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Interview zum Atomprogramm und Israels Angriff auf Iran

»Andere Staaten könnten sich derselben Argumentation bedienen«

Interview
Interview zum Atomprogramm und Israels Angriff auf Iran
Ein Satellitenbild zeigt das Gelände der Nuklearanlage Fordo, südlich von Teheran

Ludovica Castelli forscht zu Nuklearfragen im Nahen Osten und erklärt im Interview, warum Israels Atomprogramm keiner internationalen Kontrolle unterliegt – und warum der Angriff gegen Iran einen gefährlichen Präzedenzfall setzt.

zenith: Israel begründete seine Militäroffensive gegen Iran mit der Bedrohung, der es sich nicht zuletzt durch das iranische Atomprogramm ausgesetzt sieht. War das tatsächlich das Hauptmotiv für den Angriff?

Ludovica Castelli: Israelische Funktionäre greifen schon lange auf ein bestimmtes Framing des iranischen Nuklearprogrammes zurück, innerhalb dessen sie die Urananreicherung als eine existenzielle Bedrohung benennen. Das steht im Einklang mit Israels grundsätzlicher Agenda, regionale Gegenspieler von der nuklearen Aufrüstung abzuhalten. Diese Strategie wird als »Begin-Doktrin« bezeichnet. Man kann durchaus annehmen, dass der Angriff darauf ausgerichtet war, Iran von der Weiterentwicklung seiner atomaren Infrastruktur abzuhalten. Gleichzeitig formt er die regionale Sicherheitsstruktur zugunsten Israels. Insofern ist die Logik der Selbstverteidigung eng verwoben mit breiter angelegten Interessen der israelischen Führung.

 

Wie steht das Völkerrecht zu Israels Vorgehensweise der antizipativen Selbstverteidigung?

Laut Artikel 51 der UN-Charter ist das Recht zur Selbstverteidigung nur im Fall eines bewaffneten Angriffes gegeben. Ein Präventivschlag – also das Einsetzen von Gewalt, um eine Bedrohung zu neutralisieren, die nicht unmittelbar, sondern potenziell besteht, ist sowohl rechtlich als auch normativ umstritten.

 

Viele europäische Staaten stützen Israels Argumentationslinie, man hätte einen Präventivschlag aus Sicherheitsgründen vornehmen müssen. Können andere Staaten sich künftig auf dieselbe Begründung berufen, indem sie proaktiv Angriffe mit einer Bedrohungswahrnehmung rechtfertigen?

Das ist tatsächlich eine große Sorge – weit über die Region des Nahen Ostens hinaus. Findet die Logik präventiver Selbstverteidigung Akzeptanz, sinkt die Schwelle für legitime Nutzung von Gewalt – und das birgt große Risiken für Sicherheit und Stabilität auf der ganzen Welt. Israel stellt seine Aktionen als unbedingt notwendig dar, um Iran von dem Erwerb nuklearer Waffenkapazitäten abzuhalten. Viele westliche Staaten unterstützen diese Logik mehr oder weniger implizit. Sie behandeln Israel als eine Art Sonderfall. Tatsache ist aber, dass sich dieser Linie folgend auch andere Staaten derselben Argumentation bedienen könnten.

 

»Man riskiert eine Welt zu schaffen, in der Staaten strategische Interessen nicht mehr durch Diplomatie oder internationales Recht durchsetzen, sondern durch Gewalt«

 

Wie wird sich diese Vorgehensweise auf globale Sicherheitspolitik und Konfliktbewältigung auswirken?

Wenn eine solche Rechtfertigung normalisiert wird, gestaltet es sich schwer, anderen Staaten dasselbe Recht zur vorbeugenden Selbstverteidigung abzusprechen. Das gilt für diverse bestehende oder potenzielle Konflikte – sei es zwischen Indien und Pakistan, Nord- und Südkorea, aber auch allgemein für zukünftige regionale Rivalitäten. Die Wahrnehmung von Bedrohung ist inhärent subjektiv. Wenn also bereits eine solche Wahrnehmung zur Legitimationsgrundlage militärischen Handelns wird, beginnt die rechtliche und normative Architektur der UN-Charter zu bröckeln. Auch wenn die Situation Israels im politischen Diskurs westlicher Staaten oft als Ausnahme dargestellt wird, schafft das Bekräftigen der israelischen Argumentation – ob beabsichtigt oder nicht – eindeutig einen Präzedenzfall. Dass dem nachgeeifert wird, ist definitiv im Rahmen des Möglichen. Man riskiert damit eine Welt zu schaffen, in der Staaten strategische Interessen nicht mehr durch Diplomatie oder internationales Recht durchsetzen, sondern durch Gewalt. Und das nicht auf Basis dessen, was ein anderer Staat getan hat, sondern auf Basis dessen, was er potenziell tun könnte.

 

Würde das nicht wiederum auch die israelische Nuklearinfrastruktur gefährden?

Das ist nicht ausgeschlossen.

 

In einem kürzlich veröffentlichten Forschungsartikel sprechen Sie von der »Villa im Dschungel«. Was meinen Sie damit?

Diese Metapher wird üblicherweise Ehud Barak zugeschrieben. Der frühere Premierminister konstruierte Israel damit als eine beispielhafte, demokratische Gesellschaft inmitten einer gewalttätigen, rückschrittlichen arabischen Nachbarschaft. Die Gegenüberstellung von rational und irrational strukturiert dabei den Diskurs.

 

»Unter dieser Annahme gilt es als legitim, dass Israels Atom-Arsenal weder untersucht noch als Bedrohung wahrgenommen wird«

 

Welche Wirkung hat diese Metapher konkret am Beispiel Israels?

Diese Rhetorik hat sich fest in der israelischen Politik eingebrannt. Man kann sagen, dass die Darstellung als »Außenstelle« der Demokratie in einem existenziellen Kampf gegen die regionale Unberechenbarkeit dazu beigetragen hat, Israels Berechtigung zum Besitz von Nuklearwaffen, künstlich zu konstruieren. Anders als seinen arabischen Nachbarn, schreibt man Israel die Rolle eines verantwortungsvollen Akteurs in der Region zu. Nukleare Infrastruktur wird daher anders als bei seinen Nachbarn nicht als potenzielle Bedrohung angesehen.

 

Welche Konsequenzen haben diese Zuschreibungen speziell für den Diskurs über iranische Nuklearkapazitäten?

Israel konstituiert sich selbst als rationalen, demokratischen Akteur. Diese Sicht haben andere verbündete Staaten übernommen. Die zugrundeliegende Prämisse ist hier, dass Israel als verantwortungsbewusster Rechtstaat einen besonnenen Umgang mit nuklearer Infrastruktur pflegt. Unter dieser Annahme gilt es als legitim, dass Israels Atom-Arsenal weder untersucht noch als Bedrohung wahrgenommen wird. Im Gegensatz dazu hat die wiederholte Charakterisierung arabischer Staaten oder Irans als gewalttätige, rückschrittliche und instabile Einheiten geholfen, ein Bild von vermeintlicher Irrationalität, Unverantwortlichkeit und Impulsivität zu schaffen. Und das dient als Begründung dafür, dass der Besitz nuklearer Technologie in ihrem Fall eine Gefährdung der internationalen Sicherheit darstellen würde.

 

Wie sehr formt diese mentale Geografie die Wahrnehmung des Konflikts zwischen Israel und Iran?

Wie tief solche Narrative in der internationalen Politik verankert sind, hat sich jüngst mit Blick auf die überwiegende Straffreiheit Israels im Kontext des Nahostkonflikts gezeigt, speziell der humanitären Lage in Gaza. Im Kontext des Konflikts mit Iran trägt das Schweigen über Israels nukleare Kapazitäten zu dessen Normalisierung bei. Das Agieren anderer regionaler Akteure – nicht zuletzt Irans – steht wiederum unter genauester Beobachtung. Dieser Doppelstandard zersetzt die Glaubwürdigkeit nuklearer Nichtweiterverbreitung und regionaler Abrüstung.



Interview zum Atomprogramm und Israels Angriff auf Iran

Ludovica Castelli ist Politikwissenschaftlerin. Als Post-Doktorandin ist sie derzeit an der Universität Leicester Teil des durch den Europäischen Forschungsrat geförderten Projekts »The Third Nuclear Age«, innerhalb dessen sie sich mit der Geschichte von Atomkraft und -waffen im Nahen Osten befasst. Zuvor war sie unter anderem am Centro Studi Internazionali in Rom tätig.

Von: 
Daria Bonabi

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