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Presseschau zu den Anschlägen auf Haniyeh und Shukr

»Ein Akt der Verzweiflung«

Analyse
Links im Bild: Ismail Haniyeh im Jahr 2022. Rechts: Ein Angriff auf die libanesische Stadt Shebaa im Süden des Zedernstaats, 2024.
Links: Wikimedia Commons / Rechts: Fotografin Dana Kadouh

Wie schauen Medien und Kommentatoren im Nahen Osten auf die Anschläge gegen Fuad Shukr und Ismail Haniyeh? Ein Überblick, der vielleicht auch etwas zu Kommunikationsstrategien verrät.

Am Morgen nach der Vereidigung des neunten iranischen Präsidenten, Masoud Pezeshkian wurde Ismail Haniyeh, Chef des Hamas-Politbüros, in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch vergangene Woche getötet – vermutlich durch eine israelische Präzisionsrakete. Medienberichten zufolge hatte auch Hizbullah-Generalsekretär Nasrallah an dem Staatsakt teilnehmen wollen, sei aber von Teheran aus Gründen der Sicherheit freundschaftlich zurückgewiesen worden. Auch Fuad Shukr, ein hoher und langjähriger Hizbullah-Kommandeur, wurde am vergangenen Dienstagabend durch einen israelischen Angriff auf Beirut gemeinsam mit mehreren Familienangehörigen getötet. Seither stehen Iran und seine Verbündeten unter Zugzwang: Wie wird die Vergeltung, die Revolutionsführer Ali Khamenei schwor, ins Werk gesetzt?
 
Die Darstellungen über den Tod Haniyehs gehen stark auseinander. Das britische Fachmagazin Amwaj, das sich auf die Berichterstattung rund um Irak und Iran spezialisiert hat, nennt als mögliche Ursache für den Tod Haniyeh einen Raketen- bzw. Drohnenangriff. Diese Darstellung bekräftigte auch Khalil Hayya, ein ranghoher Hamas-Vertreter, der auf einer Pressekonferenz in Teheran sagte, dass »eine Rakete Haniyehs Aufenthaltsraum traf.« Die New York Times hingegen veröffentlichte am 1. August einen Artikel, wonach Haniyeh durch eine Bombe getötet wurde, die jemand etwa zwei Monate zuvor in dem von Revolutionsgarden streng abgesicherten Villenkomplex platziert habe. Die Times verweist auf Kontakte im US-Sicherheitsapparat. Womöglich will man in Washington und Tel Aviv Zweifel daran sähen, dass der Luftraum Iran verletzt und damit ein militärischer Angriff auf iranischem Territorium erfolgt sei. Sollte es eine Bombe gewesen sein, ließe sich dies als terroristisches Attentat, aber nicht als Kriegserklärung interpretieren – Iran könnte zurückhaltender reagieren und dabei trotzdem sein Gesicht wahren. Umso mehr beeilten sich die Revolutionswächter im übrigen, die Zweifel an einem Angriff aus der Luft zu beseitigen.
 
Haniyeh wurde vergangenen Freitag in Doha beerdigt. Tausende Menschen nahmen teil, um dem langjährigen Führer die letzte Ehre zu erweisen. Auch Vertreter der Hamas, Fatah und dem Islamischen Jihad nahmen an der Trauerfeier gemeinsam Anteil und zeigten vermeintliche Geschlossenheit. Nicht so Mahmoud Abbas, Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde, – der die Ermordung Haniyehs zwar scharf verurteilte – und Doha dennoch fernblieb. Er hätte wohl damit rechnen müssen, dass Israel ihn andernfalls nie wieder in die Westbank – zu seinem Amtssitz in Ramallah – hätte einreisen lassen. »Sein Blut«, so der stellvertretende aus Gaza stammende Hamas-Anführer Khalil Hayya, der das Totengebet hielt, »wird den Sieg bringen.« In der Bewertung Haniyehs Tod scheiden sich die Geister.
 
Katar – »Verzweiflung und militärisches Versagen«
 
Der palästinensisch-amerikanische Journalist Ramzy Baroud betitelte die Tötung Haniyehs in der katarischen Zeitung Qatar Tribune als »Akt der schieren Verzweiflung«. Der Krieg gegen die Palästinenser in Gaza sei gescheitert, und der Kampf gegen die Hizbullah eine strategische Patt-Situation. Israel gehe es, so Baroud, vor allem darum, einen großangelegten Krieg im Nahen Osten anzufachen.
 
Mit dem Doppelschlag gegen Haniyeh und Shukr stehe die »Achse des Widerstandes« aus Iran und mehrheitlich schiitischen Gruppen in der Region vor der Herausforderung, ebenso maßvoll wie auch stark zu reagieren – ohne Israel das zu geben, was es wolle. Baroud meint, Iran und die Hizbullah seien jedoch genau dazu fähig.
 
Libanon – »Scheitern der amerikanischen Diplomatie«
 
Anlässlich der Beerdigung Shukrs am 1. August sprach Hassan Nasrallah bereits von einem »offenen Krieg«, der im Gange sei. Die Hizbullah eruiere derzeit eine angemessene Reaktion:  Man werde »mit Wut ebenso wie mit Weisheit entgegnen«, erklärte Nasrallah, ohne Rückschlüsse über die Art des Gegenangriffs zuzulassen. Shukrs Tochter, Khadija Fouad Shukr, trat im Hizbullah-eigenen  TV-Kanal Al-Manar auf und erklärte, Israel werde »durch Sayyed Mohsens Märtyrertod keine Ruhe finden, genauso wenig wie ihr ruhen konntet, als er lebte.« Sayyed Mohsen oder auch »Al-Haj Mohsen«, wie Fouad Shukr innerhalb der Hizbullah genannt wurde, war eine wichtige Stütze Nasrallahs und ein Veteran der militärischen Organisation der Parteimiliz. Nasrallah nutzte den Anlass, um abermals zu beteuern, dass die Hizbullah mit dem Angriff auf Majdal Shams nichts zu tun habe – vielmehr handele es sich um ein Versagen des israelischen Militärs. Vor wenigen Tagen wurden in Majdal Shams, einer drusischen Stadt in den Golanhöhen, zwölf Kinder auf einem Fußballfeld getötet. Zweifelsfrei geklärt ist noch nicht ob es sich bei dem Geschoss um eine womöglich fehlgeleitete Hizbullah-Rakete oder eine abgestürzte israelische Abwehrrakete handelte.

Die Tötung von Fouad Shukr, so schreibt die zweitgrößte libanesische Zeitung Al-Akhbar, zeige vor allem das Scheitern der amerikanischen Diplomatie. Die Zeitung, die oft Hizbullah-freundliche Positionen vertritt, greift den US-Gesandten und Unterhändler Amos Hochstein an: Nach dem Angriff auf Majdal Shams habe der Diplomat der libanesischen Seite versichert, dass ein Gegenschlag nicht im Stadtgebiet von Beirut erfolgen würde. Hochstein wurde zuletzt vermehrt von libanesischen Medien und Politikern kritisiert.

In seiner zweiten Rede seit der Tötung Shukrs versuchte Hassan Nasrallah am Dienstagnachmittag offenbar, Verständnis der libanesischen Gesellschaft für seine Haltung zu finden. Diese benötigt nicht nur dringend die Deviseneinnahmen des Sommers, sondern fürchtet neben Luftangriffen auch eine israelische Bodeninvasion. »Die Libanesen und Libanesinnen müssen das Ausmaß der Gefahr für Region verstehen und einen den Sieg des Feindes fürchten.« Israel könne jederzeit auch ohne Vorwand einen Krieg anzetteln. »Für Diplomatie gibt es keinen Raum mehr«, erklärte Nasrallah und widersprach damit westlichen und arabischen Vertretern, die erklärten hatte, dass intensiv im Hintergrund verhandelt werde.

 

Iran – »eine viereckige Operation«
 
Während Vertreter des Regimes und der Streitkräfte Rache schworen, berief sich In Teheran der neue iranische Präsident Masoud Pezeshkian auf das Völkerrrecht. Die Tötung Haniyehs sei ein eklatanter Verstoß dagegen. Nach dem Treffen mit dem russischen Vertreter Sergei Shoigu gab er laut der iranischen Nachrichtenagentur Tasnim in einer Pressekonferenz bekannt, die Islamische Republik Iran sei an einer Ausweitung des Krieges nicht interessiert. Tasnim wurde 2012 unter anderen von Hamidreza Moghaddamfar gegründet – ein ehemals hochrangiger Offizier der Revolutionsgarde – und gilt als Sprachrohr der Streitmacht. In der Pressekonferenz sagte Pezeshkian, eine »Reaktion an das zionistische Regime« sei jedoch garantiert.
 
Die Einladung Shoigus – der russische General war bis Mitte Mai noch Verteidigungsminister und dient seither als Sekretär des russischen Sicherheitsrates – war nicht nur symbolischer Natur: Auch soll es laut New York Times um die Lieferung russischer militärischer Waffen gegangen sein, um insbesondere die iranische Luftverteidigung zu stärken. Wie in Israel auch ist man sich in Teheran der Risiken eines offenen Krieges bewusst und setzt zur Abschreckung offenbar auch auf verbündete Sicherheitspartner. Die Redaktion der iranischen Nachrichtenagentur Defa (Persisch für »Verteidigung«) mutmaßte am 4. August, dass die iranische Vergeltung eine »viereckige Operation« sein werde – und spielten damit auf ein mögliches Zusammenspiel von Teheran, irakischen Milizen, der Hizbullah und den Houthis an, die gemeinsam die Achse des Widerstands bilden. Die Agentur, die an die reguläre iranische Armee angebunden ist, meint: Die Hizbullah wird, anders als im April 2024, Teil der iranischen Vergeltung sein.
 
Israel – »Emanzipation des jüdischen Staates«
 
In israelischen Medien wird der israelischen Doppelschlags auf Shukr und Haniyeh von letzter Woche unterschiedlich gedeutet. So fasst der linksliberale Haaretz-Journalist Amos Harel zusammen: »Die Chancen für ein erfolgreiches Geiselabkommen belaufen sich damit auf praktisch null.« Bestätigt wird dies laut Haaretz auch durch israelische Unterhändler, die Netanyahus Desinteresse an einem Deal bezeugten. Von dem Ziel, die Hamas vollständig zu eliminieren, weicht zumindest Premierminister Netanyahu nicht ab. Diese Woche hat die israelische Armee die Tötung des Hamas-Kommandeurs Mohammed Deif bestätigt. Weiterhin wird es darum gehen, Yahya Sinwar, ehemaliger Leiter des Politbüros in Gaza und seit Dienstagabend offizieller Nachfolger Haniyhes, auszuschalten. Für den prominenten israelischen Friedensaktivisten und ehemaligen Unterhändler Gershon Baskin ist klar: »Weder spielt es für Netanyahu eine Rolle, wie viele Palästinenser dafür getötet – noch wie viele Geiseln dafür geopfert werden.«
 
Für Alon Ben David, Journalist beim israelischen Tagesblatt Maariv, steht hingegen fest: Die Tötung Haniyehs habe ihren Preis – sei aber für das Überleben Israels entscheidend. Ben David fordert weiterhin die politische, zivile und militärische Vernichtung der Hamas – »ansonsten wird der Schlag gegen Haniyeh als unbedeutende Operation verklingen.« Anders sieht dies der Netanyahu nahestehende Journalist Amit Segal: Er meint: Mit der Tötung Deifs und Haniyehs habe man die Schlagkraft der Hamas um 20 Jahre zurückgesetzt. In der strategischen Bewertung von Haniyehs Ermordung ist sich das rechte Lager uneinig – laut dem israelischen Journalisten David Weinberg steht sie für eine sicherheitspolitische Emanzipation des jüdischen Staates. Emanzipation in dem Sinne, dass man die amerikanische Forderung, den Krieg nicht weiter zu eskalieren, gekonnt ignoriert habe.
 
In der israelischen Armee kursieren für den Fall einer iranischen Reaktion Kriegsszenarien, die von einem Stromausfall in verschiedenen Städten für ganze drei Tage sprechen, auch die Wasserversorgung wird laut dem Dokument nicht zu garantieren sein. 40 Prozent der israelischen Gesellschaft werden nicht arbeiten können, und im Süden des Landes werden ganze Zeltstädte aufgebaut werden müssen. Trotzdem versichern israelische Militärs gegenüber der Times of Israel: »Die Realität auf der anderen Seite wird etlich schlimmer sein.«
 
Türkei – »Iran ist nicht einmal mehr für den iranischen Staat selbst sicher.«
 
Bereits nach dem Tod von zwölf drusischen Kindern in Majdal Shams infolge eines mutmaßlichen Raketeneinschlags und der israelischen Ankündigung, man werde Vergeltung suchen, meldete sich Präsident Tayyip Erdogan wieder lauter zu Wort. Er drohte Israel, die Türkei könne aktiv in den Konflikt eingreifen. Während der israelische Außenminister Katz gegenüber Erdogan in einer darauffolgenden Twitterfehde warnte, er könne »enden wie Saddam Hussein«, verglich dieser Netanyahu mit Hitler. Dies hatte der türkische Staatspräsident laut türkischen Medien zum ersten Mal im Dezember 2023 öffentlich getan.
 
Die Türkei hat selbst Dutzende Drohnenangriffe auf politische und militärische Gegner im Ausland geflogen, insbesondere gegen die als Terrororganisation verfolgte Kurdische Arbeiterpartei PKK. Der israelische Angriff auf Haniyeh sorgte dennoch für heftige Reaktionen: Abdulkadir Selvi, Journalist für das türkischen Blatt Hürriyet, schreibt, dass Netanyahu »den ersten Schritt gemacht habe, Iran einen Krieg zu ziehen.« Die einst stramm kemalistische Hürriyet ist eine der auflagenstärksten Zeitungen der Türkei, und ist seit der Übernahme von dem Medienunternehmen Demirören Holding im Jahr 2018 eher bekannt dafür, regierungsnahe Positionen zu vertreten. Selvi weist auf die iranische Blamage hin: »Iran ist nicht einmal mehr für den iranischen Staat selbst sicher.« Sowohl der Mossad wie auch die CIA seien tief in den Iran eingedrungen – wohingegen die Türkei aktiv gegen Mossad-Zellen vorgeht. So erklärt sich Selvi auch, dass Haniyeh im April ohne Probleme in die Türkei ein- und ausreisen konnte.
 
Kurz nach dem Tod Haniyehs hat Erdogan einen Trauertag eingeläutet – Tausende sind in Istanbul, aber auch anderen türkischen Städten wie zum Beispiel Diyarbakir auf die Straßen gezogen und haben ihre Solidarität mit Palästina und der Hamas bekundet. Des Weiteren bezichtigt die türkische Regierung die Social-Media-Plattform Instagram der Zensur von Posts zu Haniyehs Tötung – seit dem Wochenende ist Instagram daher in der Türkei gesperrt.

Von: 
zenith-Redaktion

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