Lesezeit: 8 Minuten
Hapoel Ironi F.C. aus der Kleinstadt Kiryat Shmona in Israel

Hoffenheim in Galiläa

Feature

Abseits der Negativschlagzeilen sorgt der erst 12 Jahre alte Fußballclub Hapoel Ironi F.C. aus der Kleinstadt Kiryat Shmona in Israels Norden für eine sportliche Sensation – und prägt ein Bild, das in Erinnerung bleiben wird.

Gerade einmal 5.300 Zuschauer passen in das winzige, neu renovierte Stadion von Kiryat Shmona. 2. April: Es ist der zweite Spieltag der Meisterrunde und der Gastgeber hat den Tabellenzweiten Hapoel Tel Aviv zu Gast. Die Zuschauer sehen an diesem lauen Montagabend ein eher müdes 0:0, das allerdings über die sich anbahnende fußballerische Sensation hinwegtäuscht. Hapoel Ironi braucht lediglich noch einen Punkt für eine der größten Überraschungen in der israelischen Fußballgeschichte. Es bliebe dann bei 16 Punkten, die die Mannschaft vom Tabellenzweiten aus Tel Aviv bei noch 5 ausstehenden Spieltagen trennen würde – das würde für den Meistertitel reichen, der erst am 12. Mai offiziell überreicht wird. Eine Woche zuvor wurde durch eine 0:1 Niederlage gegen Bnei Yehuda bereits der erste Matchball vergeben, aber heute soll es mit dem Heimspiel gegen die traditionsreiche Mannschaft aus Tel Aviv klappen.

 

Zwei Arbeitervereine stehen sich gegenüber, die allerdings Welten voneinander trennen. Hier das international erfahrene Team aus der Metropole Tel Aviv und dort der junge Provinzverein aus dem hohen Norden, der noch vor sechs Jahren in der vierten israelischen Liga gespielt hat. Verkehrte Welt beim Anblick der Tabelle: nach etwas holprigem Start mit vielen Unentschieden hatte das Team aus Kiryat Shmona am 15. Spieltag die Tabellenführung übernommen, danach souverän den Vorsprung bis auf 16 Punkte ausgebaut und damit alle Experten überrascht.

 

»In dieser Stadt, in der es nicht einmal ein Kino gibt, ist der Fußball ganz einfach ein soziales Bedürfnis«

 

Der Erfolg der Mannschaft hängt eng zusammen mit dem in Tel Aviv geborenen Geschäftsmann und Millionär Izzy Sheratzky. Er hatte im Jahr 2000 die beiden Amateurvereine Hapoel Kiryat Shmona und Maccabi Kiryat Shmona fusioniert und in Dietmar-Hopp-Manier in Windeseile aus der vierten bis in die oberste israelische Spielklasse geführt. Dabei setzte er zusammen mit dem Trainer Ran Ben Shimon auf ein Team ohne Stars und hohe mannschaftliche Geschlossenheit. Izzy Sheratzky war 1999 nach Kiryat Shmona gezogen, weil ihn nach eigenen Angaben das Schicksal der strukturschwachen 23.000-Einwohner-Stadt tief bewegte, die immer wieder durch Raketeneinschläge aus dem Libanon Schlagzeilen machte.

 

Nachdem er eine Suppenküche für die Bedürftigsten, eine Klinik für Kinder und eine Sprachenschule eröffnete, widmete er sich dem lokalen Fußball. »In dieser Stadt, in der es nicht einmal ein Kino gibt, ist der Fußball ganz einfach ein soziales Bedürfnis.« Bereits im vorherigen Jahr hatte die Mannschaft mit dem Gewinn des Ligapokals für eine große Überraschung gesorgt. Nun soll die Meisterschaft dafür sorgen, dass die Stadt Kiryat Shmona weiterhin in den Positivschlagzeilen bleibt.

 

Dabei geht es aber um weit mehr – nicht weniger als um die Rettung des Rufs der israelischen Liga. Die diesjährige Fußballsaison wurde überschattet von einer Serie rassistischer Vorfälle, Fanausschreitungen und Schlägereien auf dem Spielfeld, die sogar dazu führten, dass die Ligabosse ganze Spieltage absagen mussten. Im Zentrum stand immer wieder der ultrarechte Verein Beitar Jerusalem, dessen berüchtigte Fans seit Gründung unter anderem dafür »sorgen«, dass die Verantwortlichen keine arabischen Spieler verpflichten.

 

Der Erfolg von Kiryat Shmona wirkt wie eine Antithese zum Zustand der Liga

 

Im März hatten Beitar-Anhänger nach einem Spiel in einem Einkaufscenter nahe des Stadions arabische Verkäufer und Kunden gejagt und zusammengeschlagen. Ein vorläufiger Höhepunkt der regelmäßigen Gewaltexzesse nach Beitar-Spielen. Seitdem schicken die meisten Ladenbesitzer aus Angst vor der Gesundheit ihrer Angestellten ihre arabischen Mitarbeiter an Tagen von Beitar-Heimspielen vorsorglich nach Hause.

 

Mitte April hatte ein weiteres Ereignis den israelischen Fußball erschüttert. Während eines Aufstiegsspiels in der zweiten Liga zwischen Hapoel Ramat Gan und Hapoel Bnei Lod kam es zu einer Massenschlägerei zwischen Spielern, Trainern und Funktionären, die in schweren Verletzungen einiger Beteiligter resultierte und zu der Absage des gesamten Spieltags führte. Verbandspräsident Avi Luzon erklärte den drastischen Schritt mit den Worten: »Ich stoppe die Spiele, bevor eine Situation entsteht, in der jemand getötet wird.« Der Unparteiische gab nachher sichtlich geschockt zu Protokoll: »In 27 Jahren als Schiedsrichter habe ich noch nie eine so brutale und abscheuliche Szenerie erlebt.«

 

Derweil sorgen sich Politiker und Funktionäre um die Vorbildfunktion des israelischen Fußballs. Der Vorfall wurde live von vielen Zuschauern – darunter auch von vielen Kindern – im Fernsehen verfolgt. Der Sportredakteur der liberalen israelischen Tageszeitung Haaretz warnte daraufhin, dass die Serie der Gewalt im israelischen Fußball nicht als einzelnes Phänomen zu betrachten sei, sondern den »verrohten Zustand der israelischen Gesellschaft insgesamt« widerspiegele. Der Erfolg von Kiryat Shmona wirkt dagegen wie eine Antithese zum Zustand der Liga. Wie selbstverständlich spielen in der Mannschaft auch sechs arabische Spieler aus der Region – und tragen erheblich zur Siegesserie des Vereins bei.

 

Die Dominanz der »Großen Vier« ist gebrochen

 

Je näher der Schlusspfiff rückt, desto nervöser werden die Fans des nordisraelischen Sensationsvereins. Es ist weniger die Angst vor einem Gegentor – Hapoel Tel Aviv macht bisher keinerlei Anstalten die Meisterschaftsparty noch einen Spieltag länger hinauszögern zu wollen – als eine Art ungläubiges Erwarten. Plötzlich – in der 80. Minute – steht dann wie aus dem Nichts der Mittelfeldspieler der Gastmannschaft Eran Zahavi nach einem Abpraller frei vor dem Tor, aber Torwart Danny Amos lenkt den Ball mit einem sensationellen Reflex über den Kasten. Großes Aufatmen bei den Zuschauern.

 

Die letzten 10 Minuten plätschert das Spiel dann ohne weitere Höhepunkte vor sich her. Und dann ist er da, der ersehnte Moment. Der Ball rollt an der Eckfahne über die Seitenauslinie, Abpfiff, die Dämme brechen. Feuerwerk schießt in den Himmel. Kiryat Shmona ist zum ersten Mal in seiner jungen Geschichte israelischer Fußballmeister. Erst das zweite Mal in über 20 Jahren gelang es damit einer Mannschaft, die Dominanz der »Großen Vier«, Maccabi Haifa, Beitar Jerusalem, Maccabi Tel Aviv und Hapoel Tel Aviv zu durchbrechen und zum ersten Mal seit 1983 hat ein Team, das nicht aus Tel Aviv, Haifa, oder Jerusalem kommt den Meistertitel geholt.

 

Die Spieler liegen sich in den Armen und recken die Meisterschaftstrophäe in die Luft. Superlative dominieren die Sätze der interviewten Helden und ein Bild prägt sich jedem Zuschauer an diesem Abend ein: Salah Hasarma aus dem arabischen Dorf Biana, der schon seit 2006 für Kiryat Shmona spielt und Adrian Rochet aus dem Kibbutz Neot Mordechai halten die Trophäe gemeinsam hoch. Es ist wie eine Demonstration gelungener Koexistenz und gleichzeitig ein starkes Zeichen an Vereine wie Beitar Jerusalem: Der sechsmalige hatte die Meisterrunde in der Saison 2011/2012 deutlich verpasst und steht auf einem enttäuschenden 11. Platz.

Von: 
Clemens Schuur

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.