Der Schock sitzt tief am Golf. Dabei geht es Katar und seinen Nachbarn nicht per se um den desaströsen Gaza-Krieg und den Angriff auf die Hamas durch Israel, sondern um das große Ganze und die eigene Sicherheit. Denn nun gilt Israel endgültig als Sicherheitsrisiko.
Katar präsentierte sich in den letzten Jahren als verlässlicher Brückenbauer in regionalen Konflikten, beherbergte nicht nur für lange Zeit die Hamas-Führung und koordinierte die Verhandlungen über einen Waffenstillstand im Gaza-Krieg, sondern nutzte seine Funktion als Vermittler, um die eigene Position zu stärken und sich vor externen Bedrohungen zu schützen. Mit seiner 360-Grad-Diplomatie, in der Gesprächskanäle zu umstrittenen Akteuren wie Hamas, den Taliban oder Iran ebenso aufrechterhalten wurden wie enge Beziehungen zu den USA oder Europa, wollte Katar seine eigene Position stärken und sich größer machen als es ist. Immerhin befindet sich das kleine Land, das in etwa so groß ist wie das Saarland und in dem nur 300.000 katarische Staatsangehörige leben, in einer Zwickmühle, eingepfercht zwischen den rivalisierenden Großmächten am Golf, Saudi-Arabien und Iran.
Immer wieder wurde Katar von außen bedroht – zuletzt während der sogenannten Golfkrise zwischen 2017 und 2021, als Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), Bahrain und Ägypten eine Luft-, See- und Landblockade gegen das Emirat einrichteten. Doch mithilfe seiner engen Partnerschaften zu den USA, die eine wichtige Militärbasis am Golf im katarischen Al-Udaid unterhalten und noch unter Ex-Präsident Joe Biden Katar zum Nicht-NATO-Alliierten ernannt hatten, sollten solche Bedrohungen abgewendet werden – Diplomatie und Netzwerkpolitik zum Selbstschutz.
Oman und sogar Saudi-Arabien könnten ein Opfer der israelischen Vergeltung werden
Der Angriff Israels auf die Hauptstadt Doha hat dieses Kalkül nicht nur schwer erschüttert, sondern das katarische Selbstbewusstsein massiv beschädigt. Das Doha-Modell, als Plattform, Partner und Problemlöser zu fungieren, steht vor dem Aus. Und damit auch das gesamtgolfarabische Geschäftsmodell. Zwar betrachten sich die mächtigen Herrscher am Golf – vor allem Kronprinz Muhammad bin Salman (MbS) in Saudi-Arabien, Muhammad bin Zayed (MbZ) in den VAE und Katars Emir Tamim bin Hamad – als Konkurrenten um Marktzugang, Macht und Markenstärke, was sich während der Golfkrise nur allzu deutlich zeigte.
Doch trotz dieser Unterschiede eint alle golfarabischen Herrscher das Ziel, das eigene Überleben zu sichern – koste es, was es wolle. Dafür setzen sie auf eine ähnliche Kombination aus wirtschaftlicher Modernisierung, Netzwerkpolitik und diversifizierten Partnerschaften. Nur so kann es ihnen gelingen, sich in einer fragilen Weltordnung zu behaupten und als attraktive Drehscheiben des Handels, technologische Innovationszentren und verlässliche Ausrichter von Großveranstaltungen wie Fußball-Weltmeisterschaften wahr- und ernstgenommen zu werden.
Doch dafür brauchen sie eine relativ stabile Region und vor allem Sicherheit des eigenen Staatsgebiets. Ersteres ist spätestens seit dem 7. Oktober 2023 nicht mehr gegeben, was die Golfstaaten besorgt, aber nicht panisch hat werden lassen. Doch zweiteres ist nach dem israelischen Angriff auf Katar fundamental bedroht. Wenn Israel es sogar wagt, mit Katar einen Verbündeten der USA anzugreifen, ohne von diesen sanktioniert zu werden, kann sich niemand mehr sicher fühlen – so die Lesart in Riad, Abu Dhabi oder Maskat. Oman, das Gespräche mit den jemenitischen Huthis führt, die immer wieder Israel angreifen, könnte nach dieser Logik kurzfristig also ebenso ins Fadenkreuz der Regierung Netanyahu geraten. Sogar Saudi-Arabien, das seine diplomatischen Beziehungen zum Erzfeind Israels, der Islamischen Republik Iran, in den letzten beiden Jahren zunehmend normalisiert hat, könnte ein Opfer der israelischen Vergeltung werden.
Auf den Sicherheitsgaranten USA ist kein Verlass mehr. Das hat der israelische Angriff auf Doha mit aller dramatischen Deutlichkeit erneut gezeigt
Auch deswegen haben alle Golfstaaten einhellig ihre Solidarität mit Katar zum Ausdruck gebracht. Dabei geht es ihnen nicht darum, dass Katar angegriffen wurde, sondern dass ein ähnliches Schicksal auch ihnen drohen könnte – und damit ihr Geschäftsmodell und ihre politische Überlebensfähigkeit in Frage gestellt würden. Deswegen setzen die Golfstaaten auf Einigkeit und wissen, dass sie sich nur gemeinsam gegen den neuen Feind Israel behaupten können.
Denn auf ihren einstigen Sicherheitsgaranten, die USA, ist kein Verlass mehr. Das hat der israelische Angriff auf Doha mit aller dramatischen Deutlichkeit erneut gezeigt. Zwar hat US-Präsident Donald Trump nicht bestätigt, über die Attacke im Vorfeld informiert worden zu sein. Doch für die Golfstaaten scheint klar, dass Israel eine solche Aktion nicht durchgeführt hätte, wenn es ernsthafte Sanktionen durch Trump fürchten würde.
Und somit hat die Reputation der USA am Golf erneut schweren Schaden genommen. Bereits 2019 war Trump in seiner ersten Amtszeit nach den von Iran orchestrierten Raketenangriffen auf zwei saudische Ölraffinerien seinem Partner in Riad nicht beigestanden, was in Saudi-Arabien als Vertrauensverlust gewertet wurde. Seitdem hat sich das Königreich schrittweise Iran zugewendet und seine Beziehungen zu China und Russland vertieft, um die Abhängigkeit von den USA zu reduzieren.
In dieser Abwägung gilt Israel spätestens nach dem Angriff auf Doha als geschäftsschädigend
Nach dem Angriff auf Katar werden alle Golfstaaten mehr denn je darüber nachdenken müssen, was die Treueschwüre und guten Geschäftsbeziehungen zu Trump wert sind, wenn sie sie nicht vor israelischen Angriffen schützen. Dementsprechend könnten sie mehr denn je auf Sanktionen und Abschreckung gegen Israel drängen und neue Partnerschaften forcieren, um ihre Sicherheit zu bewahren.
Dazu könnte auch eine stärkere Allianz mit Iran gehören, das mittlerweile im Vergleich zu Israel als kleineres Übel und berechenbarerer Unruhestifter am Golf wahrgenommen wird. Als Folge könnten neue Fronten entstehen, in der Israel als neuer Feind betrachtet wird. Diskussionen, die Beziehungen zu Israel zu reduzieren oder ganz aufzukündigen, könnten in den VAE und Bahrain, die die Abraham-Abkommen mit Israel unterzeichnet haben, an Fahrt gewinnen.
Weiterhin ist eine Normalisierung zwischen Saudi-Arabien und Israel unter den jetzigen Umständen illusorisch, würde doch das Königreich als lautstarker Unterstützer der palästinensischen Sache und der golfarabischen Einheit nicht nur sein Gesicht verlieren, sondern auch ein Sicherheitsrisiko eingehen, da die Netanyahu-Regierung mehr denn je als unverlässlicher Unruhestifter wahrgenommen wird. Immerhin agieren das Königreich und die anderen Golfstaaten als geschäftsorientierte Pragmatiker, die jegliche Deals einer interessensorientierten Kosten-Nutzen-Kalkulation unterziehen. Und in dieser Abwägung gilt Israel spätestens nach dem Angriff auf Doha als geschäftsschädigend und neuer Feind.
Sebastian Sons ist promovierter Islamwissenschaftler und arbeitet beim Forschungsinstitut CARPO zu den arabischen Golfmonarchien. Sein letztes Buch »Die neuen Herrscher am Golf und ihr Streben nach globalem Einfluss« erschien im Oktober 2023.