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Deutschland und die Anerkennung von Palästina

Ja, ausgerechnet Deutschland!

Essay

Am 17. Dezember stimmt das Europäische Parlament über die Haltung zur Anerkennung Palästinas ab. Gerade deutsche Parlamentarier sollten sich dafür aussprechen – um die Rechte der Palästinenser anzuerkennen und um Israel zu schützen.

Nach dem absehbaren, kläglichen Scheitern der vom US-Außenminister John Kerry geführten Verhandlungen im Frühjahr und dem horrenden Gaza-Krieg im Sommer 2014 sieht es für eine verhandelte Zwei-Staaten-Lösung so düster aus wie lange nicht mehr. Auf israelischer Seite versuchen rechtsideologische Politiker und Meinungsmacher sich im Vorfeld der Neuwahlen im März 2015 gegenseitig zu übertreffen. Wirtschaftsminister Naftali Bennett fordert, große Teile des Westjordanlands zu annektieren.

 

Dagegen fast schon gemäßigt wirkende Politiker wie Premierminister Benjamin Netanjahu sprechen von der Notwendigkeit der Beibehaltung des Status Quo. Sie verschleiern dabei, dass die Situation keineswegs statisch ist. Die dramatische Zunahme des Siedlungsbaus (140 Prozent Steigerung von Baubeginnen im Jahr 2013 – trotz damals laufenden Verhandlungen), die zunehmenden Kämpfe um den Zugang zum Tempelberg / Haram al-Sharif könnten jederzeit zu einem neuen großflächigen Gewaltausbruch führen. So fragt sich etwa die linksliberale israelische Zeitung Ha’aretz, ob sich die enormen Spannungen in Jerusalem auch bald auf das Westjordanland ausweiten werden.

 

Viele israelische Friedensaktivisten bezeichnen die Besatzung und das Siedlungsprojekt als »Krebsgeschwür«, das nicht nur die Perspektive eines palästinensischen Staates zerstört, sondern auch die israelische Gesellschaft zerfrisst. Solange die israelische Regierung nicht bereit ist, die Grenzen des Staates Israel zu deklarieren (und somit die formale Staatszugehörigkeit der Palästinenser im Westjordanland und Gaza zu klären), ist das Land ein De-facto-Apartheidstaat, der Millionen von Menschen elementare Grundrechte wie Bewegungsfreiheit und Wahlrecht verweigert und sie einem parallelen Militärrechtssystem ohne Möglichkeit auf ordentliche Verfahren unterzwingt.

 

Darüber kann auch die Existenz der relativ machtlosen Palästinensischen Autonomiebehörde (deren Rolle weiterhin primär die Verteilung von Hilfsgeldern ist) nicht hinwegtäuschen. Je mehr die israelische Siedlungspolitik einen Staat Palästina unmöglich macht, desto schwieriger wird der israelische Spagat, gleichzeitig jüdisch und demokratisch zu sein.

 

Der Vorstoß der israelischen Rechten, dem jüdischen Charakter das Primat gegenüber dem demokratischen in Form eines Grundgesetzes zu erteilen, ist ein erstes Anzeichen dafür, in welche gefährliche Richtung Israel sich entwickelt. Die anhaltende Besatzung und fortschreitende Besiedlungspolitik wird dazu führen, dass die Isolation in der internationalen Staatengemeinschaft weiter zunimmt.

 

Palästinas friedensorientierte Kräfte haben keine Alternative, als auf Schritte der EU und ihrer Mitgliedsstaaten zu setzen

 

Das darf keinem Freund Israels egal sein. Wer die Freundschaft und Verbundenheit ernst meint, muss dem Land dabei helfen, die gefährliche Siedlungspolitik zu beenden und die israelische Demokratie zu retten. Ein zentraler Schritt ist dabei, den Staat Palästina endlich anzuerkennen. Das sollte gerade Deutschland tun. Eine deutsche Anerkennung Palästinas würde aufgrund der engen deutsch-israelischen Beziehungen ein starkes Zeichen setzen, dass die Zwei-Staaten-Lösung noch gerettet werden kann. Sie wäre weit bedeutsamer als bereits erfolgte vergleichbare Schritte in Schweden und Großbritannien.

 

Es wäre ein wichtiger Gewinn für die friedensorientierten Kräfte in Palästina, die nach dem Popularitätswachstum der Hamas nach dem Gaza-Krieg zunehmend ratlos und hilflos aussehen. Sie haben keine Alternative, als auf Schritte der EU und ihrer Mitgliedsstaaten zu setzen. Der Schritt würde der rechtsideologischen israelischen Regierung beweisen, dass die Staatengemeinschaft – und gerade Deutschland – ihr Engagement für die Zwei-Staaten-Lösung ernst meint, auch wenn es den politisch riskanten Schritt bedeutet, die israelische Gesellschaft vor dem gefährlichen Kurs der rechten Regierung zu schützen.

 

Diese instrumentalisiert mit Erfolg die Ängste der israelischen Bevölkerung für ihre Expansionsideologie. Zynischerweise wird jedoch ausgerechnet die mit Sicherheitsbedürfnissen begründete Besatzungspolitik zu immer geringerer Sicherheit für Israelis führen. Nicht ohne Grund haben über 800 prominente Israelis (darunter ein Nobelpreisträger, ehemalige Minister und Militärs) einen Brief unterzeichnet, der die EU und ihre Mitgliedsstaaten dazu aufruft, die Anerkennung Palästinas zu unterstützen.

 

Denn: Sicherheit für die Menschen in Israel kann es nur geben, wenn die Menschen in Palästina eine selbstbestimmte Zukunft sehen können und die israelische Siedlungspolitik nicht mehr als existenzielle Bedrohung wahrnehmen. Wenn dies gelingt, werden auch Israelis die Palästinenser als mehr als eine Sicherheitsbedrohung, die es zu unterdrücken gilt, sehen können. Dieser Teufelskreis von Angst und Unterdrückung kann nur mit Hilfe von außen beendet werden. Daher muss Deutschland seinen israelischen Freunden zu der Einsicht verhelfen: Die Besatzung ist ein militärischer Lösungsansatz für ein politisches Problem und wird daher immer wieder (und immer katastrophaler) scheitern.

 

Ohne Perspektive eines palästinensischen Staates wird die Gewalt zurückkehren

 

Es droht ohne Perspektive für eine friedliche Lösung nun ein massives Erstarken der radikalen, gewaltbereiten Kräfte in Palästina. Nach dem Scheitern der palästinensischen Verhandlungspolitik nach 20 Jahren Friedensprozess bleibt der einzige Hebel der moderaten palästinensischen Führung die Symbolik der bilateralen Anerkennung Palästinas. Der Ausbruch der dritten Intifada und die Rückkehr massiver Gewalt sind ohne erkennbare Perspektive für die Zwei-Staaten-Lösung eine Frage der Zeit.

 

Vieles hängt auch davon ab, wie lange Mahmud Abbas noch Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde sein wird. Im Alter von 80 Jahren ist dies durchaus auch eine drängende biologische Frage. In den letzten Tagen machte in Palästina das Gerücht die Runde, Abbas habe einen Herzinfarkt erlitten. Er sah sich daraufhin gezwungen – in für ihn unüblicher Manier – sich auf der Straße zu zeigen. Der Kampf um seine Nachfolge hat hinter den Kulissen längst begonnen.

 

Mit der Amtszeit von Abbas endet die palästinensische Politik des geduldigen Beharrens auf eine friedliche, verhandelte Lösung. Sollte sein Versuch, die bilaterale Anerkennung Palästinas voranzutreiben, scheitern, werden ihm damit alle Karten aus der Hand genommen. 135 Länder haben Palästina inzwischen als Staat anerkannt (darunter acht EU-Mitgliedsstaaten). Die für eine Zwei-Staaten-Lösung besonders wichtigen Staaten der EU (Deutschland, Großbritannien und Frankreich) sowie die USA fehlen jedoch.

 

Es sind die einzigen Staaten, die Israel zu einer Aufgabe seiner Siedlungspolitik und einer Rückkehr an den Verhandlungstisch bewegen können. Deren bisherige, ausweichende Position, die Anerkennung Palästinas von einer verhandelten Endstatuslösung abhängig zu machen, ist kontraproduktiv. Denn dieser Ansatz erteilt der israelischen Regierung, die erklärtermaßen gegen die Zwei-Staaten-Lösung ist, ein Veto über das völkerrechtlich verbriefte Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser.

 

Sollte die Abstimmung im Europäischen Parlament zur Anerkennung Palästinas scheitern, wird dies ein weiterer Schritt hin zur endgültigen Zementierung einer Ein-Staaten-Realität mit Apartheidcharakter sein. Natürlich würde eine deutsche Anerkennung Palästinas Empörung in israelischen Kreisen hervorrufen, die das selbstzerstörerische Siedlungsprojekt nicht aufgeben möchten. »Ausgerechnet Deutschland!«-Rufe würden laut.

 

Die deutsche Politik müsste diesen Rufen mit Mut begegnen: Ja, ausgerechnet Deutschland muss diesen wichtigen Schritt gehen, gerade wegen der historischen Verantwortung für Israel. Nicht nur Palästinenser, auch viele Israelis würden dankbar sein, wenn beide Staaten ihren Bürgerinnen und Bürgern endlich ein normales Leben in Sicherheit und Frieden bieten können.

Von: 
Franz Sigel

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