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Dritter Jahrestag der ägyptischen Revolution

Alles vergessen

Feature

Der dritte Jahrestag des Beginns der ägyptischen Revolution wird von Anschlägen, Verhaftungen und Zusammenstößen begleitet. Und wer nicht für den omnipräsenten General Sisi jubeln will, macht sich verdächtig.

24. Januar 2014, 6:30 Uhr. Eine heftige Explosion reißt Tausende in Kairo aus dem Schlaf. Noch ist nicht klar, dass diese Detonation einer Autobombe vor dem Polizeihauptquartier in Kairos Downtown der Beginn einer Anschlagserie ist, die die Stadt am Vortag des 25. Januar in Atem halten wird. Es ist der dritte Jahrestag der ägyptischen Revolution und weite Teile der Bevölkerung hatten bereits mit erneuten Unruhen gerechnet, während sich die vom Militär gestützte Übergangsregierung auf die anstehenden Feierlichkeiten vorbereitet und auf dem symbolträchtigen Tahrir-Platz eine Bühne errichtet.

 

An einem der höchsten Gebäude auf der Nilinsel Zamalek prangt ein überdimensionales Plakat: das Konterfei von Armeechef und Verteidigungsminister Abdel-Fattah Al-Sisi. Die bisherigen Anschläge richteten sich scheinbar gezielt gegen Sicherheitskräfte und Einrichtungen von Polizei und Militär. Nach der ersten Detonation in den frühen Morgenstunden – die auch das in unmittelbarer Nähe befindliche Museum für Islamische Kunst schwer beschädigt hat – berichteten Augenzeugen und lokale Medien nur wenig später von einer zweiten Explosion nahe einer Metrostation im Stadtteil Dokki und einer weiteren in El-Haram im Stadtteil Giza.

 

Am späten Nachmittag ereignete sich Anschlag Nummer vier, erneut in Giza. Ob, beziehungsweise welche Verbindung zwischen den Attentaten besteht und wer für sie verantwortlich ist, ist noch nicht abschließend geklärt. Allerdings bekannte sich im Laufe des Tages die mit der Terrororganisation Al-Qaida sympathisierende islamistische Gruppierung Ansar Beit al-Maqdis zu den Anschlägen.

 

Die Vereinigung hatte in den vergangenen Wochen bereits die Verantwortung für mehrere Attentate auf der Sinai-Halbinsel übernommen. Die erst vor wenigen Wochen als Terrororganisation eingestufte Muslimbruderschaft weist jegliche Beteiligung an den Attentaten von sich. Offiziellen Angaben zufolge beläuft sich die Anzahl der Todesopfer auf 6; hinzu kommen dutzende Verletzte.

 

Die Jugend blieb der Abstimmung fern

 

Währenddessen marschierten hunderte Anhänger von Ex-Präsident Muhammad Mursi unter anderem im Kairoer Stadtteil Nasr City und El-Marg sowie in der Küstenstadt Alexandria und anderen Provinzen. Auch hierbei kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen zwischen Zivilisten und Sicherheitsbeamten, die die Menschenansammlungen unter Einsatz von Tränengas auflösten. Es ist ebenfalls von mehreren Todesopfern die Rede. Vom Nachmittag bis in den späten Abend kreisten Militärhubschrauber tief über der Stadt.

 

Bereits in der vergangenen Woche war es im Rahmen der landesweiten Abstimmung zur neuen Verfassung zu Auseinandersetzungen gekommen. Hierbei gerieten Zivilisten der unterschiedlichen politischen Lager – vor allem jedoch Anhänger der Muslimbruderschaft – mit Sicherheitskräften aneinander. Das Schriftstück, das die Handschrift des Militärs trägt und der umstrittenen Verfassung von 2012 teilweise wörtlich entspricht, war nach einer Wahlbeteiligung von knapp 40 Prozent der über 50 Millionen Wahlberechtigten, offiziellen Angaben zufolge mit 98 Prozent angenommen worden und ist seit rund einer Woche in Kraft.

 

Ein Großteil der Wähler war älteren Semesters, die Jugend blieb fern. Desillusioniert – resigniert? 25. Januar 2014. Die Übergangsregierung bereitet sich auf einen spektakulären Festakt vor, während zahlreiche Gruppierungen wie die liberale Jugendbewegung des 6. April oder die »Revolutionären Sozialisten« erneute Demonstrationen planen. Mursi-Anhänger und weitere Militär-Gegner riefen zum Boykott der bevorstehenden Veranstaltungen auf. Der dritte Jahrestag der Revolution startete bereits gegen acht Uhr mit einem erneuten Bombenanschlag im Osten Kairos. Ziel des Angriffs, bei dem diesmal keine Todesopfer zu beklagen waren, war auch hier eine Einrichtung der Polizei.

 

Nie zuvor war die Lage für Reporter so bedrohlich wie an diesem Tag

 

Während sich Sicherheitskräfte an den bekannten Stellen mit Panzern und Tränengas positionierten, kursierten am Vormittag auf sozialen Netzwerken diverse Listen mit Treffpunkten für über 30 geplante »Anti-Coup«-Demonstrationen und Notruf-Hotlines für Journalisten. Nie zuvor schien die Lage für Reporter so bedrohlich zu sein wie in diesen Tagen. Die offensichtlich zunehmend ablehnende Haltung der Bevölkerung gegenüber ausländischen Journalisten ist bedenklich.

 

So war für die meisten Berichterstatter an diesem Tag die Stimmung alles andere als feierlich. Nicht nur das Kairoer Team der ARD, sondern auch zahlreiche andere Journalisten berichten von einer feindlichen, beinahe xenophoben Stimmung und konkreten Übergriffen und Bedrohungen, meist durch Zivilisten, die in jedem ausländischen Berichterstatter einen mutmaßlichen Mitarbeiter des vermeintlich bruderschaftsnahen Fernsehsenders Al-Jazeera zu sehen scheinen.

 

Der Tahrir gleicht einem Rummelplatz

 

Immer mehr Menschen – unter ihnen auch zahlreiche Familien mit Kindern – strömten zu den Feierlichkeiten auf dem Tahrir-Platz, der inzwischen von einem enormen Sicherheitsaufgebot umstellt war. Für umgerechnet 1,50 Euro gab es T-Shirts mit General Sisis Aufdruck zu kaufen. Mützen, Fahnen, Tröten und sogar Masken mit dem Gesicht des Armeechefs wurden unter Beschallung mit dem Pro-Armee-Song »Teslam al-Ayady« ebenfalls feilgeboten – der Tahrir glich einem Rummelplatz.

 

Wo während der vergangenen Jahrestage noch hauptsächlich den Märtyrern des ägyptischen Frühlings gedacht wurde und deren Bilder den Platz dominierten, ist heute nur das Konterfei des Generals zu sehen. Kurz nach dem Mittagsgebet stoßen Demonstranten und Sicherheitskräfte unter anderem im Stadtteil Mohandiseen und rund um den Talaat Harb Platz in Downtown zusammen. Hierbei kam Berichten zufolge auch schnell scharfe Munition zum Einsatz.

 

Ausschreitungen gab es auch in Alexandria, Fayoum, Ismailia und anderen Provinzen. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums sind an diesem dritten Jahrestag der Revolution bisher mindestens 49 Menschen in gewaltsamen Ausschreitungen ums Leben gekommen. Auf Twitter wird von wahllosen Verhaftungen politischer Aktivisten und Journalisten berichtet. Das unabhängige Nachrichtenportal Mada Masr spricht von landesweit über 1.000 Festnahmen.

 

Die Schlagzeile auf dem Titelblatt der halbstaatlichen Zeitung Al-Ahram am Morgen danach lautet »Volk trotzt Terrorismus – Menschen feiern auf den Plätzen«. Es scheint fast so, als sei bei einem Großteil der Bevölkerung jegliche Erinnerung an die Zeit nach der Revolution von 2011 und die Probleme, die die Machtübernahme des Militärs damals mit sich brachte, ausgelöscht. Viele sind scheinbar bereit, den vorrevolutionären Zustand wiederherzustellen und sehen einen Präsidenten aus den Reihen des Militärs als Rettung für das wirtschaftlich und politisch entkräftete Land. Das Volk ist entzweiter denn je und es bleibt die Frage, ob sich noch Alternativen bieten, oder ob Ägypten bereits unaufhaltsam in die nächste Militärdiktatur schlittert.

Von: 
Kerstin Gröger

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