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Interview mit israelischem Knesset-Abgeordneten Ofer Cassif

»Mit Faschismus kenne ich mich aus«

Interview
Interview mit israelischem Knesset-Abgeordneten Ofer Cassif
Instagram / Ofer Cassif

Ofer Cassif ist Jude, sitzt aber für die arabisch-israelische Partei Hadash in der Knesset, aus der er nun für sechs Monate ausgeschlossen wurde. Wütend ist der Kriegsgegner auch auf Israels Opposition.

zenith: Innenminister Itamar Ben-Gvir ernannte Ende August seinen Vertrauten Daniel Levy zum Polizeipräsidenten, und erklärte, dieser werde die Truppe »gemäß der von mir festgelegten Agenda« führen.

Ofer Cassif: Von Polizei kann man in diesem Land eigentlich nur noch in Anführungszeichen sprechen.

 

Warum?

Ich stehe mit dieser Meinung nicht allein da. Als Premierminister Benjamin Netanyahu zuletzt den Chef des Inlandgeheimdienstes Schin Bet fragte, warum jüdische Terroristen im Westjordanland nicht verhaftet würden, antwortete Ronen Bar, dass es dort keine Polizei mehr gäbe. Die israelische Polizei wurde faktisch durch einen Haufen Söldner in Diensten von Ben-Gvir ersetzt. Im Grunde genommen ist sie zu einer Art israelischen Sturmabteilung (SA) mutiert.

 

Was hat das für politische Konsequenzen?

Polizeigewalt hat in einem unvorhergesehenen Maße zugenommen. Erst kürzlich rempelte ein berittener Polizist eine Angehörige einer Geisel an, die dann ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Die Polizei verbietet Demonstrationen, politische Veranstaltungen und hat unser Parteibüro in Haifa für einen halben Tag dicht gemacht. Sie stellt sich gegen die israelische Zivilgesellschaft – mit allem, was ihr an legalen und illegalen Instrumenten zur Verfügung steht.

 

Was genau ist in Haifa passiert?

Ich war selbst nicht vor Ort. Unsere Parteileitung in Haifa hielt eine politische Veranstaltung ab, auf der der Film »Janin, Jenin« gezeigt werden sollte. Ich bin mit Regisseur Muhammad Bakri befreundet, der seit Jahren politisch verfolgt wird. Einige rechtsextreme Aktivisten drohten, Stunk zu machen und riefen die Polizei dazu auf, die Veranstaltung zu stoppen. Kurz darauf erschienen die Beamten mit einer Verfügung, unser Parteibüro dichtzumachen, mit dem Verweis auf Gefährdung der öffentlichen Ordnung. Für uns als Partei hat der Vorfall in Haifa einmal mehr aufgezeigt, wie sich der Faschismus langsam in Israels politische Kultur einschleicht. Das Eingreifen der Polizei war rein politisch motiviert.

 

»Diese Demonstrationen müssen fortgesetzt und ausgeweitet werden«

 

Was war so problematisch an dem Film?

Überhaupt nichts! Bei »Janin, Jenin« handelt es sich um eine Neuauflage des Films »Jenin, Jenin«, der den israelischen Angriff auf das Flüchtlingslager Jenin im Jahr 2002 dokumentierte. Er zeigte israelische Kriegsverbrechen, und lichtete unter anderem israelische Soldaten ab, weswegen er 2021 vom Obersten Gerichtshof verboten wurde. In der Neuauflage fokussiert Bakri einzig und allein auf die Palästinenser, und was die täglichen Erniedrigungen und Razzien 2023 mit den Palästinensern machen.

 

Sie sind Abgeordneter einer arabisch-jüdischen Partei in Israel. Wie lautet Ihre Botschaft an die Palästinenser des Landes?

Gebt den Kampf für Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit nicht auf. Haltet an einem gewaltlosen Widerstand fest und denkt daran, dass im Staat Israel und im Judentum auf der ganzen Welt Millionen von Menschen an eurer Seite stehen und mit euch nach Gerechtigkeit und wahrem Frieden streben.

 

Bewirkt denn gewaltfreier Widerstand noch etwas im Nahostkonflikt?

Nicht ohne internationale Unterstützung. Es ist bedauerlich, dass viele Regierungen, insbesondere in den USA und Deutschland, die israelische Besatzung aktiv unterstützen, anstatt sich für Gerechtigkeit einzusetzen. Solange sich die internationale Gemeinschaft hinter Netanyahu stellt, ist gewaltfreier Widerstand gegen die Besatzung zum Scheitern verdammt.

 

Wie kann sich die israelische Gesellschaft erholen, ihre demokratische Kraft wiedergewinnen?

Ohne eine aufrichtige Auseinandersetzung mit der Besatzung wird ein Wandel in diesem Land kaum möglich sein. Auch eine neue Sozialpolitik muss umgesetzt werden – es ist kein Zufall, dass Netanyahus Partei den israelischen Wohlfahrtsstaat über Jahre hinweg ausgehöhlt hat. Um sich davon zu erholen, muss sich die israelische Gesellschaft auf soziale Gerechtigkeit und ein Ende der Besatzung konzentrieren.

 

»Politiker wie Yair Lapid und Benny Gantz sind Opportunisten«

 

Verlieren Sie sich da nicht in Wunschgedanken und Floskeln?

Keineswegs. Noch im Frühling lebten die Israelis weiter eine Illusion, doch langsam setzt ein Wandel ein. Anfang September protestierten landesweit rund 700.000 Menschen und forderten sowohl die Freilassung der Geiseln als auch ein Ende des Krieges. Diese Demonstrationen müssen fortgesetzt und ausgeweitet werden. Gleichzeitig will ich nochmals betonen: Ohne internationale Unterstützung geht es nicht. Zurzeit sind Deutschland und die USA keine Freunde Israels, sondern Freunde der israelischen Regierung – der gefährlichsten für die Israelis, die es je gab.

 

Sehen Sie ein Szenario, in der die Regierung Netanyahu wenn nicht durch den Druck auf der Straße, aber ein Misstrauensvotum in der Knesset selber zu Fall kommt?

Es gibt in der Knesset derzeit keine Opposition: Auch die sogenannte Mitte ist von rechtsnationalen Stimmen unterwandert. Das zeigte beispielsweise der unsinnige Beschluss, einen palästinensischen Staat zu verbieten. Bei der Abstimmung verließen Sowohl Yair Lapids Partei Yesh Atid als auch die Arbeiter-Partei das Parlament, anstatt gegen die Resolution zu stimmen.

 

Die Partei arbeitet nicht mit Ihnen zusammen, um gemeinsam Netanyahu zu Fall zu bringen? Immerhin behauptet sie immer wieder, genau das anzustreben.

Yesh Atid spricht kaum noch mit uns. In der Vergangenheit haben einige ihrer Delegierten sogar gegen uns gearbeitet – als es beispielsweise darum ging, mich aus dem Parlament zu werfen, weil ich mich hinter Südafrikas Klage vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) gestellt habe. Politiker wie Yair Lapid und Benny Gantz sind Opportunisten, die nicht wirklich an einem tiefgreifenden Wandel interessiert sind – sie sind Feiglinge, die es nicht wagen, Netanyahus diktatorische Schritte in Frage zu stellen. Eine Zusammenarbeit erscheint mir da wenig sinnvoll.

 

Sie begrüßen Südafrikas Klage vor dem IGH, vergleichen aber die israelische Polizei mit der SA. Finden Sie Gleichsetzungen mit dem Nationalsozialismus nicht ziemlich unangemessen? Wie kommen Sie darauf?

Erstens vergleiche ich die Polizei mit der Sturmabteilung (SA) – nicht mit der Schutzstaffel (SS). Zweitens habe ich in meiner Doktorarbeit eingehend den Nationalismus untersucht. Mit Verlaub, ich bin mit der Geschichte des Faschismus recht gut vertraut. Ich ziehe solche Vergleiche nicht, um zu provozieren. Sondern weil ich glaube, die israelische Gesellschaft bewegt sich auf einem dunklen Pfad. Die Jahre als Politiker haben mich gelehrt: Milde Worte helfen nicht.


Ofer Cassif (59), sitzt seit 2019 für die israelisch-arabische Partei Hadash in der Knesset. Seinen Wehrdienst absolvierte er in der Nahal-Fallschirmjägerbrigade. Während der Ersten Intifada saß Cassif viermal wegen Kriegsdienstverweigerung im Militärgefängnis. Nach dem Studium der Philosophie an der Hebräischen Universität von Jerusalem wurde er 2006 an der London School of Economics (LSE) mit einer Dissertation über Nationalismus und Demokratie promoviert. Seit 2019 lehrt Cassif Politikwissenschaft an der Hebräischen Universität in Jerusalem.

Von: 
Charlotte Schmidt und Pascal Bernhard

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