Versöhnen statt spalten? Der neue irakische Premier will Rechtsstaatlichkeit stärken und alle Volksgruppen gleichbehandeln. Aber diejenigen, die für ihn den »Islamischen Staat« bekämpfen, führen womöglich anderes im Schilde.
Es ist eine Mahnung, die Haider Al-Abadi auch nach den Anschlägen von Paris Anfang Januar 2015 hätte aussprechen können: »Gewalttäter gibt es in jedem Land und in jeder Religion, aber diese Zugehörigkeiten sollte man nicht für die Verbrechen und das Fehlverhalten Einzelner verantwortlich machen.« In seiner Heimat predigt der irakische Premier diese Botschaft seit seinem Amtsantritt im September 2014. Gezielt versucht Abadi, in einer verängstigten Gesellschaft für gegenseitiges Vertrauen zu werben.
Staatliche Ausgrenzung und Repression, die dem Terrorismus im Irak den Boden bereitet haben, müssten beendet werden. Stattdessen verspricht der neue Premier allen Bevölkerungsgruppen »gleiche Bürgerrechte«. Der Irak solle ein »Ort der Koexistenz von Religionen, Nationalitäten und Bekenntnissen« bleiben. Mit seiner Aussöhnungspolitik weckt Abadi die Hoffnung auf eine überparteiliche Staatsmacht, die Recht und Ordnung für alle Iraker garantiert – gerade auch für diejenigen, die anscheinend mit den Kämpfern der Terrorgruppe »Islamischer Staat« (IS) sympathisieren.
So weit, so gut. Doch so sinnvoll demokratische Prinzipien als Waffe gegen den Terror erscheinen, so schwierig wird es nach all der Gewalt im Irak sein, das nötige Vertrauen in die Neutralität des Staates aufzubauen. Insbesondere für viele Sunniten kommen die Worte von Abadi einem unerfüllten Versprechen gleich. Denn über das ganze Jahr 2013 hinweg hatten Tausende gegen die Diskriminierung ihrer Bevölkerungsgruppe als angebliche »Terroristen« oder »Baathisten« demonstriert. Nationale Verbrüderungsschwüre wurden damals durch das brutale Vorgehen der schiitisch dominierten Sicherheitskräfte konterkariert. Anstatt die Lage zu entschärfen, trieben die Repressionen viele Sunniten schließlich in die Arme von IS.
Ebenso aufgeheizt ist das Klima in der schiitischen Gemeinschaft, in der Viele kein Verständnis für eine Aussöhnung mit den Sunniten aufbringen: »Die Sunniten haben 1.400 Jahre regiert und jetzt ist unsere Zeit«, ärgert sich ein Mann aus der Schiitenhochburg Sadr City, einem Vorort von Bagdad. Viele Uneinsichtige unterstützten daher auch den harten Kurs von Abadis Vorgänger Nuri al-Maliki. Selbst nachdem sich immer mehr Sunniten im Frühjahr 2014 hinter die IS-Gotteskrieger stellten, feierten Schiiten ihren autoritären Premier weiterhin als »weisen und großen Führer«. Mit seiner kämpferischen Haltung und Parolen wie »Blut für Blut« gelang Maliki im April 2014 sogar noch einmal ein beachtlicher Erfolg bei der Parlamentswahl.
Letztlich bedurfte es der schockierenden Einnahme von Mosul im Juni 2014, um die schiitischen Politiker von der Notwendigkeit eines Kurswechsels zu überzeugen. Haider al-Abadi, der viele Jahre als Geschäftsmann im Londoner Exil arbeitete, soll nun die Wende bringen und Sunniten und Schiiten zum Wohle des Landes zusammenführen. Dabei setzt er bislang konsequent auf eine demokratische Politik. Der ruhig und bescheiden auftretende Abadi hat Schiiten, Kurden und Sunniten in einer Allparteienkoalition vereint.
Vor allem aber: Anstatt wie Maliki die Staatsmacht auf die eigene Person zu konzentrieren und über persönliche Netzwerke Loyalität zu sichern, regiert Abadi rechtskonform. Die Kompetenzen seines Amtes werden in einer Geschäftsordnung neu festgelegt, nicht-konstitutionelle Strukturen wie das mächtige »Büro des Oberkommandeurs« aufgelöst. Die Ernennung neuer Beamter ist wieder Sache des Parlaments, dessen Kontrollfunktion insgesamt gestärkt wurde.
Doch seit der Ausrufung des IS-Kalifats ist es mit der neuen Zusammenarbeit der Parteien in Bagdad nicht getan. Abadi muss nun im sunnitischen Nordwesten Krieg führen und die ansässige Bevölkerung davon überzeugen, dass seine Regierung auch ihre Rechte schützt und ihre Interessen befördert. Angesichts der massiven Verstöße, die sich Polizei und Militär in der Vergangenheit geleistet haben, verspricht der Premier null Toleranz bei Menschenrechtsverstößen. In der Praxis kann der Premier seiner Ankündigung aber kaum Taten Folgen lassen.
Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch verlangen nach wie vor die Untersuchung einer Serie von Kriegsverbrechen, die sich auch nach Beginn von Abadis Amtszeit ereigneten. Die Übergriffe auf Sunniten stellen Haider al-Abadi vor einen handfesten Interessenkonflikt. Er weiß, dass er gegen schiitische Freiwillige ermitteln müsste, denen sein Land die ersten militärischen Erfolge gegen IS verdankt. Milizen wie Kata’ib Hizbullah und die Badr-Verbände stoppten im Juni 2014 den Vormarsch der Dschihadisten auf Bagdad.
Dass im Südirak Stabilität herrscht und sich im Dezember 2014 sogar 17 Millionen Gläubige in Kerbala friedlich zum Gedenkfest Arba’in versammeln konnten, ist ihr Verdienst. Wie politisch unangreifbar die von Iran unterstützten »Friedensbrigaden« mittlerweile sind, wurde deutlich, als das Parlament im Oktober 2014 Mohammed Salem al-Ghabban zum Innen- und Polizeiminister wählte.
Lässt sich Terror mit demokratischen Zugeständnissen bekämpfen? Oder gibt man dadurch den Aufständischen Recht?
Ghabban gehört zur Führungsriege der Badr-Organisation. Für die irakischen Sunniten hält das Sicherheitsprimat der neuen Regierung dennoch Positives bereit. So setzt sich Abadi für die Bildung einer neuen Nationalgarde ein, die den Sunniten eigene Verbände in Aussicht stellt. Obwohl schiitische und kurdische Parlamentarier Vorbehalte gegen das Projekt hegen, hat der Premier bereits eine Reihe sunnitischer Scheichs konsultiert und die Bildung von Freiwilligenverbänden abgesegnet.
Vor allem aber mit der Reform des Militärs möchte Abadi seine überparteiliche Haltung unter Beweis stellen. Die irakische Armee, so eine verbreitete Klage der sunnitischen Demonstranten von 2013, bestehe aus »konfessionellen Milizen« und korrupten Offizieren. Entsprechend positiv wurden Abadis drastische Änderungen aufgenommen: Allein im Monat seines Amtsantritts, im September 2014, feuerte er 132 Kommandeure; in den nächsten beiden Monaten folgten weitere 180 Offiziere. Ende November wurde zudem eine Personalzählung offengelegt, die 50.000 Karteileichen zutage förderte. Der Premier verkündete, fortan hätten im Militär Kompetenz, Effizienz und Integrität Priorität – und nicht die Parteizugehörigkeit.
Musterbeispiel für den neuen Kurs ist die Ernennung Khalid al-Obeidis zum Verteidigungsminister, eines sunnitischen Offiziers aus der Armee von Ex-Diktator Saddam Hussein. Für die Streitkräfte sei nun klar, dass »die Konfession im irakischen Militär künftig nichts mehr bedeutet«, zeigte sich ein Mitarbeiter des Ministeriums gegenüber dem Sender Al-Jazeera überzeugt. Auf den Straßen der Hauptstadt sind hingegen skeptische Stimmen zu hören: Die Einbindung sunnitischer Politiker sei nur »eine Frage gemeinsamer Interessen und keine echte Übereinkunft«, glaubt ein Bewohner des sunnitischen Bezirks Mansour.
Tatsächlich bleibt fraglich, ob Haider al-Abadi genügend Schritte in Richtung Aussöhnung gehen kann. Denn für den politischen Durchbruch benötigt er vor allem die Unterstützung der eigenen Dawa-Partei, in der sein Vorgänger Maliki weiterhin viele Fäden zieht. Auch die übrigen Koalitionsparteien sind für Zugeständnisse keineswegs offen. Viele lehnen eine Lockerung der Antiterrorgesetze und der Beschränkungen für ehemalige Mitglieder der Baath-Partei strikt ab, die sich in der Praxis vor allem gegen Sunniten richten. Zu groß ist die Angst, durch eine Gleichbehandlung der Sunniten auch den Terroristen in ihren Reihen größeren Spielraum zu gewähren.
Will Abadi seine Vorstellung von einem neutralen Staat wirklich umsetzen, steht ihm noch viel Überzeugungsarbeit bevor. Doch trotz aller Zweifel hat der neue Premier bereits gezeigt, dass er mit seinem kooperativen Stil breite Bündnisse schmieden kann. Schon damit hebt er sich wohltuend von seinem Vorgänger ab. Dass Abadi darüber hinaus ungeachtet aller Wunden aus den Zeiten von Diktatur und Bürgerkrieg für Aussöhnung eintritt, eröffnet dem Irak immerhin eine Friedensperspektive. Und für die Mörderbanden von IS könnte Abadis Verweigerung von Misstrauen und Ausgrenzung zu einer politischen Herausforderung werden.
Dr. Hauke Feickert forscht zur amerikanischen Außenpolitik im Nahen Osten und publiziert regelmäßig zur Geschichte und Politik des Irak. Zuletzt war er als Lehrbeauftragter am Centrum für Nah- und Mitteloststudien in Marburg tätig. 2012 erschien seine Analyse »Westliche Interventionen im Irak« im Verlag VS-Springer.