Verfassungsrechtler Adam Shinar sieht Presse- und Redefreiheit in Gefahr: Denn auch jenseits der umstrittenen Justizreform fänden Netanyahu, Ben Gvir und Smotrich vor dem Hintergrund des Gaza-Kriegs Wege, um Israels Demokratie auszuhöhlen.
zenith: Mehr als ein halbes Jahr ist seit dem 7. Oktober und Beginn des Kriegs in Gaza vergangen. Im Innern wird in Israel um Grundrechte wie die Meinungsfreiheit gekämpft. Wie steht es um die israelische Demokratie?
Adam Shinar: Die israelische Demokratie ist in diesen Krieg schon geschwächt und umkämpft eingetreten: Vor dem 7. Oktober drehte sich die Politik einzig und allein um die von der Regierung Justizreform, die die Justizverwaltung politisieren und die Macht des Obersten Gerichtshofs schwächen würde. Letztlich ist sie gescheitert – teils wegen der Proteste, die das Vorhaben der Regierung verzögerten, teils wegen des Krieges, der sie überlagerte. An ihrer Stelle beobachten wir nun ein Tod durch tausend Schnitte.
Was meinen Sie damit?
Wir erleben eine Regierungskoalition, in der die extreme, nationalistische und religiöse Rechte an der Macht sind: Wir sehen faschistische, rassistische Elemente im Ministerium für nationale Sicherheit, angeführt von Itamar Ben Gvir und seiner Partei. Finanzminister Bezalel Smotrich, ein weiterer faschistischer Extremist, ließ sich für seine Regierungsbeteiligung Kompetenzen übertragen, die vorher in den Bereich des Verteidigungsministeriums gefallen waren. Auch wenn die Justizreform vorerst abgewendet wurde: Wir beobachten einen erneuten Landraub im Westjordanland, Versuche, illegale Außenposten zu legalisieren sowie Siedlergewalt gegen die Palästinenser, die strafrechtlich nicht verfolgt wird. Und wir werden Zeugen eines Verlustes demokratischer Errungenschaften: Es begann mit der Schließung des Senders Al-Midan, der mit der Hizbullah verbandelt ist, es folgte das Verbot von Al Jazeera und weitere internationale Medien können nun folgen, wenn sie als schädlich für die nationale Sicherheit wahrgenommen werden.
Ist die israelische Demokratie ist schwächer als vor dem 7. Oktober?
Es ist erstmal nicht so ungewöhnlich, dass ein Land in Kriegszeiten und Extremsituationen die bürgerlichen Freiheiten einschränkt – eine ähnliche Situation erlebten wir in Israel auch während Corona-Pandemie. Doch die Israelis werden immer skeptischer: Nicht, dass die Unterstützung für den Krieg zurückgegangen wäre, aber die innere Geschlossenheit, die man nach dem 7. Oktober sah, die bröckelt. Und selbst der Oberste Gerichtshof, der anfangs in mehreren, sehr problematischen Entscheidungen die Rechte des Individuums einschränkte, steht der Regierung inzwischen kritischer gegenüber. Die globale Sicht verändert sich, und viele Israelis beginnen, innezuhalten. Im Vergleich zu Oktober oder November werden die Regierung und die Kriegsführung heute viel mehr hinterfragt.
»Ihre Verhaftung wurde inszeniert, um beim rechten Flügel in Israel zu punkten und um zu demonstrieren«
Lassen Sie uns einige Fälle näher beleuchten: Die palästinensisch-israelische Rechtsprofessorin Nadera Shalhoub-Kevorkian von der Hebräischen Universität in Jerusalem wurde im April unter dem Vorwurf des Terrorismusunterstützung verhaftet. Wie konnte es so weit kommen?
Zunächst einmal: Shalhoub-Kevorkian ist kein Einzelfall, sondern steht für einen anhaltenden Trend. Sie ist vielleicht das bekannteste Beispiel, aber im Oktober und November erfolgten etliche Anklagen, insbesondere gegen israelische Araber. Wir sprechen hier von Dutzenden von Fällen, Anklagen, Verhaftungen und Verhören. Was Shalhoub-Kevorkian betrifft: Ihre Verhaftung kommt politischer Verfolgung gleich. Nichts, was sie getan oder gesagt hat, war strafbar.
Als sie die Gräultaten des 7. Oktobers kommentierte, sagte sie unter anderem, man solle nicht »die Körper von Frauen nicht als politische Waffen benutzen«...
...die Gräueltaten des 7. Oktobers, die Dimensionen der sexuellen Gewalt herunterzuspielen, ist – so verabscheuungswürdig es auch ist – kein strafbares Vergehen. Und sicherlich hat sie den 7. Oktober nicht geleugnet. Ich weiß nicht, ob Ben Gvir der Polizei den Auftrag gegeben hat, zu ermitteln: Rechtlich gesehen ist er dazu nicht autorisiert und die Unabhängigkeit der Polizei in der Verfassung verankert. Aber natürlich finden Ben Gvirs Ideologie, seine Politik und seine Präferenzen Einzug in die polizeiliche Tagesordnung. Es ging im Fall Shalhoub-Kevorkian nicht um das Gesetz: Sie wurde 24 Stunden nach ihrer Verhaftung freigelassen, und der Richter verstand erst gar nicht, warum sie überhaupt dort war.
Worum ging es dann?
Ihre Verhaftung wurde inszeniert, um beim rechten Flügel in Israel zu punkten und um zu demonstrieren, dass die Regierung etwas gegen die linken Intellektuellen unternimmt, die auf internationaler Ebene ihre Stimme erheben.
Mittlerweile muss die Staatsanwaltschaft in Israel strafrechtliche Ermittlungen mehr genehmigen, zudem häufen sich die Verbote von Antikriegsdemonstrationen. Wie beurteilen Sie diese Eingriffe?
Die Anordnung, die der Polizei vielleicht nicht freie Hand, aber doch weitreichende Befugnisse zusprach, wurde bereits zurückgenommen. Die meisten der Fälle, in denen es um Unterstützung von Terrorismus oder Hetze ging, drehten sich natürlich um den 7. Oktober und sind inzwischen abgeschlossen. Was die Proteste angeht, so sind sie definitiv wieder aufgeflammt: Auch wenn die Menschen, die ein Ende des Krieges fordern, in der Minderheit sind: Diese Minderheit wächst.
»Es geht darum, ob die Polizei ihre Aufgabe erfüllt, indem sie allen Teilen der israelischen Gesellschaft gleichermaßen dient«
Sie haben vor einigen Wochen in der Tageszeitung Haaretz einen Essay über Zensur geschrieben. Weshalb?
Der Artikel befasst sich mit der Militärzensur in der Geschichte der israelischen Filmindustrie – ein Thema, mit dem ich mich derzeit wissenschaftlich beschäftige und zu dem sich viele Parallelen ziehen lassen. Der Artikel endet mit der Schlussfolgerung, dass in Israel die offizielle Zensur durch eine viel ausgefeiltere Selbstzensur ersetzt worden ist.
Ist die militärische Zensur kein wirksames Instrument?
Nein, denn internationale Medien fallen ja nicht darunter. Die Militärzensur hat nur Macht über israelische Medien. Kontrolliert sie die israelische Medienlandschaft? Ja, vielleicht bis zu einem gewissen Grad, aber sie ist keineswegs umfassend. Selbstzensur ist da um einiges effektiver. Die großen Sender wissen, dass bestimmte Themen das Publikum verärgern und schneiden sie deshalb nicht an – vor allem, wenn es um das Leid der Palästinenser im Gazastreifen geht.
Im Zuge der Bildung der gegenwärtigen Regierung stellten Ben Gvir und seine Partei Otzma Yehudit eine Bedingung: Die Polizei muss dem Innenministerium unterstellt sein.
Itamar Ben Gvir hat angekündigt, den kommenden Polizeipräsidenten selbst auszusuchen und jemanden vorgeschlagen, der ihm politisch sehr nahe steht. Im Moment hat er die Befugnis, allgemeine Vorgaben zu formulieren, kann aber nicht in einzelne Ermittlungen eingreifen. Wenn man jedoch einen Plozeipräsidenten einsetzt, der mit der eigenen politischen Agenda übereinstimmt, braucht man keine formale Änderung mehr. Zurzeit liegt dem Obersten Gerichtshof eine Petition gegen die Unterordnung der Polizei unter sein Ministerium vor, und wir werden dessen Entscheidung abwarten müssen. So oder so hat Ben Gvir viele Möglichkeiten, seinen Einfluss auf die Polizei zu sichern. Vor allem durch Beförderungen, oder eben die Ernennung des Polizeipräsidenten. All dies wird darüber entscheiden, ob die Polizei eine professionelle, neutrale und unpolitische Organisation sein wird, oder ob sie mehr und mehr politisiert wird, und der politischen Haltung eines bestimmten Ministers entspricht.
Erkennen Sie dafür bereits konkrete Anzeichen?
Ben-Gvir ist offensichtlich ein rassistischer, extremistischer jüdischer Nationalist. Etwa ein Fünftel aller Staatsbürger sind Araber und die israelisch-arabischen Gemeinschaften verzeichnen hohe Kriminalitätsraten. Während seiner Amtszeit als Minister ist die Zahl der Morde dort deutlich gestiegen. Ben Gvir ist dies egal: Araber gehören schlicht nicht zu seiner Wählerschaft. Es geht also nicht nur darum, ob die Polizei politisch ist. Es geht auch darum, ob die Polizei ihre Aufgabe erfüllt, indem sie allen Teilen der israelischen Gesellschaft gleichermaßen dient.
»Wer weiß, was passiert, wenn Gantz seinem Ultimatum Taten folgen lässt und aus dem Kriegskabinett austritt«
Sie sagten zuvor, dass die Regierung bei der Justizreform zu einer Art Salamitaktik übergegangen ist.
Die Reform ist nicht als Paket verabschiedet worden. Man hat beschlossen, sie in mehrere Teile aufzuspalten. Einige Klauseln hat der Oberste Gerichtshof zu Jahresbeginn kassiert. Solange der Krieg weitergeht, drängt die Regierung nicht auf weitere Reformen: Bei der Bildung des Kriegskabinetts haben Benny Gantz und Benjamin Netanyahu vereinbart, dass die Justizreform vorerst nicht vorangetrieben werden soll. Sicher ist jedoch, dass Netanyahu und seine Koalition alles in ihrer Macht Stehende tun, um eine Politik im Sinne der Reformen umzusetzen. Sie schwächen unter anderem die Medien und die Polizei. Wer weiß, was passiert, wenn Gantz seinem Ultimatum Taten folgen lässt und aus dem Kriegskabinett austritt.
Wo sehen Sie das Land in sechs Monaten?
Gegenwärtig löst sich das Gefüge der israelischen Gesellschaft auf. Die Geiselfrage ist politisiert, viele sehen die Regierung und die Abgeordneten in der Knesset als ein Haufen Opportunisten. Die Armee hat am 7. Oktober einen schweren Schlag erlitten und Netanyahu wird als jemand wahrgenommen, der sich um seine eigenen Interessen kümmert, etwa den hier in Israel laufenden Strafprozessen gegen ihn wegen Korruption.
Und die israelische Demokratie?
Es ist schwierig, sich vorzustellen, wie Israel unter all diese Umständen eine funktionierende Demokratie bleibt. Man kann sich auch fragen, ob Israel angesichts der Besatzung je eine vollständige Demokratie war: Kann ein Land, das anderen Menschen 57 Jahre lang grundlegende Rechte verweigert, als Demokratie bezeichnet werden? Israel war von Anfang an eine mangelhafte Demokratie. Zurzeit ist Israels Demokratie verwundbarer denn je.
Eine beunruhigende Schlussfolgerung...
Wir sehen zurzeit das Erstarken religiöser, ultra-orthodoxer und rechtsgerichteter Elemente in Israel. Ob der israelische Liberalismus oder eine Version davon überleben kann, ist die Frage der Stunde. Die Aufrechterhaltung dieser Werte wird immer schwieriger werden – und war es davor schon, wenn man ständig von Iran und der Hizbullah belagert, der Hamas oder dem Islamischen Dschihad bedroht wird und mit Gewalt im Westjordanland konfrontiert ist. Unter all diesen Umständen ist es sehr schwer, ein starkes Engagement für Freiheit und freie Meinungsäußerung zu entwickeln, weil man ständig Zugeständnisse im Namen der Sicherheit machen muss. Der Kompromiss fällt fast immer auf die Seite der Sicherheit.
Adam Shinar