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Nationalstaatsgesetz in Israel

»Israels ehrlichstes Gesetz«

Analyse
Presseschau

Die Knesset verabschiedet ein Gesetz, das das Land als »Nationalstaat des jüdischen Volkes« definiert. Hat Israel nun Apartheid legalisiert? Stimmen aus den israelischen Medien und der Region in unserer Presseschau.

Am 19. Juli verabschiedete die israelische Knesset ein Grundgesetz, das Israel als allein jüdischen Staat definiert. Mit 62 zu 55 Stimmen billigten die Abgeordneten das »Nationalstaatsgesetz«, das einen verfassungsähnlichen Rang hat und von zukünftigen Regierungen kaum zu widerrufen sein wird.

 

Das Gesetz schreibt die Entwicklung jüdischer Gemeinden als »nationalen Wert« fest, entzieht Arabisch die Stellung als Amtssprache und betont den Status Jerusalems als Hauptstadt Israels. Der israelische Präsident Reuven Rivlin und der stellvertretende Generalstaatsanwalt Raz Nizri gehören zu den Amtsträgern in Israel, die vor den negativen Konsequenzen der diskriminierenden Gesetzgebung warnen.  Mit einem Bevölkerungsanteil von rund 20 Prozent stellen arabische Israelis die größte nicht-jüdische Minderheit im Land. Zu den weiteren nicht-jüdischen Minderheiten gehören Drusen, Armenier, Tscherkessen und Assyrer.

 

Haaretz

Gideon Levy, israelischer Journalist und Mit-Herausgeber der liberalen Tageszeitung Haaretz, glaubt, dass Israel mit dem neuen Nationalstaatsgesetz endlich sein »wahres Gesicht« zeige. Es sei das »Ende einer Farce«, in der Israel die Vereinbarkeit eines jüdischen und zugleich demokratischen Staatscharakters vorspielte. Indem es »auf tyrannische Weise die Rechte seiner Bürger verletzt«, übertrumpfe Israel sogar autokratische Staaten wie Polen oder Ungarn. Die Behandlung arabischer Israelis als Staatsbürger zweiter Klasse sei zu einer »permanenten Realität und zu einem untrennbaren Bestandteil des Staates und seiner Regierung« geworden.

 

Daher, so argumentiert Levy, sei das neue Nationalstaatsgesetz ein äußerst »ehrliches Gesetz«. Israel habe sich schon lange davon verabschiedet, eine egalitäre Demokratie zu sein. Das neue Gesetz bestätige diese Realität. Zugleich gehe Israel auf Konfrontationskurs, glaubt Levy: Dass das Gesetz der Boykottbewegung BDS in die Hände spiele, habe sich Israel selbst zuzuschreiben.

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The Jerusalem Post

Als eine der wenigen Stimmen in der englischsprachigen israelischen Presselandschaft verteidigt Emmanuel Navon das neue Gesetz. Zwar wurden durch die bisherigen Grundgesetze die Gewaltenteilung und Persönlichkeitsrechte bereits klar definiert. Nirgends wurde jedoch die Identität des israelischen Staates rechtlich festgeschrieben. Denn 70 Jahre nach Staatsgründung verfügt Israel noch immer über keine Verfassung – ein Zustand, an dem sich wegen unüberbrückbarer parteipolitischer Differenzen wohl in naher Zukunft auch nichts ändern wird.

 

Dies brachte bisher vor allem den Obersten Gerichtshof in die Bredouille, der die in der Knesset verabschiedeten Gesetze aufgrund von Verfassungswidrigkeiten blockieren kann. Da die israelische Unabhängigkeitserklärung, die den Staat als jüdisch definiert, eben von jenem Gericht nicht als Verfassung akzeptiert wird, waren in der Vergangenheit strittige Urteile oberster Instanz keine Seltenheit. Der Autor führt als Beispiel etwa ein Gesetz an, demnach es Juden nicht erlaubt ist, Land im Besitz von Beduinen zu kaufen, während es »Arabern« gestattet würde, Häuser auf dem Land der »Jewish Agency for Israel« zu errichten.

 

Zudem bestehe ohne klar rechtlich definierte Identität Israels die Gefahr, dass Petitionen aufgrund von »Befindlichkeiten der arabischen Minderheit« das jüdische Staatsverständnis des Landes und seiner Symbole in Frage stellen könnten. Das neue Gesetz schaffe genau hier Klarheit. Im Hinblick auf die Abschaffung der Sonderrechte für die arabische Sprache argumentiert Navon, dass man Frankreich auch nicht vorwerfe, die Stellung des Französischen als Amtssprache unterdrücke Minderheitenrechte. Das Recht auf nationale Selbstbestimmung gelte vielmehr für alle Menschen, würde aber im Falle Israels national wie international ständig in Frage gestellt.

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Kul al-Arab

Mustafa Barghuthi war 2002 Mitbegründer der Mubadara-Partei, die unter anderem auch von Edward Said unterstützt wurde und seit 2008 Mitglied in der Sozialistischen Internationale (SI) ist. In der größten arabischsprachigen Zeitung Israels, Kul Al-Arab, kritisiert der palästinensische Politiker das neue Grundgesetz scharf. Mit der Verabschiedung habe sich Israels Regierung nun auch offiziell als »schlimmstes Apartheidsregime der Menschheit« geoutet und zur Dämonisierung des Landes beigetragen.

 

Lange Zeit hätten der Autor und seine Mitstreiter vor der »rassistischen Natur« des Zionismus gewarnt, die das von den Juden erlittene Leid missbrauche und den Palästinensern ein Selbstbestimmungsrecht verwehre. Heute sei klar, dass Israel die umliegenden arabischen Staaten militärisch, wirtschaftlich und politisch beherrschen möchte. Die Regierung ziele auf eine weitere »Judaisierung« und Expansion der israelischen Grenzen ab, die laut Barghuthi bis in den Libanon und Jordanien reichen könnten. Nachdem bereits die Verlegung der US-Botschaft die quasi-Anerkennung Jerusalems als alleinige Hauptstadt zur Folge hatte, begrabe das neue Grundgesetz die Zweistaaten-Lösung endgültig.

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The Jordan Times

Als »Schritt in Richtung Faschismus« bewertet Osama Al-Sharif in der jordanischen Tageszeitung Jordan Times Israels neues Nationalstaatsgesetz. Während Israel in der Vergangenheit bemüht war, sich als demokratischer Staat zu präsentieren, ist das Land nun auf dem besten Weg, der weltweit einzige Apartheidstaat zu werden. Das Gesetz – ein »Geistesprodukt« der israelischen Ultra-Rechten – zeige den Wandel des Landes zu einem »ultra-nationalistischen und fundamentalistischen Gebilde«, das sich von den Prinzipien des Säkularismus, Sozialismus und der Multi-Ethnizität verabschiedet. Außerdem werde es, moniert Al-Sharif, die Verbindungen zwischen Israel und der größtenteils nicht-orthodoxen jüdischen Diaspora langfristig schädigen. Durch die uneingeschränkte Unterstützung seiner mächtigen Freunde – allen voran die Trump-Regierung – müsse Ministerpräsident Benjamin Netanyahu jedoch kaum Kritik fürchten.

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Al-Hayat

Als »Verbrechen mit vielen Schuldigen« betitelt Fatna Al-Dajani Israels Nationalstaatsgesetz. Sie schreibt für die pan-arabische Tageszeitung Al-Hayat, deren Redakteure größtenteils aus dem Libanon stammen. Al-Dajani beschuldigt nicht nur die israelische Regierung sowie die Trump-Regierung, ein derart unrechtmäßiges Gesetz verabschiedet zu haben. Es sei die internationale Gemeinschaft, insbesondere Europa, die tatenlos zuschaue. Sicher nicht ohne Anspielung auf die Flüchtlingssituation im Libanon spottet Al-Dajani: Europas Umgang mit Migranten und Asylsuchenden habe jegliche Hoffnung begraben, sich auf eine »universelle Moral« verlassen zu können.

 

Stattdessen setze Al-Dajani auf die internationale jüdische Gemeinschaft, die sich in zahlreichen Demonstrationen und öffentlichen Stellungnahmen vom neuen Nationalstaatsgesetz distanzierte. Die Kluft zwischen der jüdischen Diaspora und der israelischen Regierung werde weiter wachsen, prognostiziert die Autorin. Welche Optionen aber etwa liberale Lobby-Organisationen haben, tatsächlich Einfluss auf die israelische Politik zu nehmen oder gar Druck auf die Regierung Netanyahu auszuüben, kann Al-Dajani nicht beantworten.

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Von: 
zenith-Redaktion

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