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Afghanistan an der Urne

Hoffen auf die moralische Wende

Feature

Afghanistans Wähler strömen an die Urnen – nicht weil einer der Kandidaten die Massen begeistert, sondern weil die Menschen auf einen Wandel der politischen Kultur drängen. Teil 1 des Wahltagebuchs von Martin Gerner aus Afghanistan.

Afghanistan wählt. Nach 13 Jahren endet in wenigen Wochen die Ära Karzai. Seit 7 Uhr heute früh haben die Wahllokale geöffnet. Der Enthusiasmus der Menschen, die vor vielen Moscheen und amtlichen Gebäuden Schlange stehen, erinnert mich an 2004, als erstmals nach den Taliban ein neuer Präsident gewählt wurde. Im Rückblick hat sich etwas Entscheidendes verändert über die Jahre: Die Menschen strahlen ein gesundes Misstrauen aus gegenüber jenen, die sie regieren.

 

Jeder weiß, dass auch diesmal mit Betrug zu rechnen ist. Es gibt deutlich mehr Wahlkarten als Wähler zum Beispiel, die Mehrheit der zugelassenen Wahlbeobachter sind parteigebunden und nicht unabhängig, Präsidentschaftskandidaten haben Geldbündel verteilen lassen, damit ihnen möglichst viele Menschen zujubeln. Die Liste ließe sich fortsetzen. Sie macht diese Wahl zu keiner fairen und freien. Aber das hat seit 2004, dem ersten Urnengang, auch niemand erwartet, der sich ernsthaft mit dem Land auseinandersetzt.

 

In vieler Hinsicht – man denkt an Russland – kann man sich sogar ein Beispiel nehmen. Man kann etwa umgekehrt sagen, dass es eine Reihe von Anzeichen gibt, die für eine gewachsene kritische Öffentlichkeit sprechen bei diesem politisch überaus umkämpften Urnengang. An erster Stelle sind dabei die Medien zu nennen und eine große Anzahl von Organisationen der afghanischen Zivilgesellschaft.

 

Jede auf ihre Weise versucht diesmal Mechanismen zu finden, mögliche Fälschungen öffentlich zu machen, wenn man sie schon nicht verhindern kann. Pajhwok zum Beispiel, die landesweit größte Nachrichtenagentur, hat eine dreisprachige Website ins Leben gerufen, auf der sie alle Wähler einlädt, über die sozialen Medien von Unregelmäßigkeiten am Wahltag und beim Prozess der Stimmauszählung zu berichten.

 

Afghanistan wird immer so stark sein auch, wie wir selbst uns zutrauen, es unabhängig zu denken

 

So erhofft man sich einen gewissen abschreckenden Effekt für die Präsidentschaftswahlen und auch für die Wahlen zu den Provinzräten, die parallel stattfinden. Wichtiger vielleicht noch: Es geht um eine neue Kultur, die politische Klasse rechenschaftspflichtig zu machen. In den vergangenen Jahren hat es das System Karzai von Jahr zu Jahr mehr es an konkretem Handeln gegen Korruption fehlen lassen und ist stattdessen zu einer viel kritisierten Selbstbedienungsmentalität übergegangen.

 

Vermutlich erklärt dies, warum so viel Wähler mit Elan ihre Stimme an der Urne abgeben. Es ist nicht weniger als die Hoffnung auf eine gewisse moralische Wende, eine Haltung, die in ihrem Anspruch nicht ganz unähnlich jener ist, die wir selbst bei Wahlen in unseren Breitengraden kennen. Dabei ist vielen Afghanen bewusst, dass es um das kleinere Übel geht. Alle der drei Top-Kandidaten versprechen Veränderungen, alle drei Favoriten haben aber auch unter Karzai früher oder später gedient.

 

Mit entscheidend wird auch sein – Stichwort politische Kultur – ob der oder die Verlierer ihre Niederlage akzeptieren. Der Ruf nach Betrug wird reflexartig ertönen, kaum dass die ersten Prognosen da sind, so ist zu vermuten. Was dann folgt, ist auch ein Lackmus-Test auf die erheblichen ethnischen Vorbehalte, die quer durch die Wahlkampfteams gehen. Sobald es ein starker Kandidat aber schafft, diese glaubhaft in den Griff zu bekommen, kann auch die afghanische Geschichte im Sinne der geplanten Legislaturperiode weitergehen.

 

Afghanistan wird dabei immer so stark sein auch, wie wir selbst uns zutrauen, es unabhängig zu denken. Wenn, was gut möglich ist, die Wahlbeteiligung am Ende des Tages bei 60 bis 75 Prozent liegt, wäre das mehr als für gewöhnlich in den USA. Das letzte Mal, bemerkt dazu ein amerikanisches Leitmedium, dass die Vereinigten Staaten eine Wahlbeteiligung von über 70 bei den Präsidentschaftswahlen hatten, war im Jahr 1900.

Von: 
Martin Gerner

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