nach Arafats Tod den Übergang in der Autonomiebehörde. Im Interview erklärt der Fatah-Politiker, warum sich die Abbas-Nachfolge so lange hinzieht – und warum Israel gut beraten wäre, die Zwei-Staaten-Lösung zu akzeptieren.

zenith: Wann werden Ihrer Meinung nach das nächste Mal Wahlen in Palästina abgehalten?

Rawhi Fattouh: Zu Beginn des nächsten Jahres wird Präsident Abbas die Entscheidung verkünden und er wird einen Brief an den Präsidenten der Wahlkommission schicken, um den Zeitplan für die Wahlen festzulegen.

 

Präsident Abbas hatte bereits am 26. September vor der UN-Generalversammlung Wahlen angekündigt.

Es herrscht Uneinigkeit zwischen den beiden palästinensischen Fraktionen über das 2007 erlassene Wahlgesetz. Das Gesetz 1 von 2007 schreibt ein Verhältniswahlrecht vor. Vor der Erklärung von Präsident Abbas hatte sich die Hamas geweigert, sich daran zu halten. Erst nachdem der Präsident einen Brief an Hanna Naser, den Vorsitzenden des Wahlkommission, geschickt hatte, teilte die Hamas Nasr mit, dass sie bereit sei, sich an den Wahlen zu beteiligen.

 

Was steht der Durchführung von Wahlen ansonsten im Weg?

Erstens befürchten wir, dass die israelische Regierung uns die Durchführung der Wahlen in Jerusalem verbietet. In Reaktion auf solch einen Schritt könnte sich die Hamas vielleicht von den Wahlen zurückziehen. Die »Palästinensische Volksfront« hat bereits erklärt, dass sie an diesen Wahlen nicht teilnehmen wird.

 

»Israel wird die Botschaftsverlegung als Vorwand nutzen, um uns Wahlen in Jerusalem zu untersagen«

 

Wie hoch oder niedrig wird die Wahlbeteiligung ausfallen?

Höher als 60 Prozent. Vor allem in Gaza wollen die Menschen eine neue Regierung, also wird die Beteiligung hoch sein.

 

Wird Israel Wahlen in Jerusalem zulassen?

Die Israelis werden sie dort annullieren. Wenn die Israelis uns verbieten, die Wahlen in Jerusalem durchzuführen, werden wir die gesamten Wahlen abblasen. Wir bitten die internationale Gemeinschaft, Druck auf Israel auszuüben, damit wir Wahlen für Palästina in Jerusalem abhalten können. Nach der Wahl von Präsident Trump erkannten die USA Jerusalem als Hauptstadt Israels an und verlegten ihre Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem. Ich glaube, Israel wird das als Vorwand nutzen, um uns das Abhalten von Wahlen in Jerusalem zu verbieten.

 

»Die Hamas lehnte alle Vereinbarungen ab«

 

Warum brauchte es solange, einen Zeitraum für Wahlen zu finden?

Der Palästinensische Legislativrat (PLC) hat 2007 seine Arbeit eingestellt. Seitdem hat es keine Treffen zwischen den Mitgliedern der Legislative in Palästina mehr gegeben. Es ist schwierig, dieses Problem zu lösen.

 

Präsident Abbas ist in Palästina in die Kritik geraten, weil er seine Befugnisse vor allem seit der Einrichtung des Obersten Verfassungsgerichts ausgeweitet hat.

Er braucht seine Macht in Palästina nicht zu konsolidieren. Wir brauchen Wahlen. Vielleicht verlieren wir, und wenn wir der Fall eintritt, gibt es keine Machtkonsolidierung. Die Notwendigkeit, ein Verfassungsgericht einzurichten, wird in unserem Grundgesetz in Artikel 103 erwähnt. Die Hamas hat die Annullierung dieses Gesetzes gefordert, damit sind wir nicht einverstanden.

 

Warum hat Präsident Abbas gezögert, Wahlen auszurufen?

Er war nicht verpflichtet, Wahlen abzuhalten. Gemäß dem Wunsch unseres Volkes und auch der internationalen Gemeinschaft hat er diesen Schritt getan. Aber falls die Israelis uns verbieten, die Wahlen in Jerusalem abzuhalten – gleiches gilt für die Hamas im Gazastreifen –werden wir die Wahlen absagen. Wir sind nicht verpflichtet, sie durchzuführen.

 

Es wäre nicht das erste Mal, dass Wahlen wieder und wieder verschoben werden.

Wir haben in der Vergangenheit Wahlen wegen der Teilung zwischen dem Gazastreifen und dem Westjordanland abgesagt. Aber auch, um die Gespräche zwischen uns und der Hamas nicht zu gefährden. Doch die Hamas wollte sich nicht an die Vereinbarungen halten, die aus diesen Gesprächen zur Versöhnung der beiden Bewegungen hervorgegangen waren. Die Hamas verbot dann der Palästinensischen Autonomiebehörde die Durchführung der Wahlen im Gazastreifen, nicht nur der Parlamentswahlen, sondern auch der Wahlen in den Berufsverbänden, Gewerkschaften und Studentenvertretungen. Wir haben diese Angelegenheit mehr als zehn Jahre lang mit der Hamas unter ägyptischer Vermittlung diskutiert. Die Hamas lehnte alle Vereinbarungen ab.

 

»Mit den USA sind wir nur noch über Sicherheitskanäle im Gespräch«

 

Ist die Wahlankündigung vom Herbst 2019 eine Reaktion auf den wachsenden internationalen Druck?

Das ist nicht die Hauptursache. Wir brauchen diese Wahlen, um die Führungsrolle der Legislative zu erneuern.

 

Deutschland hat der Palästinensischen Autonomiebehörde 2018 rund 120 Millionen Dollar zur Verfügung gestellt. Was ist die Gegenleistung für diese Finanzhilfen?

Viele Länder, insbesondere in der arabischen Welt, unterstützen die PA, um den Friedensprozess aufrechtzuerhalten. Europäische Länder leisten der PA Hilfe, weil wir auf palästinensischer Seite über kein Einkommen verfügen. Die Palästinensische Autonomiebehörde erhält jährlich etwa 50 Prozent ihres Budgets von den Gebern: Deutschland, Frankreich, Europa und arabische Länder wie Saudi-Arabien und Algerien. Diese Gelder helfen uns, unsere Schritte in Richtung Frieden fortzusetzen. Wenn sie gekappt werden, gibt es keinen Weg zum Frieden.

 

Die USA haben Sie eben nicht genannt. Sie haben US-Außenminister Mike Pompeo Ende 2019 als »Kriegsverbrecher« bezeichnet. Warum?

Weil Pompeo erklärt hat, dass die Siedlungen im Westjordanland nicht gegen das Völkerrecht verstoßen. Die Abkommen von Genf oder Rom geben vor, dass es verboten ist, Menschen von ihrem Land um- und stattdessen andere Menschen dort anzusiedeln. Es ist ein Verbrechen. Wir bitten Pompeo, diese Erklärung zurückzunehmen. Er hat Israel auch ermutigt, Siedlungen im Westjordanland weiter auszubauen. Das verurteilen wir.

 

Welche Optionen bleiben noch angesichts der Positionen der Achse Washington-Jerusalem?

Die USA haben sich geweigert, weiter auf ein Friedensabkommen hinzuarbeiten, weil sich die Interessen der US-Regierung geändert haben. Präsident Donald Trump hat alle Positionen seiner Vorgänger Barack Obama, George W. Bush und Bill Clinton aufgegeben. Stattdessen erkannte er Jerusalem als Hauptstadt an, ließ die Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem verlegen, die Zahlungen für die UNWRA einstellen und die PLO-Vertretung in Washington schließen. Und nun die völkerrechtswidrige Erklärung über die Siedlungen im Westjordanland. Also hat die US-Regierung alles vom Tisch genommen. Es gibt nichts mehr mit Israel zu diskutieren. Mit den USA sind wir nur noch über Sicherheitskanäle im Gespräch, denn hier ist das Protokoll zur Bekämpfung von Terrorismus noch intakt.

 

»Wir hassen Netanyahu. Jeder andere wäre ihm vorzuziehen«

 

Inwiefern hat die mehrfache Verschiebung der israelischen Wahlen die Durchführung der Wahlen in Palästina beeinflusst?

Ich glaube, dass sowohl der Likud als auch sein Hauptgegner die Erweiterung der Siedlungen befürworten. Beide wollen das Jordantal annektieren. Es gibt keinen Unterschied zwischen ihnen. Der israelische Wähler stärkt so die rechten und extremen Elemente.

 

Welche Rolle spielt die Anklage gegen Israels Premier Benyamin Netanyahu?

Das hat keine Auswirkungen auf uns. Wir wollen Netanyahu nicht mehr in Regierungsverantwortung sehen. Aber die Anklage gegen Netanjahu ist eine Angelegenheit der Israelis, nicht der Palästinenser.

 

Wäre Benny Gantz Netanyahu vorzuziehen?

Wir hassen Netanyahu. Jeder andere wäre ihm vorzuziehen.

 

Wie steht es um Kandidaten für die Nachfolge an der Spitze der Palästinensischen Autonomiebehörde?

Unser Kandidat heißt Mahmud Abbas. Von Seiten der Fatah ist er der einzige Kandidat. Ich glaube, dass die Mehrheit der Palästinenser im Westjordanland, in Gaza und Jerusalem ihm die Stimme geben wird. Denn es gibt keine Alternative. Jeder Führungswechsel innerhalb der Fatah wird auf unserer achten Konferenz im Jahr 2021 vollzogen werden. Unsere siebte Konferenz fand 2016 statt, auf der meine Kollegen und ich gewählt wurden, und wir werden unsere Rollen bis zum nächsten Termin ausfüllen.

 

»Auf lange Sicht wird eine Ein-Staaten-Lösung in unserem Interesse liegen und nicht im Interesse der Israelis«

 

Halten Sie die Zwei-Staaten-Lösung künftig noch für tragfähig?

Ja, natürlich, denn das ist unsere Vereinbarung mit der israelischen Seite seit der Unterzeichnung des Osloer Abkommen, als wir die Existenz Israels anerkannten. Wenn es keine Zweistaatenlösung gibt, heißt die Alternative Ein-Staaten-Lösung – also Apartheid. Die Ein-Staaten-Lösung richtet sich gegen die Israelis, nicht gegen die Palästinenser. Auf lange Sicht wird sie in unserem Interesse liegen und nicht im Interesse der Israelis. Deshalb rate ich den Israelis, der Zwei-Staaten-Lösung zuzustimmen.

 

Wie begegnen Sie Kritik, dass sich die PA nicht stark genug für den Gazastreifen einsetzt?

Jeden Monat überweist die PA etwa 100 Millionen US-Dollar an den Gazastreifen für Strom, Wasser, Abwasserentsorgung und Medikamente.

 

Aber die Mitarbeiter der PA werden seit 2006 im Gaza-Streifen nicht mehr bezahlt. Warum nicht?

Wir versuchen unser Bestes, um dieses Problem zu lösen.

 

Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch kritisieren den Umgang der PA mit Hamas-Anhängern in den Gefängnissen.

Warum kritisieren die nicht die Hamas? Und was geschieht mit unseren Landsleuten in Gaza nicht nur in den Gefängnissen, sondern auch auf der Straße?

 

»Abbas ist der letzte palästinensische Führer, der mit Israel Frieden schließen kann«

 

Was halten Sie von der Entscheidung des Deutschen Bundestages, die Boykott-, Entflechtungs- und Sanktionskampagne (BDS) mit Antisemitismus gleichzusetzen?

Das französische Parlament hat eine ähnliche Resolution verabschiedet. Beide sind falsch. Während des Apartheid-Regimes in Südafrika hat die gesamte internationale Gemeinschaft die gleichen Schritte gegen das Regime unternommen, um eine Lösung für die Menschen in Südafrika zu finden. Wenn die internationale Gemeinschaft im Nahen Osten Frieden schaffen will, dann muss sie Druck auf Israel ausüben. Einer der Mechanismen, um dies zu erreichen, ist der Boykott Israels, um es dazu zu bringen, sich an die internationalen Abkommen, die es unterzeichnet hat, zu halten. BDS ist kein Mittel, um das jüdische Volk zu diskriminieren.

 

Würden Sie in Betracht ziehen, sich selbst als Präsidentschaftskandidat vorzuschlagen?

Ich hatte meine Chance, jetzt ist es Zeit für andere. Als ich 2005 Interimspräsident war, wollte ich die die Übergabe der Autorität an den neuen Präsidenten sauber und friedlich gestalten. Ich habe etwa 65 Tage, schreckliche Tage, damit verbracht. Aber heute bin ich stolz darauf, dass ich die Regierungsgeschäfte so schnell und ohne Probleme übergeben konnte.

 

Sie folgten damals auf Jassir Arafat.

Bis heute ist Arafats Charisma unerreichbar. Als Mahmud Abbas, den ich damals unterstützte, die Wahlen gewann, habe ich ihm das mit auf den Weg gegeben. Denn auch heute bewundern die Kinder Palästinas Arafat. Ich glaube aber, dass Abbas der letzte palästinensische Führer ist, der mit Israel Frieden schließen kann. Es wird schwierig werden, noch jemanden zu finden, der dazu in der Lage ist.


Rahwi Fattouh, 70, ist Mitglied des Zentralkomitees der Fatah, zuständig für internationale Angelegenheiten, ein Amt, das er seit 2016 innehat. Von 2004 bis 2006 war er Sprecher des Palästinensischen Legislativrates (PLC). Nach dem Tod von Jassir Arafat war er 2005 für zwei Monate Interimspräsident der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA). Zwischen 2006 und 2016 war er der Sprecher des Präsidenten der PA, Mahmud Abbas. zenith traf Rawhi Fattouh am Rande seines Deutschland-Besuchs Ende Dezember 2019.

 
Von: 
Calum Humphreys

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