Wer fit und solvent genug ist, kann in Istanbul von Asien nach Europa schwimmen. In der von immenser Inflation geprägten Metropole am Wasser ist Schwimmen zu einem Luxus geworden.
Der Bosporus ist eine der am dichtesten befahrenen Wasserstraßen der Welt. Täglich passieren über hundert Schiffe die Meerenge, hinzu kommen Fähren, Wassertaxis und Privatyachten. Am letzten Sonntag im August aber ist es hier plötzlich still. Zwischen Beykoz im Norden, von Istanbuls asiatischem Ufer, und der ersten Bosporusbrücke, zehn Kilometer weiter südlich, fährt kein Schiff. Heute gehört die Wasserstraße den Schwimmern.
Der »Bosphorus Cross Continental Swim« ist eine von nur fünf Möglichkeiten weltweit, von einem Kontinent zu einem anderen zu schwimmen. Mit fast 3.000 Teilnehmenden aus 81 Ländern ist er einer der weltweit beliebtesten Wettbewerbe dieser Art. Doch in Istanbul wissen viele nicht einmal, dass er überhaupt stattfindet. Im Zentrum der Stadt geht der Fährverkehr wie gewohnt weiter, und obwohl die Schwimmstrecke 6,5 Kilometer lang ist, versammeln sich nur einige Hundert Zuschauende am Ziel im Cemil Topuzlu Parkı in Beşiktaş auf der europäischen Seite Istanbuls.
Für die Teilnehmenden ist der Tag hingegen ein Großereignis. Bereits frühmorgens füllt sich der Park mit Schwimmern, die sich schnell von ihren Familien verabschieden und dann im Athletenbereich verschwinden. Dort dehnen sich Trainingsgruppen gemeinsam; ein Fitnesstrainer gibt Aufwärmübungen vor, und das ganze Gelände summt vor Aufregung und dem Gewirr etlicher Sprachen.
Eine Frau trägt einen Badeanzug mit dem Schriftzug »Be Brave Like Ukraine«; eine andere trägt einen Badeanzug in den Farben der Türkei, und jemand hat eine Palästinaflagge mitgebracht. Anweisungen werden auf Türkisch, Englisch und Russisch gegeben. Alle Sportlerinnen und Sportler verteilen sich in Badekleidung und Wegwerfslippern ab 8 Uhr morgens auf drei Fähren, die normalerweise als Teil des öffentlichen Nahverkehrs zwischen der europäischen und der asiatischen Seite Istanbuls pendeln. Diesmal überqueren sie den Bosporus nur, um die Schwimmer zum Start auf dem gegenüberliegenden Kontinent zu bringen.
Die Decks der drei Fähren sind voll von Menschen, die letzte Dehnübungen machen oder sich auf Bänke stellen, um möglichst viel zu sehen und freudig dem Presseschiff gegenüber zuzuwinken. Vor Kanlica, einem eher beschaulichen Teil Istanbuls mit Villen aus osmanischer Zeit, warten die Wasserschutzpolizei, Rettungsboote und in der Luft ein Hubschrauber. Als der Startschuss ertönt, rennen die Athleten zum offenen Teil der Fähre und springen sofort ins Wasser. Tausende drängen aufgeregt hinterher. Da fällt kaum auf, dass am Ufer kein Publikum steht.
Schwimmen als Sport ist in Istanbul ein Luxus
In Aşiyan, ein paar Kilometer südwestlich, schaut doch jemand zu. Muhammad würde am liebsten mitschwimmen. Der 27-Jährige dreht hier seit einigen Monaten mit einer Gruppe von Männern seine Runden, die seit über dreißig Jahren regelmäßig über eine kleine, rostige Treppe ins Wasser steigen. Am Vorabend des Wettbewerbs unterhalten sich die Männer über die Veranstaltung, doch außer Muhammad ist kaum jemand so richtig informiert. Sie sind erstaunt, als er erzählt, dass ausländische Teilnehmende 550 US-Dollar Startgebühr zahlen, und spekulieren gemeinsam, wofür das Geld wohl genutzt wird. Sie selbst haben eine Teilnahme nicht einmal in Erwägung gezogen.
Für die Männer ist der Schwimmausflug eine der letzten Möglichkeiten, in einer zunehmend teurer werdenden Stadt noch etwas zu unternehmen, das kein Geld kostet. Hier am Ufer des Bosporus sprechen, schwimmen, essen und trinken Rentner und Motorradverkäufer, Fabrikbesitzer und Kuriere noch gemeinsam. Doch nicht nur die hohen Kosten, auch der Auswahlprozess für türkische Teilnehmende schreckt Muhammad ab.
»Ich könnte für so was gar nicht trainieren«, sagt er. Für den Wettbewerb müssen alle in der Türkei lebende Teilnehmenden allein für die Vorauswahl eine Gebühr von 3.000 Lira, umgerechnet knapp über 80 Euro, bezahlen. Außerdem müssen sich alle auf einer Strecke von 800 Metern erst einmal qualifizieren. Wer zu langsam ist, zahlt also die Anmeldgebühr, ohne je einen Fuß aufs Wettbewerbsgelände gesetzt zu haben. Darüber beschweren sich auch einige auf Türkisch in den Sozialen Medien.
Der Bosphorus Cross Continental Swim fand erstmals 1989 mit 68 Teilnehmenden statt und wird von dem Olympischen Komitee der Türkei am letzten Augustwochenende ausgerichtet. In diesem Jahr haben der türkische Leistungsschwimmer Doğukan Ulaç als schnellster Mann mit einer Zeit von 56:49 Minuten und seine Nationalmannschaftskollegin Su İnal mit 58:54 Minuten als schnellste Frau gewonnen.
»Für meine Schüler wäre es ein Leichtes, den Bosporus zu überqueren. Aber die Vorauswahl ist sehr viel härter geworden«, sagt der Schwimmtrainer Barış Çakır. Seine erwachsenen Schwimmerinnen und Schwimmer hätten genug Geld, um das Risiko einzugehen, sagt der frühere Leistungssportler. Viele der Jüngeren hätten sich aber gar nicht erst angemeldet. Für sie sei der Preis zu hoch und die Konkurrenz zu groß.
Überhaupt: Schwimmen als Sport ist in Istanbul ein Luxus. Die meisten Becken verstecken sich in teuren Hotelanlagen, Clubs oder an Hochschulen, wie der Boğaziçi-Universität, die sich am Hang hinter Aşiyan erstreckt. Wer dort nicht studiert, kann den Pool, wenn überhaupt, nur gegen eine hohe Gebühr nutzen. Und selbst die meisten Strandzugänge in der Stadt am Bosporus sind mittlerweile nicht mehr kostenlos betretbar.
Die Promenade von Aşiyan gehört zu den wenigen kostenlosen Möglichkeiten, in Istanbul zu schwimmen. Wer hier ins Wasser geht, braucht besonderes Talent und Erfahrung, denn die Strömung fließt an der Wasseroberfläche mit etwa sechs bis acht Knoten – umgerechnet 11 bis 14 Stundenkilometer. Schwimmt man ihr entgegen, kommt man kaum von der Stelle; lässt man sich von ihr treiben, schießt man schnell übers Ziel hinaus. Hier zu bestehen, fordert ein anderes Training als in einem Schwimmbecken, wo es eher darum geht, schnell möglichst viele Bahnen zu ziehen.
Und so stehen diejenigen, die regelmäßig im Bosporus schwimmen, am Tag des Wettbewerbs am Rand statt am Start. 2024 hat ein Polizist die Treppe ins Wasser bewacht und dafür gesorgt, dass die Zuschauer bloß nicht ins Wasser gehen, bevor der letzte Wettbewerbsteilnehmer vorbeigeschwommen ist. In diesem Jahr darf Muhammad wenigstens am Rand baden und sich kurz so fühlen, als wäre er Teil der Veranstaltung.
Viele der internationalen Teilnehmenden kennen sich mit dem Bosporus weitaus schlechter aus als Muhammad und seine Freunde. Während sie die Meerenge in- und auswendig kennen, erhalten die Wettbewerbsteilnehmer über ein YouTube-Video und – gegen Aufpreis – bei einer Bootstour Instruktionen, wie sie sich am besten im Wasser verhalten. »Haltet zuerst auf das andere Ufer zu. Wenn ihr spürt, dass das Wasser kälter wird, schwimmt geradeaus«, heißt es da. »Zwischen Bebek und Kandilli kann sich die Strömung drehen; bleibt dort möglichst in der Mitte«, erklären ehrenamtlich Helfende auf der Fähre vor dem Start auf Türkisch, Englisch und Russisch.
Auf dem breiten Bosporus verteilen sich die Schwimmer schnell, teils fühlt man sich fast allein zwischen Asien und Europa. Wer einmal in eine Gegenströmung gerät, muss eine ganze Weile gegen die Wellen ankämpfen, um wieder vor anzukommen. Da hilft die Sicht auf die anderen Schwimmer, die vor der Zielgeraden wieder dichter beieinander sind. »Die Strömung war dieses Jahr besonders schwierig«, berichtet die Jordanierin Rana Khoury hinterher. Für sie sei es bereits die dritte Wettbewerbsteilnahme, aber sie habe länger gebraucht als zuvor, erzählt sie. Selbst Spitzensportler waren diesmal fast eine Viertelstunde langsamer. Ein Schwimmer aus Russland ist in diesem Jahr gar spurlos verschwunden.
»Wenn du gut schwimmst und lachen kannst, komm her«
Viele der internationalen Schwimmer sind zum ersten Mal in den Bosporus gestiegen. Chris und Dominic Chang, Vater und Sohn aus den USA, haben gleich eine ganze Türkei-Reise um den Wettbewerb herum geplant. Der 57-jährige Chris hat schon öfter an Freiwasser Schwimmwettbewerben und Triathlons teilgenommen. Ihm erscheint das Startgeld von 550 US-Dollar gerechtfertigt. »Es ist ja auch ein einmaliges Erlebnis«, sagt er.
Obwohl der Wettbewerb international ist, wird vor allem Russisch und Türkisch gesprochen. »Einige Russinnen schauen mich peinlich berührt an«, sagt Tina Dervynska aus der Ukraine mit Hinweis auf ihren Badeanzug mit dem Schriftzug »Be Brave Like Ukraine«. Sie lebt seit 2013 in Istanbul und hat auch russische Freundinnen und Freunde hier. Ihr ist es wichtig, für ihr Heimatland Flagge zu zeigen. »Die Russen hier unterstützen den Krieg vielleicht nicht direkt, aber wenn ihr Land einen Angriffskrieg führt, sollten sie das auch spüren«, findet sie.
Muhammad, der mit seinen Schwimmfreunden vom Rand aus zusieht, floh 2016 vor dem Krieg in Syrien in die Türkei. Die Schwimmer vor Aşiyan sprechen Türkisch miteinander, unter ihnen sind auch Kurden, Menschen aus Russland oder dem Ostbalkan und manchmal auch internationale Studierende von der Universität am Hang. »Alle sind hier willkommen«, sagt einer. »Wie du abschließt, ist egal. Wenn du gut schwimmst und lachen kannst, komm her.«




