Während die Welt auf die Zerstörung Gazas und den Krieg im Libanon schaut, wird es der Kampf um diese innenpolitischen Fragen sein, der die israelische Politik in den kommenden Jahren prägen wird. Was bedeutet das für Deutschland?
Ein großer Teil der israelischen Bevölkerung befindet sich in einem anhaltenden Zustand von Trauma und Ungewissheit – von den Opfern der Terroranschläge am 7. Oktober 2023 über die Familien der Geiseln, den Reservisten im Krieg bis hin zu den vertriebenen Bewohner im Süden und Norden Israels. Ein Großteil der Bevölkerung hat das Vertrauen in die militärische und politische Führung Israels verloren. Oppositionspolitiker haben es versäumt, eine alternative Vision für Israels Zukunft zu jener von Premierminister Benjamin Netanyahu zu formulieren.
Das hat weitreichende Folgen. Eine davon ist, dass die Schaffung eines palästinensischen Staates oder ein Rückzug aus den Besetzten Gebieten auf geringe Zustimmung trifft. Der Widerstand gegen die Zweistaatenlösung ist stärker denn je, was sich im überwältigenden Parlamentsvotum gegen die Gründung eines palästinensischen Staates im Juli gezeigt hat. Schon vor dem 7. Oktober war die Idee einer politischen Lösung mit den Palästinenser für die meisten Israelis nur schwer vorstellbar. Jetzt erscheint sie unvorstellbar.
Trotz militärischer Erfolge gegen Hamas, Hizbullah und Iran befindet sich Israel in einem Abnutzungskrieg an mehreren Fronten
Viele Israelis halten die militärische Reaktion auf die Terrorattacken vom 7. Oktober für gerechtfertigt, wünschen sich jedoch ein Ende des Krieges, um die Geiseln der Hamas zu befreien. Gleichzeitig wird Netanyahu zunehmend vorgeworfen, er habe es versäumt, eine Einigung mit der Hamas zu erzielen und durch einen Rücktritt die Verantwortung für den 7. Oktober zu übernehmen. Umfragen im Juli 2024 zeigten, dass fast drei Viertel der Israelis wollen, dass Netanjahu sich aus der Politik zurückzieht.
Zudem haben Umfragen aus dem Juni gezeigt, dass viele die von US-Präsident Joe Biden vorgeschlagene Waffenstillstands- und Geiselvereinbarung unterstützen. Doch während die Geiseln weiter in Gefahr sind und die Aufmerksamkeit auf den Libanon und Iran gerichtet ist, hat Netanyahu in den vergangenen Wochen seine Macht gefestigt, seine Koalition stabilisiert und seinen Verteidigungsminister Yoav Gallant entlassen.
Israels Sicherheitsestablishment hat sich für einen Waffenstillstand ausgesprochen und kritisiert, dass Netanyahus, keinen Plan für die Zeit nach dem Konflikt in Gaza vorlegen konnte. Israels Militärexperten sind sich der prekären Situation bewusst. Denn trotz militärischer Erfolge gegen Hamas, Hizbullah und Iran befindet sich Israel in einem Abnutzungskrieg an mehreren Fronten. Das Militär braucht eine Pause. Und auch der IDF ist klar, dass der eingeschlagene Weg faktisch bereits zu einer erneuten Besetzung des Gazastreifens geführt hat.
Der Internationale Gerichtshof hat Israels Präsenz in den Besetzten palästinensischen Gebieten für illegal erklärt
Die rechtsextremen Kräfte in der Regierung drängen explizit auf den Wiederaufbau israelischer Siedlungen in Gaza. Das Militär lehnt dies entschieden ab, da es noch mehr Ressourcen erfordern würde, während Israel sich nicht nur in einer eskalierenden Auseinandersetzung mit der Hizbullah, sondern auch mit Iran befindet. Dazu kommt, dass Teheran in Reaktion auf die jüngsten Angriffe Israels auf militärische Stützpunkte am 26. Oktober Vergeltung üben könnte.
Diese Themen stehen im Zentrum der wachsenden Kluft zwischen den militärischen und politischen Ebenen, die ein ehemaliger hochrangiger Sicherheitsbeamter als »beispiellos« bezeichnet. Die Spaltung betrifft auch den Drang der Regierung, die Justiz zu schwächen, den Polizeiapparat zu politisieren und die verbleibenden demokratischen Normen in Bezug auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit zu untergraben. Während die Welt auf die Zerstörung Gazas und den Krieg im Libanon schaut, wird es der Kampf um diese innenpolitischen Fragen sein, der die israelische Politik in den kommenden Jahren prägen wird.
Angesichts der politischen Spannungen parallel zum Krieg in Gaza und im Libanon stellt sich die Frage, was Deutschland als enger Verbündeter Israels unternehmen kann. Auch wenn der Krieg seine außenpolitischen Positionen erschwert, zögert Berlin, Maßnahmen gegen das Vorgehen Israels zu ergreifen, die die Errichtung eines palästinensischen Staates direkt behindern – insbesondere die anhaltende Siedlungspolitik im Westjordanland. Der Internationale Gerichtshof hat Israels Präsenz in den Besetzten palästinensischen Gebieten für illegal erklärt, und auch das Auswärtige Amt hat bestätigt, dass die »Ungleichbehandlung zwischen israelischen Siedlern und Palästinenserinnen und Palästinensern in den Besetzten Gebieten« eine ausdrückliche Rechtsauffassung des höchsten Gerichts der Vereinten Nationen ist.
Ein starkes Signal wäre es, wenn Israels engster Verbündeter in Europa bei der Erteilung von Exportlizenzen mehr Zurückhaltung zeigen würde
Deutschland sollte diese Fragen neu betrachten: Und zwar durch den Blickwinkel auf sein Interesse an der Wahrung von demokratischen Werten und Rechtsstaatlichkeit. Deutschland muss israelischer Politik etwas entgegensetzen, wenn sie gegen die Interessen handeln. Berlin sollte deutlich machen, dass Israel durch Verstöße gegen die Grundsätze der internationalen Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts sowie durch die Schwächung der Institutionen, die diese Prinzipien schützen, auch die Werte und politischen Grundsätze untergräbt, auf denen Deutschlands Nachkriegsverpflichtungen und Staatsräson beruhen.
Als zweitgrößter Waffenlieferant Israels nach den USA sollte Deutschland seinen Einfluss gezielt nutzen, um sicherzustellen, dass diese Ausrüstung nicht für Menschenrechtsverletzungen eingesetzt wird. Berlin sollte besonders darauf achten, die Exportbestimmungen der EU strikt einzuhalten. Ein starkes Signal wäre es, wenn Israels engster Verbündeter in Europa bei der Erteilung von Exportlizenzen mehr Zurückhaltung zeigen würde.
Selbst die Vereinigten Staaten unter Präsident Biden haben in ihrer Haltung zum Verhalten Israels – wenn auch nur in geringem Maße – Bereitschaft sich zu bewegen gezeigt. Zwar ist noch unklar, wie sich Donald Trump zu Israels Krieg in Gaza oder im Libanon positionieren wird. Doch seine Anerkennung der illegalen Annexion besetzter Gebiete in den Golanhöhen und Jerusalem sowie seine allgemeine Missachtung von Rechtsstaatlichkeit und demokratischen Normen sollten ein Weckruf für Deutschland sein. Die Bundesrepublik sollte klar Position beziehen und entschlossen Maßnahmen ergreifen, um Israel in die Schranken zu weisen und damit ein starkes Signal an den Westen senden.
Mairav Zonszein ist eine israelisch-amerikanische Journalistin und leitende Analystin für Israel und Palästina bei der International Crisis Group (ICG).