Eine Knesset-Resolution erteilt der Zwei-Staaten-Lösung eine kategorische Absage. Gerade die Likud-Partei folgt damit auch einer Linie, die ihr geistiger Vordenker einst formulierte. Premier Netanyahu bricht allerdings auch ein beliebtes politisches Instrument weg.
Der Nahe Osten spielt seit Mittwochabend mit offeneren Karten. Das israelische Parlament verabschiedete eine Erklärung, die der Zwei-Staaten-Lösung und damit der Schaffung eines eigenständigen palästinensischen Staates eine Abfuhr erteilte. Bereits im Februar hatte die Knesset einen ähnlich lautenden Text angenommen, das sich gegen die einseitige Ausrufung eines Palästinenserstaates stellte. Doch das Papier der vergangenen Woche geht weiter: Selbst aus einer Verhandlungslösung mit Israel solle kein palästinensischer Staat entstehen. Dessen Errichtung westlich des Jordans würde »eine elementare Bedrohung für den Staat Israel« darstellen, so der Wortlaut. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis Gruppen wie die Hamas den neuen Staat übernähmen und ihr Vernichtungswerk gegen Israel fortsetzten. Jegliches Zugehen auf die palästinensische Seite in dieser Frage könne nur als »Belohnung« für die Terrorangriffe vom 7. Oktober gesehen werden.
Die Umstände und die Bedeutung dieser Erklärung sind aus vielerlei Gründen interessant. Auf den ersten Blick stellt sie einen Affront gegen die international seit mehr als einem halben Jahrhundert unterstützte Zwei-Staaten-Lösung dar. Akteure wie die Vereinten Nationen, China oder der Vatikan, aber selbst auch enge Verbündete wie die USA oder Deutschland haben sich immer wieder teils vorbehaltlos zur Zwei-Staaten-Lösung bekannt – ob mit oder ohne praktische Auswirkung für die jeweilige Politik sei dahingestellt. Gegner wurde stets in den Bereich revanchistischer Hardliner gestellt.
Interessant ist das Abstimmungsverhalten. Denn es waren keineswegs nur die üblichen Verdächtigen aus Netanyahus Likud und seinen rechten bis rechtsextremen Koalitionspartnern, die für die Resolution stimmten. Auch die politische Mitte um Benny Gantz, bis vor kurzem noch Mitglied des Kriegskabinetts und »Bibis« stärkster innenpolitischer Gegner, stimmte für den Text. Nur zwei arabische Parteien stimmten dagegen. Die Liberalen unter dem ehemaligen Premierminister Yair Lapid blieben der Abstimmung fern. Auch Netanyahu selbst war nicht anwesend. Dennoch war das Zeichen eindeutig: Die Erklärung entspricht der Einstellung weiter Teile der israelischen Bevölkerung.
Spätestens mit dem 7. Oktober ist das ehemalige linke Friedenslager um Gruppen wie »Peace Now!« beinahe vollständig pulverisiert
Dass dem so ist, kann hingegen kaum überraschen. Spätestens mit dem 7. Oktober ist das ehemalige linke Friedenslager um Gruppen wie »Peace Now!«, die international Beachtung fanden, beinahe vollständig pulverisiert. Die Terroristen der Hamas ausgerechnet mordeten unter den Friedenswilligen ihre bevorzugten Opfer. Die Option des bereitwilligen Handausstreckens ist vom Tisch; und das breitflächig. Es gibt aus israelischer Sicht keinen Ansprechpartner, mit dem man um Frieden verhandeln könnte. Das war aber schon seit langem absehbar – spätestens seit der Zweiten Intifada –, wurde von internationalen Politikakteuren aber ignoriert. Die Knesset hatte allerdings schon in ihrer Februar-Erklärung deutlich gemacht, dass Israel es nicht dulden werde, dass gegen seinen Willen andere einen palästinensischen Staat ausrufen. Dabei beruft sie sich auf Konzepte aus der Gründungsphase des Staates. Das wird am Text deutlich.
Die interessanteste Erklärung für den Wortlaut stammt von Gideon Sa’ar, den Kopf der rechten »Neue Hoffnung«-Partei. »Fremdherrschaft westlich des Jordans darf es nicht geben«, so Sa’ar. »Jedes Gebiet, aus dem wir uns zurückziehen, wird eine Terrorzone.« Und weiter: »Wir müssen zurück zu den Vorstellungen, die Premierminister Menachem Begin von palästinensischer Autonomie hatte.« Sa’ar bezieht sich auf die Zeit vor der Unterzeichnung des israelisch-ägyptischen Friedensvertrages 1979.
Zwei Jahre zuvor hatte Begin dem US-amerikanischen Präsidenten Jimmy Carter einen 26 Punkte umfassenden Plan für die Schaffung einer Art autonomen palästinensischen Verwaltung vorgelegt. Begin ging es hier keineswegs um die Vorbereitung für die Gründung eines Palästinenserstaates. Ganz im Gegenteil war er überzeugt davon, dass es keine Aufgabe israelischer Souveränität im Westjordanland und in Gaza geben dürfe. Im Gegensatz zum Sinai, der an Ägypten zurückging. Solche territoriale Aufgabe stand für die Gebiete »Judäa, Samaria und Gaza« nie zur Debatte. Begin verwahrte sich entschieden gegen solche Pläne.
Was er jedoch anbot, war eine begrenzte Autonomie für die Bewohner der besetzten Gebiete. Ein »Verwaltungsrat« sollte sich um Bildung, religiöse Angelegenheiten, Finanzen, Transportwesen und andere Dinge kümmern. Angelegenheiten der Sicherheit und der öffentlichen Ordnung sollten hingegen von Israel geregelt werden. Jedem Einwohner der betreffenden Gebiete solle es freistehen, sich für die israelische oder für die jordanische Staatsbürgerschaft zu entschieden. Voraussetzung für all dies war alleinig die Anerkennung der israelischen Suprematie.
Jabotinsky hatte in der Logik jüdischer Pioniere gedacht. Die Siedlerbewegung interpretierte diese Logik neu und sicherte sich die mal mehr, mal weniger offene Unterstützung des Staates
Denn das hatte Begin von seinem geistigen Ziehvater Vladimir Ze’ev Jabotinsky (1880-1940) gelernt: Um die eigene Sicherheit zu gewährleisten, müsse Israel jede Hoffnung der arabischen Seite zerstören, dass die Siedler (Jabotinsky meint hier die israelische »Pionierzeit«) jemals wieder Gebiete aufgäben und weggingen. Sollten die Araber die geringste Hoffnung haben, dass Israel irgendwann aufhören könnte zu existieren, reiche diese aus für den bewaffneten Kampf. Er nannte dies einen »Eisernen Wall« zwischen den beiden Völkern. Jabotinsky meinte dies den Arabern gegenüber durchaus als Respektsbezeugung. Und so erklärt sich auch Begins vorgebliche Großzügigkeit: Sie diente vor allem dazu, einen palästinensischen Staat auszuschließen. Dann war die Gewährung von Rechten möglich, aber eben nur bis zu einem gewissen Punkt. Man muss sich vor Augen halten, dass zu diesem Zeitpunkt in den besetzten Gebieten noch Militärrecht herrschte.
Im Endeffekt lässt sich die Politik des Likud seit Begin unter dieser Brille lesen und es überrascht nicht, dass die Ideen Jabotinskys im israelischen Feuilleton gerade eine Renaissance erleben. Auch die Oslo-Abkommen hatten keinen palästinensischen Staat geschaffen, sondern mit der Autonomiebehörde und komplexesten Regularien eine Verwaltungseinheit im weiteren Sinne Begins. Noch hielt also der »Eiserne Wall«. Zumal unterdessen neue Akteure auf ihre Weise versuchten, diesen noch zu verstärken. Jabotinsky hatte in der Logik jüdischer Pioniere gedacht. Die Siedlerbewegung interpretierte diese Logik neu und sicherte sich die mal mehr, mal weniger offene Unterstützung des Staates. Das Beispiel Ariel Sharons zeigt, welche zentrale Rolle die Siedlungspolitik einnehmen kann und wie allumfassend die Siedlerbewegung diese politische Unterstützung gewinnen konnte – und wie schnell wieder verlieren. Heute kann sie sich des Wohlwollens der Politik sehr sicher sein.
Dabei ist ihre Landnahme unter einem doppelten Aspekt zu betrachten: Nämlich bei weitem nicht nur unter dem religiösen Aspekt der Rückeroberung des verheißenen Landes – das religiöse Siedlerspektrum ist ein so aktives wie radikales, aber bei weitem nicht das einzige. Die Siedlungen sind gleichzeitig Absicherung des eroberten Gebietes als auch steingewordene Mahnung an die arabische Bevölkerung, dass sie jede Hoffnung aufgeben sollte, die Siedler auch wieder loszuwerden. Ganz wie es Jabotinsky gefordert hatte. Heute leben über 750.000 Siedler in »Judäa und Samaria«.
Den zweiten Teil des Konzepts des »Eisernen Walls«, das Ziel von Verhandlungen und einer Art von Koexistenz oder Suzeränität, ignorierten die neuen Akteure aber. Stattdessen nehmen Übergriffe und Gewalt zu; radikale neue Denkschulen entstanden, die Jabotinsky weit hinter sich lassen. Egal aber, wie man die Ideen Jabotinskys beleuchtet, eines kommt darin nicht vor: ein eigenständiger palästinensischer Staat und damit eine Zwei-Staaten-Lösung.
Dazu bediente sich Netanyahu vor allem der Siedlungspolitik, die er den Palästinensern, aber auch der Weltöffentlichkeit wie eine Strafmaßnahme präsentierte
Kritiker der israelischen Palästinenserpolitik seit Oslo merken gerne an, der »Eiserne Wall« hätte Brüche bekommen. Das ist auch eine direkte Kritik an Premierminister Netanyahu. Die politische Genialität des Überlebenskünstlers Benyamin Netanyahu bestand in der langen Zeit seiner Regierung bisher darin, gleichzeitig dem Großteil seiner Wählerschaft – damit nicht zuletzt der Siedlerbewegung – zu versichern, der »Eiserne Wall« und die israelische Oberhoheit über die Gebiete würden halten – angeblich der Garant für Sicherheit und wirtschaftliche Prosperität – und im gleichen Atemzug den internationalen Partnern zu versichern, dass an einer geforderten Zwei-Staaten-Lösung gearbeitet werde. Irgendwann. Unter Bedingungen.
Dazu bediente sich Netanyahu vor allem der Siedlungspolitik, die er den Palästinensern, aber auch der Weltöffentlichkeit wie eine Strafmaßnahme präsentierte: Im Falle palästinensischer Gewalt oder negativer Entscheidungen internationaler Organisationen genehmigte die Regierung ein paar neue Siedlungen. Netanyahu zeigte damit nicht nur israelische Entscheidungsmacht, sondern ließ auch immer den Hoffnungsschimmer offen, eine genehmere Politik könne vielleicht doch irgendwann die Siedlungspolitik entscheidend ändern. Dabei war das in der Likud-Logik und im Bündnis mit den Siedlern gemäß der grundlegenden Theorie gar nicht vorgesehen. Netanyahus Politik schlug also unbewusst Lücken in genau den Wall, den Jabotinsky errichten wollte. Den »Status Quo«, den Bibi verteidigen wollte, gab es genau genommen nicht mehr.
Diese Möglichkeit zum politischen Drahtseilakt hat Netanyahu seit Mittwoch nicht mehr. Die Karten liegen offen auf dem Tisch. Das ist ein kleineres politisches Beben, als es aus internationaler Sicht aussehen mag. Denn das Ende des Status Quo ist, wie bereits gesagt, nicht erst seit letzter Woche der Fall. Seit langem bemüht sich die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) an direkten Verhandlungen vorbei internationale Anerkennung zu finden – und das sehr erfolgreich. Mit der Siedlungspolitik und zuletzt den Abraham-Abkommen tut Israel dasselbe – und auch dies bisher erfolgreich. Die Botschaft ist aber beides Mal dieselbe: Nein zur Zwei-Staaten-Lösung, wie sie international gefordert wird. Umfragen wir zuletzt jene des Demoskopie-Instituts Gallup aus dem vergangenen Herbst legen nahe, dass unter der Mehrheit der Palästinenser die Hoffnung auf deren Umsetzung im vergangenen Jahrzehnt drastisch gesunken ist.
Konservative israelische Medien interpretieren das Massaker des 7. Oktober als »Riss im Eisernen Wall«, den man sehr schnell wieder schließen müsse – durchaus auf sehr wortwörtliche Art und Weise. Doch auch dies wird Jabotinskys Traum nicht erfüllen: Denn die internationalen Reaktionen infolge des Gaza-Krieges, vor allem auch die Verurteilung durch den Internationalen Gerichtshof (ICJ), haben die Isolation Israels auf sehr klare Weise deutlich gemacht. Die Träume von einem unabhängigen Palästina sind so groß wie seit langem nicht mehr. Und sie sprechen kaum noch von einer möglichen Koexistenz mit Israel. Das von Beijing frisch ausgehandelte Übereinkommen zwischen Fatah und Hamas wird kaum zu einer Deeskalation führen. Wenigstens sind die Akteure in ihren Absichten nun weitaus ehrlicher. Die internationale Diplomatie und Politik muss erst noch beweisen, ob sie mit dieser neuen, alten Realität umgehen kann.