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Wahl zur 24. Knesset in Israel

Wie hältst du es mit Bibi?

Analyse
Wahl zur 24. Knesset in Israel
Heinrich-Böll-Stiftung Tel Aviv

Israel steht vor der vierten Wahl innerhalb von zwei Jahren. Während das Land nach seinem Impferfolg wieder hochfährt, sucht Premier Netanyahu händeringend nach politischen Partnern – und umgarnt die arabischen Israelis.

Restaurants, Geschäfte, Schulen und selbst die Tel Aviver Clubs öffnen wieder ihre Pforten: Nach einem Jahr der Corona-Beschränkungen setzt Israels Führung alles auf den Restart. Der Zeitpunkt der Lockerungen ist kein Zufall. Israel steht kurz vor der Wahl.

 

Premierminister Benjamin Netanyahu formulierte das Ziel, Israel als erstes Land der Welt aus der Corona-Krise zu führen und machte die Impfkampagne zum Hauptthema seines Wahlkampfes. Mehr als 60 Prozent der Israelis sind bereits geimpft. Damit niemand daran zweifelt, dass das Impfprogramm sein persönlicher Verdienst sei, betont der 71-jährige regelmäßig, dass er 17 Mal mit dem Vorsitzenden des Pharmakonzerns Pfizer telefonierte, um genügend Impfdosen für die Bevölkerung sicherzustellen.

 

Auf den ersten Blick scheint Bibis Plan, der das Amt des Ministerpräsidenten seit 2009 innehat, aufzugehen. Er kann sich über gute Umfragewerte freuen, denen zufolge seine rechtskonservative Likud mit 28-30 Sitzen im Parlament als stärkste Kraft vorne liegt. Hinzu kommt, dass er offenbar seinen größten Rivalen der letzten Jahre loswird. Es gilt als unsicher, ob die Partei Kachol Lavan des ehemaligen Armeechefs Benny Gantz, die bei den letzten Wahlen stärkste oder zweitstärkste Partei wurde, überhaupt den Einzug ins Parlament schafft.

 

Die Wahl zu gewinnen reicht nicht. Für die absolute Mehrheit braucht Netanyahu Koalitionspartner, doch eine Zusammenarbeit schließen immer mehr Parteien aus.

 

Um im Amt zu bleiben, muss Netanyahu allerdings eine stabile Koalition bilden, um mindestens 61 der 120 Sitze in der Knesset zu besetzen. Da ihm dies in den letzten Jahren schon nicht gelang, wird die Wahl am 23. März die vierte Wahl innerhalb von zwei Jahren sein. Die im März 2020 gebildete Koalition aus Netanyahus Likud und Gantz‘ Kachol Lavan (»Blau-Weiß«, die Farben der israelischen Fahne) zerbrach im Dezember 2020, als Netanyahu sich nicht an die Vereinbarung gehalten hatte, einen Doppelhaushalt für 2020 und 2021 zu beschließen.

 

Lediglich als stärkste Kraft hervorzugehen, wird Netanyahu also nicht reichen – er braucht Koalitionspartner. Doch die Regierungsbildung dürfte in diesem Wahlgang noch komplizierter als zuvor sein. Seine politischen Gegner gründeten neue Parteien und die größte Konkurrenz stammt nun nicht mehr aus der Mitte, sondern aus dem eigenen, dem rechten Spektrum.

 

Hinzu kommt, dass bereits einige dieser Parteien im Vorfeld eine Zusammenarbeit mit dem seit November 2019 wegen Korruption, Betrug, Untreue und illegaler Einflussnahme auf Nachrichtenportale angeklagten Regierungschef ausschlossen.

 

Als aussichtsreichster Herausforderer des Langzeit-Premiers gilt Yair Lapid. Seine liberale Mitte-Rechts-Partei Yesh Atid (»Es gibt eine Zukunft«) könnte Umfragen zufolge auf 20 Parlamentssitze kommen. Formuliertes Hauptziel Lapids, der für den Ausbau von Wohnungen und des Gesundheitssystems sowie für eine Zwei-Staaten-Lösung steht, ist die Abwahl des Netanyahus.

 

Erfolgreich dürfte ebenfalls der ehemalige Erziehungs- und Innenminister Gideon Sa’ar abschneiden, der den Likud aufgrund des Personenkults um Netanyahu verließ und im Dezember 2020 die Partei Tikwa Chadascha (»Neue Hoffnung«) gründete. Politisch liegen seine Positionen teilweise rechts von Netanyahu: Er lehnt eine Zwei-Staaten-Lösung ab und befürwortet die Siedlungspolitik und Annexion palästinensischer Gebiete im Westjordanland.

 

Mit aktuell zwölf prognostizierten Knesset-Sitzen könnte Tikwa Chadascha drittstärkste Kraft werden. Eine Zusammenarbeit mit Netanyahu ist für Sa’ar laut eigener Aussage nicht denkbar.

 

Eine Koalition mit Netanyahu hat auch Avigdor Lieberman verneint. Die nationalistische Partei Yisrael Beitenu (»Unser Haus Israel«) des ehemaligen Außen- und Verteidigungsministers kommt in Umfragen auf sieben Sitze. Lieberman erklärte, eine Zusammenarbeit mit den ultraorthodoxen Parteien zu boykottieren. Die kontinuierlichen Regelverstöße der Ultraorthodoxen gegen die Corona-Schutzmaßnahmen sorgte für viel Wut innerhalb der Bevölkerung, der Liebermann politisch Ausdruck verschafft.

 

Als unsicher gilt bisher, ob die rechte Yamina-Partei unter Naftali Bennett, die auf zehn bis elf Sitze kommen könnte, Netanyahu als Premierminister unterstützen würde. Zwar ordnet Bennett sich selbst im »Anti-Bibi«-Lager ein, verweigerte bisher jedoch ein Bekenntnis, einer Netanyahu-geführten Regierung nicht beizutreten.

 

Aller Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Durchsetzung der Corona-Beschränkungen zum Trotz kann Netanyahu wohl sicher mit der Unterstützung der orthodoxen Parteien rechnen. Doch wenn sich die Umfragewerte an der Urne bestätigen, würde der Likud selbst mit deren Stimmen keine absolute Mehrheit im Parlament erreichen.

 

Der wegen Korruption angeklagte Netanyahu kämpft mit allen Mitteln um den politischen Machterhalt und nähert sich arabischen Parteien an.

 

Für Netanyahu geht es um alles oder nichts. Um einem Gerichtsprozess zu entgehen und Immunität zu beanspruchen, muss er Premierminister bleiben. Er braucht also neue willige Partner – und zielt dabei auf eine Wählergruppe, gegen die er früher hetzte. Die arabischen Israelis machen insgesamt ein Fünftel der Gesamtbevölkerung aus, ihre Wahlbeteiligung wird auf 60 Prozent geschätzt.

 

Während er in den vergangenen Jahren noch deren Wahlbeteiligung zu senken versuchte, indem er in arabischen Kommunen Kameras in den Wahllokalen installierte, und im Juli 2018 noch ein Nationalstaatsgesetz verabschiedete, demzufolge Arabisch als offizielle Sprache neben Hebräisch keinen Platz mehr hatte, hat Netanyahu ihr politisches Potenzial nun erkannt und hält versöhnliche Reden.

 

Er besucht arabische Zentren, kündigt Investitionen und ein energischeres Vorgehen gegen die Kriminalität an. Zum ersten Mal in der Geschichte stellt der Likud einen muslimischen Araber als Kandidaten auf. Als einzige jüdische Partei wird der Likud höchstwahrscheinlich ein bis zwei Knessetsitze mit arabischen Stimmen erhalten.

 

Um die 3,25-Prozent-Hürde zu überwinden, schlossen sich 2015 vier arabische Parteien zur »Vereinten Liste« zusammen und setzen sich seitdem gemeinsam für eine vollwertige arabisch-palästinensische Identität ein. Weil die arabischen Israelis zwar einerseits politisch mitbestimmen wollen, ihre Forderungen aber teilweise dem israelischen Staatsverständnis widersprechen, sind sie traditionell in der Rolle der Opposition.

 

Die islamische Partei Ra’am unter Mansour Abbas arbeitete jedoch bereits mit Netanyahu zusammen und äußerte Ambitionen, mitregieren zu wollen, anstatt in der ewigen Opposition zu verweilen. Ra’am trennte sich vom Parteienbündnis, tritt bei dieser Wahl erstmals alleine an und setzt auf pragmatische Zusammenarbeit.

 

Bei der kommenden Wahl geht es um die Frage, ob Netanyahu eine stabile Regierung bilden kann. Wenn nicht, deutet vieles auf die fünften Neuwahlen hin.

 

Die veränderten Wahldynamiken erschweren es Beobachtern, klare Prognosen abzugeben. Einig ist man sich, dass es wohl keine Koalition aus linken und liberalen Parteien geben wird. Israels linke Parteienlandschaft ist innerhalb der letzten Jahre in der Bedeutungslosigkeit versunken. Wer früher das Kreuz bei einer der linken Parteien setzte, stimmt nun immer häufiger für die Partei, der die größten Chancen beigemessen werden, Netanyahu abzulösen – unabhängig von den Inhalten.

 

So ist die israelische Politik tatsächlich binär und die entscheidende Frage bei den Wahlen lautet: Für oder gegen Bibi? Würden sich Lapid, Sa’ar, Bennett und Lieberman auf ein Szenario mit rotierenden Premierministern einlassen und miteinander koalieren, würden sie die absolute Mehrheit der Sitze erreichen und es gäbe zum ersten Mal seit zwölf Jahren einen anderen Premierminister als Netanyahu. Diversen Beobachtern zufolge ist der Anti-Bibi-Block jedoch zu fragmentiert und die gemeinsame Agenda, Netanyahu loszuwerden, reicht nicht aus, um eine stabile Koalition zu bilden.

 

Eine mögliche Option bietet der Koalitionsvertrag zwischen Benny Gantz und Benjamin Netanyahu vom April 2020, demzufolge Gantz im November 2021 zur Mitte der Legislaturperiode die Regierungsspitze übernehmen soll. Zwar wurde das Parlament vorzeitig aufgelöst, doch sollte Netanyahu wiedergewählt werden und »Blau-Weiß« den Einzug ins Parlament schaffen, wird Gantz das Amt des Premierministers ab November sicherlich für sich beanspruchen.

 

Die entscheidende Frage lautet daher nicht, ob Bibi gewählt oder ein anderer Kandidat ihn als Premier ersetzen wird. Entscheidend ist, ob es Netanyahu gelingen wird, eine stabile Regierung mit den orthodoxen und arabischen Parteien zu bilden. Wenn nicht, wird es ein fünftes Mal Neuwahlen geben.

Von: 
Lilith Daxner

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