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Demonstrationen im Gezi-Park in Istanbul

Einigkeit und Recht und Freiheit

Analyse

Die nationalistische Opposition und Premier Erdogan bemühen sich kaum um die Beruhigung der Lage in der Türkei. Für Deeskalation könnte nun ein Politiker sorgen, der von Anfang an an der Seite der Demonstranten im Gezi-Park stand.

Neu und in der türkischen Geschichte bisher ungesehen ist nicht nur die Größe der Protestbewegung, sondern auch die politische Durchmischung der Protestierenden. Noch scheinen alle am selben Strang zu ziehen, doch es bleibt ein Pulverfass, auf dem die Demonstranten sitzen. Immer wieder wird auf Plakaten, Websites und Tweets dazu aufgerufen, entgegen aller Gegensätze zusammenzuhalten und ethnische, religiöse, sexuelle und politische Konflikte außen vor zu lassen. Denn sollte sich die Solidarität der zahlreichen politischen und gesellschaftlichen Fraktionen, die hier gemeinsam gegen Erdogan auf die Straße gehen, nicht länger aufrechterhalten lassen, könnte es schnell sehr ungemütlich werden. Auf vielen Straßen wird lautstark Recep Tayyip Erdogans Rücktritt gefordert.

 

Die Polizei reagiert mit dem massiven Einsatz von Wasserwerfern, Tränengas, Gummiknüppeln und -geschossen. Vereinzelt soll Berichten zufolge auch scharfe Munition eingesetzt worden sein. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International spricht von weit über tausend Verletzten und mindestens zwei Toten allein in Istanbul. In Izmir und Ankara befänden sich jeweils über vierhundert Menschen in medizinischer Behandlung. Überall sind freiwillige Ärzte und Helfer im Einsatz. Genauere Angaben über den genauen Umfang der Proteste und ihre Opfer sind derzeit nicht zu bekommen, offizielle Stellen geben hierzu keinerlei Informationen bekannt.

 

»Wie eine Zeitbombe«

 

Die Stadtplanerin Evrim Yilmaz ist seit Beginn der Proteste im Park dabei und seit langem Mitglied der Widerstandsplattform für den Erhalt des Taksim-Platzes als öffentlicher Raum. Sie ist von der Entwicklung überrascht: »Ich hätte niemals gedacht, dass es so kommen würde. Ich dachte, dies sei lediglich noch einer dieser städtebaulichen Konflikte.« Anfangs seien sie nur 20-30 Leute gewesen. Doch die massiven Eingriffe der Politik in die Privatsphäre der Menschen habe immer mehr mobilisiert. Schon die gewaltsame Unterdrückung der traditionellen 1. Mai-Demonstration habe die Menschen auf die Barrikaden gebracht. In Kombination mit Erdogans Plänen, den Taksim ganz für die Öffentlichkeit zu schließen, »war es wie eine Zeitbombe – und nun ist sie explodiert«, berichtet die Istanbulerin mitten aus dem Geschehen per Handy.

 

Der Politikwissenschaftler Doğan Çetinkaya von der Istanbul Üniversitesi sieht in der »Gezi-Parki«-Bewegung einen Aufstand der Mittelklasse. »Weder der Staat noch die Protestierenden hatten dies erwartet«, teilt er dem unabhängigen Nachrichtenportal Bianet mit. Çetinkaya vergleicht die türkischen Proteste mit Ägypten und verweist auf die politische Natur der Demonstrationen. »Hier geht es nicht um soziale Fragen wie in Griechenland, auch wenn es sicher eine soziale Komponente gibt« Hauptsächlich werde hier aber um politische Rechte und Freiheiten gekämpft. Und so sei es momentan möglich, dass »Atatürks Soldaten« mit »Hoch lebe Öcalan«-Rufern »Schulter an Schulter gegen den Faschismus« kämpfen.

 

Aufstand der Mittelschicht

 

Yilmaz und Çetinkaya repräsentieren das Herzstück der Bewegung: die parteipolitisch ungebundene, säkular denkende urbane Mittelschicht, deren Lebensqualität durch die islamisch-orientierten Reformen der letzten Zeit massiv gelitten hat. Diesen Menschen geht es zu weit, dass sich die AKP immer mehr in ihre Privatsphäre einmischt und vorschreibt, ob sie Alkohol trinken dürften oder wie viele Kinder sie haben sollten. Der unbewilligte Abriss des Gezi-Parkes und die Ankündigung des Ministerpräsidenten, hier eine osmanische Kaserne als Einkaufs-, Wohn- und Hotelkomplex wiedererstehen zu lassen, brachte das Fass zum Überlaufen. Der erste Politiker, der sich seit Beginn für die Forderungen der Naturschützer im Gezi-Park einsetzt, ist der Istanbuler BDP-Abgeordnete Sirri Süreyya Önder. Der Parlamentarier gebot er den Baggern Einhalt, indem er sich einfach davorstellte und ausharrte. Tagelang.

 

Der ehemalige Regisseur und Filmemacher Önder genießt Respekt in weiten Teilen der Bevölkerung – über sämtliche ethnischen und religiösen Grenzen hinweg. Als Nicht-Kurde setzt er sich seit Jahren für eine friedliche Lösung der Kurdenfrage ein, da er diese für eine notwendige Voraussetzung für eine funktionierende Demokratisierung der Türkei hält. Außerdem engagiert er sich aktiv in der Kommission zur Erarbeitung eines neuen Grundgesetzes, das Minderheitenrechte sichert und bürgerliche Freiheiten schützt. Önder, der am Samstag von einer Tränengasgranate an der Schulter getroffen wurde, kritisiert sowohl das Vorgehen der Regierung, der er Respektlosigkeit vor Mensch und Natur vorwirft, als auch das der größten Oppositionspartei CHP.

 

Deren Vorstand unter Kemal Kilicdaroglu sei erst im Windschatten der Ambulanz erschienen und versuche trotzdem, die Situation für sich zu nutzen. »Die CHP soll erstmal beweisen, dass sie sich schon vor den Demonstrationen gegen die Umbaupläne für den Taksim-Platz geäußert hätte. Sie haben doch für das Projekt gestimmt!«, sagte Önder am Freitag dem Fernsehsender HaberTürk. Für die Staatsführung scheint Önder zudem ein vertrauenswürdiger Repräsentant der Protestbewegung zu sein. Für den Dienstag visierte Staatspräsident Abdullah Gül ein Treffen mit dem BDP-Politiker an.

 

Spaltpilz kurdisch-türkischer Friedensprozess

 

Önders Misstrauen gegenüber der CHP kommt nicht von ungefähr: Die CHP und ihre Anhänger stehen vor allem dem von BDP und AKP initiierten kurdisch-türkischen Friedensprozess kritisch gegenüber. Noch im April bezeichnete der CHP-Parteivorsitzende Kilicdaroglu den Friedensprozess als den »Grundstein eines Großkurdistans«. Trotz der Aufrufe zum Verzicht auf politische Symbole zeigen sich viele Demonstranten mit türkischen Fahnen umhüllt auf der Straße – als Zeichen für die Unteilbarkeit der Nation und der Solidarität mit den Idealen ihres Gründers Mustafa Kemal Atatürk. Diese Leute nehmen der AKP das immer weitere Einschränken des Gedenkens an den »Vater der Türken« übel. Zuletzt hatte die Regierung das traditionelle Jugend- und Sportfest am 19. Mai mit dem Verweis auf das Attentat in Reyhanli und die damit verbundene Terrorgefahr abgesagt.

 

Traditionell eng mit der CHP verbunden ist die religiöse Minderheit der Aleviten. Auch sie haben allen Grund zu protestieren. Die Aleviten machen Schätzungen zufolge bis zu 30 Prozent der Bevölkerung der Türkei aus. Viele von ihnen wählen seit Jahrzehnten die CHP, da diese ihnen als Garant der türkischen Laizität erscheint. Eine lebenswichtige Institution für viele Aleviten, sehen sie sich doch seit Jahrhunderten durch den konservativen sunnitischen Islam verfolgt, weshalb die sunnitisch-islamisch ausgerichtete Klientelpolitik der AKP-Regierung bei ihnen einen wunden Nerv trifft. Obwohl ein Teil der Aleviten kurdischer Herkunft ist, sehen viele auch im laufenden Friedensprozess vor allem eine unheilige Allianz zwischen sunnitischen Kurden und Türken heranziehen, die die Aleviten erneut zu Opfern massiver Diskriminierung machen könnte.

 

Erdogans jüngste Ankündigung, die im Entstehen begriffene dritte Bosporusbrücke nach dem osmanischen Sultan Selim I. zu benennen, traf hier ins Mark. Selim I., der den Beinamen »der Grausame« trug, ließ als strenggläubiger Sunnit alle andersgläubigen Muslime unter seiner Regentschaft brutal verfolgen. Während seiner Feldzüge gegen das Persische Reich Anfang des 16. Jahrhunderts soll er bis zu 40.000 Aleviten umbringen haben lassen. Eine neue Brücke zwischen zwei Kontinenten gerade nach dieser historischen Figur zu benennen, kommt daher für viele einer klaren Kampfansage gleich. Die ihnen in Aussicht gestellte religiöse Gleichberechtigung und Anerkennung ihrer Glaubensrichtung rückt damit in weite Ferne.

 

Die Stunde der Internetsender

 

Neben der Regierung sind die Demonstranten vor allem von den Medien enttäuscht. Die staatlichen, aber auch viele private Fernsehsender wie NTV, CNN Türk, HaberTürk, Kanal D, ATV, Star, Show TV und TRT haben sich vollständig der mehr oder minder freiwilligen Zensur der Regierung unterworfen. Auch deshalb spielen die sozialen Netzwerke und einige Internetsender eine große Rolle. Der CHP-eigene Fernsehsender Halk TV wird mittlerweile von 4 Millionen Menschen verfolgt, doch vor allem unabhängige Medienprojekte wie Oda TV , Tumblr-Alben mit Bildern von den Demonstrationen oder Unterstützerwebsites gelten den Demonstranten als vertrauenswürdig. Auch das Anonymous ähnelnde Hackerkollektiv RedHack hat sich dem Protest angeschlossen und legt Regierungsseiten lahm. 

 

Nicht offiziell den Protesten angeschlossen hat sich bisher die ultrarechte »Partei der Nationalistischen Bewegung« (MHP). Doch nachdem die Polizei am Wochenende die Zelte der Protestierenden angezündet hatte, fragte ein ranghoher MHP-Funktionär öffentlich, warum denn die Zelte der Kurdenorganisationen im Süden des Landes unangetastet blieben, während Naturschützer in Istanbul mit Tränengas bekämpft würden. Auch das Alkoholverbot der AKP ist der MHP ein Dorn im Auge. Die mit 13 Prozent im Parlament vertretene Partei konkurriert mit der AKP um einen Teil der religiös-nationalen Wählerschaft.

 

Viele waren von der kleineren MHP zur handlungsfähigeren AKP gewechselt, könnten sich jedoch bei etwaigen Neuwahlen wegen der Kurdenpolitik der AKP wieder für die rechtsnationale Alternative entscheiden. Bisher scheint ein Rücktritt der Regierung jedoch in weiter Ferne. Doch solange die Demonstranten weiter Einigkeit zeigen und selbst Fans der konkurrierenden Fußballclubs Fernerbahçe, Galatasaray und Beşiktaş gemeinsam ins Feld ziehen ist diese Bewegung als Schritt in die richtige Richtung zu sehen.

Von: 
Sara Winter Sayilir

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