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Ukraine, Israel und der Nahostkonflikt

Gefunkt hat es nie

Analyse
Ukraine, Israel und der Nahostkonflikt
Präsidialamt Ukraine

Die Ukraine-Unterstützung des Westens muss oft für den Vergleich zum Gaza-Krieg herhalten. Dabei hat Kiew seine eigenen Probleme mit der Regierung Netanyahu.

Der arabisch-israelische Konflikt und die russische Aggression gegen die Ukraine fanden schon vor den Ereignissen vom 7. Oktober 2023 wiederholt im gleichen Zusammenhang Erwähnung – und werden dabei unterschiedlich gedeutet. Die heroische Verteidigung Kiews zu Beginn des Krieges und die ukrainische Gegenoffensive im Herbst 2022 nahmen viele Palästinenser als Szenario dafür, wie ein militärisch schwächeres Land einen stärkeren Feind besiegen kann. Allerdings wurde das ukrainische Beispiel häufiger in der politischen Polemik arabischer Staaten gegenüber dem Westen herangezogen: Dabei steht die ihrer Ansicht nach unfaire und ambivalente Haltung westlicher Politiker gegenüber dem Leiden der Araber im Gegensatz zum Umgang mit dem Krieg in der Ukraine.

 

Diese Beobachtung ist mittlerweile eine weitverbreitete Binsenweisheit. Der Krieg in Gaza hat der Diskussion neuen Schwung verliehen und dabei auch grundlegende Fragen aufgeworfen. Das wurde besonders deutlich, nachdem die Regierung von US-Präsident Joe Biden die Waffenanfragen der Ukraine, Israels und Taiwans in einem Verteidigungspaket zusammengefasst hatte. Orientiert sich die US-Politik entlang alter Konfliktlinien aus der Vergangenheit?

 

Der palästinensisch-israelische Konflikt im engeren Sinne ist ein Produkt der Zeit des Kalten Krieges

 

Der arabisch-israelische Konflikt im Allgemeinen und der palästinensisch-israelische Konflikt im engeren Sinne sind ein Produkt der Zeit des Kalten Krieges. Die heiße Phase dieses Konflikts begann 1947/48 vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs des britischen Empire und dem Beginns einer neuen Konfrontation zwischen westlichen Ländern und der kommunistischen Sowjetunion und ihren Satelliten. Die Rhetorik des Kalten Krieges auf beiden Seiten ließ praktisch keine Zwischentöne zu. Im Kern handelte es sich um einen systemischen Konflikt mit stabilen ideologischen Teilnehmergruppen, die die eine oder andere Seite unterstützten. Um diejenigen, die schwankten, wurde ein aktiver Propagandakrieg geführt.

 

Im Gegensatz zu vielen anderen dieser Zeit blieb der palästinensisch-israelische Konflikt auch nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems und der Auflösung der Sowjetunion im Jahr 1991 aktiv. Der Wandel des politischen Klimas in den 1990er-Jahren wirkte sich auch auf seine Dynamik aus und weckte Hoffnungen auf ein Ende durch den Nahost-Friedensprozess auf der Grundlage der Zwei-Staaten-Lösungsformel. Doch nach fast zwei Jahrzehnten der Verhandlungen, Rabin-Ermordung und Intifada, liegen diese Bemühungen am Boden.

 

Die Rückkehr des Hauptgegners des Oslo-Prozesses in den 1990er-Jahren, Benjamin Netanyahu, an die Macht in Israel Anfang 2010 fiel mit mehreren anderen geopolitischen Prozessen zusammen: dem Niedergang pseudorepublikanischer Regime in einer Reihe arabischer Länder nach dem Arabischen Frühling, dem Bürgerkrieg in Syrien und der Aufstieg islamistischer Bewegungen in diesem Zusammenhang. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 stellte der russische Präsident Wladimir Putin die unipolare Welt sowie insbesondere die US-Außenpolitik in Frage. Sieben Jahre später – als Russland bereits die Krim annektiert hatte – untermauerte Putin im Rahmen seiner Rede bei der Waldai-Konferenz diesen Gegensatz nochmals.

 

Alle Versuche Kiews, eine militärische und technische Zusammenarbeit mit dem jüdischen Staat aufzubauen, stießen auf aktiven Widerstand Moskaus

 

Somit ist der palästinensisch-israelische Konflikt ein Erbe des Kalten Krieges, während der russisch-ukrainische Krieg das Ergebnis des Versuchs Moskaus ist, seine Niederlage in der Auseinandersetzung mit dem Westen wettzumachen. Russlands neuer Kurs der Konfrontation mit den Vereinigten Staaten schürte die Ressentiments jener politischen Kräfte, die mit der Weltordnung, die aus den Ruinen der kommunistischen Welt hervorgegangen war, weiterhin unzufrieden waren. Dazu trug auch die US-Politik nach dem 11. September 2001 bei. Die Invasion des Irak im Jahr 2003 und die anhaltende Besetzung des Landes verstärkten die Kritik an den Vereinigten Staaten, auch bei Washingtons arabischen Verbündeten in der Region. Vor dem Hintergrund dieser Besatzung ist im Irak die Terrororganisation »Islamischer Staat« herangewachsen. Im Jahr 2015 kehrte Russland physisch in den Nahen Osten zurück und beteiligte sich an der Seite von Diktators Baschar Al-Assad am Bürgerkrieg in Syrien.

 

Die sowjetische Propaganda hat schon in der Vergangenheit Ukrainer als von Natur aus antisemitisch dargestellt. Gleichzeitig aber setzte man ukrainische Nationalisten, die die Unabhängigkeit der Ukraine anstrebten, mit Zionisten gleich. Typisch waren politische Karikaturen, bei denen ein Karren mit der Aufschrift »antisowjetische Propaganda« von zwei entsprechend gekleideten Männern gezogen wurde, in denen man leicht die Zerrbilder eines Ukrainers und eines Juden erkennen konnte.

 

Nachdem die Ukraine Anfang der 1990er-Jahre ihre Unabhängigkeit erklärt hatte, veränderte sich der Blick auf Israel nochmal grundlegend. Viele Ukrainer sehen vor allem ein erfolgreiches und wohlhabendes Land, Teil jener westlichen Welt, der sie sich auch zugehörig fühlen. Kiew nahm diplomatische Beziehungen zu Tel Aviv auf, das Handelsvolumen wuchs beträchtlich und auch auf kultureller und politischer Ebene tauschte man sich enger aus. Alle Versuche Kiews, eine militärische und technische Zusammenarbeit mit dem jüdischen Staat aufzubauen, stießen auf aktiven Widerstand Moskaus, das solche Verträge genau überwachte. Israel und die Vereinigten Staaten übten zudem aktiven Druck auf die Ukraine aus, sich Ende der 1990er-Jahre aus der Baubeteiligung des Atomkraftwerks in Buschehr in Iran zurückzuziehen. Die damals in Aussicht gestellte Ausfallentschädigungszahlung an Kiew blieb Washington in der Folge allerdings schuldig.

 

Das vielbeschworene israelische Projekt, die Ukraine mit einem Frühwarnsystem für die Raketenabwehr auszustatten, bleibt weiter in der Schublade

 

Nach der Besetzung und Annexion der Krim verlagerte sich die Frage der Einhaltung des Völkerrechts für die Ukraine von der theoretischen auf eine praktische Ebene. Mit der Resolution 2334 des UN-Sicherheitsrats über die Illegalität jüdischer Siedlungen in den von Israel besetzten palästinensischen Gebieten erreichten dann Ende 2016 die bilateralen Beziehungen einen Tiefpunkt. Denn als nichtständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates hatte die Ukraine für die Annahme der Resolution gestimmt. Das Votum spiegelte die offizielle Position zu diesem Aspekt des Nahostkonflikts wider. Allerdings war das Abstimmungsverhalten auch Ausdruck eines neu gewonnen Verständnis für das Thema, schließlich waren die Russen eifrig dabei, die Demografie der Krim durch Ansiedlung linientreuer Russen zu verändern.

 

Nach dem Ausbruch des Krieges mit Russland im Jahr 2022 dominierte in der Ukraine das Bild von Israel als einem Land, das seinen vielen Feinden erfolgreich entgegentritt. In der Folge wuchs auch die Hoffnung, dass Israel als westliches Land der Ukraine im Kampf gegen den Aggressor zur Seite stehen würde. Im Rahmen einer umfassenden Kampagne zur Konsolidierung der militärischen, politischen und diplomatischen Unterstützung in allen Ecken der Welt klopfte die ukrainische Führung beharrlich bei Israel an. Meistens ohne Erfolg. Die zwischen Moskau und Tel Aviv zu Syrien getroffenen Vereinbarungen machten jegliche militärische Unterstützung Israels praktisch unmöglich. Das vielbeschworene israelische Projekt, die Ukraine mit einem Frühwarnsystem für die Raketenabwehr auszustatten, bleibt weiter in der Schublade.

 

Diese Zurückhaltung Israels sorgte in den vergangenen zwei Jahren für viel Frust auf ukrainischer Seite. Eine Reihe von Zwischenfällen beeinträchtigte das Verhältnis weiter, etwa die faktische Wiedereinführung des Visaregimes zwischen den beiden Ländern. Nachdem Netanyahu in einem Interview Rüstungslieferungen mit dem Verweis eine Absage erteilt hatte, dass die Waffen in iranischen Händen landen könnten, warf die ukrainische Botschaft in Tel Aviv im Sommer 2023 der israelischen Regierung prorussische Sympathien vor.

 

Die Ukraine führt buchstäblich einen Krieg um ihre Existenz, für Israel besteht keine solche Bedrohung

 

Die Ukraine wiederum drohte damit, die Visa-Pflicht für Israelis wieder einzuführen – und das kurz vor Beginn der Wallfahrtsaison zum Grab von Rabbi Nachman von Brazlaw im ukrainischen Uman am Vorabend des jüdischen Neujahrs. Im Fall der hassidischen Pilger fanden beide Seiten schließlich eine Lösung. Dennoch war das bilaterale Verhältnis am Vorabend des 7. Oktober belastet.

 

Wolodomyr Zelensky hielt unmittelbar nach der Nachricht vom Hamas-Angriff eine emotionale Rede zur Unterstützung Israels. Dafür erntete der ukrainische Präsident auch Kritik, weil in seiner Ansprache etwa von einer Zwei-Staaten-Lösung keine Rede war. Allerdings ging es Zelensky wohl in erster Linie um ein Zeichen der Solidarität – und möglicherweise darum auszuloten, inwiefern Israel bereit war, seine Haltung gegenüber der Ukraine zu ändern. Große Wirkung in Israel entfalteten Zelenskys Worte ohnehin nicht. Und so veröffentlichte das ukrainische Außenministerium zehn Tage nach Ausbruch des Konflikts eine ausgewogenere Erklärung, in der die Ukraine ihr Engagement für eine friedliche Lösung des Nahostkonflikts bekräftigte.

 

Der Krieg in Gaza hat zweifellos die globale Aufmerksamkeit für die Ereignisse in der Ukraine verringert, die beteiligten Parteien polarisiert und zusätzliche Spannungsquellen in den Beziehungen zwischen der Ukraine und den arabischen Ländern des Nahen Ostens geschaffen. Die Bündelung der Ukraine, Israels und Taiwans in einem Hilfspaket gab der russischen Propaganda einen Anlass, diesen Umstand zur Diskreditierung der Ukraine zu nutzen. Das Kalkül einiger US-Abgeordneter, dass die Militärhilfen in dieser Form schneller durch den Kongress gehen würden, ist nicht aufgegangen.

 

Der Krieg in Gaza und der russisch-ukrainische Krieg haben unterschiedliche Ursachen, sind aber indirekt durch die Anwesenheit derselben Akteure – der Vereinigten Staaten, Russlands und Iran – miteinander verbunden. Dennoch: Ein Krieg unter Einsatz von Luftstreitkräften, Raketen und allen Arten von Waffen außer bislang Atomsprengköpfen lässt sich in militärischer Hinsicht kaum mit einem Krieg gegen eine paramilitärische Gruppe vergleichen, so gut diese auch organisiert ist. Die Ukraine führt buchstäblich einen Krieg um ihre Existenz, für Israel besteht keine solche Bedrohung. Vergleiche zwischen der Ukraine und Palästina oder der Ukraine und Israel sind eher eine polemische Technik, die dazu dient, die Position arabischer Experten in Diskussionen mit ihren westlichen Kollegen zu stärken.


Ihor Semyvolos ist Direktor des Zentrum für Nahoststudien in Kiew.

Von: 
Ihor Semyvolos

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