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Interview zu Todesurteil gegen 529 Muslimbrüder

»Ein beschämendes Urteil«

Interview

Das Todesurteil gegen 529 Muslimbrüder sei »rechtswidrig« und »beschämend«. Ein Staatsanwalt aus Kairo erklärt, warum aus seiner Sicht die Muslimbrüder trotzdem bekämpft werden sollten und Sisi alles richtig macht.

zenith: Am 24. März 2014 hat ein Gericht 529 Muslimbrüder in der oberägyptischen Stadt Minya zum Tode verurteilt. Ein legitimes Urteil?

Ibrahim S.: Es ist nicht einfach, dazu etwas zu sagen, da man in diesem Fall den Hintergrund des Richters und die Vorfälle in der Stadt Minya betrachten muss. Aber unabhängig davon ist das Urteil aus meiner Perspektive als Staatsanwalt ungültig. Für schwere Verbrechen wie Mord gibt es sehr viele gesetzlich festgelegte Abläufe, denen der Richter folgen muss. Zuerst muss er die Aussage des Angeklagten anhören – das hat er in Minya nicht getan. Zweitens muss der Richter den Fall vertagen, wenn einer der Verteidiger ein Ablehnungsgesuch stellt. Dies geschieht, wenn der Richter als unfair oder befangen betrachtet wird. In diesem Fall ist es Aufgabe des Obersten Gerichtshofs, einen anderen Richter oder ein anderes Gericht mit dem Fall zu betrauen. Solange wird der Fall vertagt – doch in Minya ignorierte der Richter das Ablehnungsgesuch.

 

Stattdessen soll sich der Richter über das Ablehnungsgesuch bei der Eröffnungsanhörung am 22. März aufgeregt und den Prozess umgehend bis zur Urteilsverkündung vertagt haben, so berichtet es Strafverteidiger Mohamed Tousson.

Der Richter Said Yusef Sabry ist dafür bekannt, sich nicht an die gesetzlichen Vorschriften eines Gerichtsverfahrens zu halten. Er ist außerdem sehr streng. Es gab schon früher Fälle, in denen er zum Beispiel einen Mann für einen Raubüberfall zu 30 Jahren Gefängnis verurteilte. Manchmal sind seine Urteile sogar rechtswidrig. Diesem Richter dürfte ein Fall wie der in Minya gar nicht zugesprochen werden.

 


Ibrahim S.

(Name aus Sicherheitsgründen von der Redaktion geändert) arbeitet seit 2008 als Staatsanwalt in Kairo. Er selbst hat vor Gericht noch nie ein Todesurteil gefordert.


 

Das Urteil wurde nach nur zwei Sitzungen innerhalb weniger Minuten gesprochen. Ist das normal?

Der Richter hörte die Verteidigung nicht einmal an und fällte das Urteil viel zu schnell. Normalerweise wird ein Plädoyer vorgetragen, in dem alle Details und Gründe für die Unschuld des Beschuldigten dargelegt werden. Der Richter in Minya jedoch hörte am Samstag nur das Ansuchen auf Verteidigung an und vertagte dann den Fall. Am Montag, dem 24. März, sprach er das Urteil um 9:15 Uhr morgens, noch bevor die Anwälte und einige der Angeklagten überhaupt im Gericht eingetroffen waren. Das ist verrückt! Es ist zwar nicht rechtswidrig, ein Urteil in Abwesenheit der Angeklagten zu fällen, doch normalerweise wird so etwas vermieden. Nur 147 der insgesamt 545 Angeklagten waren anwesend. Das Urteil ist für die Abwesenden ungültig, da der Fall noch einmal verhandelt wird, sobald sie gefasst werden.

 

Mindestens 1.400 Mursi-Unterstützer wurden getötet und tausende gefangen genommen. Hat die Staatsanwaltschaft dazu Untersuchungen eingeleitet?

Nein. Aber das Urteil von Minya muss im Zusammenhang mit der Räumung des Platzes Rabaa al-Adawija im Osten von Kairo am 14. August 2013 betrachtet werden. Das oberägyptische Minya ist die Hochburg der Muslimbrüder. Deshalb gab es dort nach den Vorfällen in Rabaa extreme Ausschreitungen und Gewalttaten speziell gegen Christen und Polizisten. Viele Polizeistationen und Kirchen wurden angezündet und ein Polizist wurde zu Tode geprügelt. Daraufhin wurden die 529 vermutlichen Täter festgenommen.

 

»Der Oberste Gerichtshof ist wichtiger als der Mufti«

 

Wie läuft ein Todesurteil normalerweise ab?

Im Falle einer Todesstrafe schreibt das Ägyptische Gesetz sehr strenge Auflagen vor: Schon der Antrag auf Todesstrafe muss vom ägyptischen Präsidenten bewilligt werden. Außerdem müssen, wie in Minya, drei Richter dem Urteil zustimmen. Automatisch geht der Fall dann an den Obersten Gerichtshof. Das ist die letzte Instanz für ein Berufungsverfahren. Die Gefangenen selbst sollten keine Berufung einlegen, da das Oberste Gericht das Urteil sowieso prüft. Jedes Detail des Falls wird dort noch einmal aufgerollt und das Urteil auf seine Gültigkeit geprüft. Wenn es als rechtswidrig eingestuft wird, wird der Fall einem anderen Gericht übertragen.

 

Die Anwälte der Angeklagten haben bereits Berufung eingelegt. Macht das einen Unterschied?

Es macht keinen Unterschied, da der Fall rein rechtlich automatisch an den Obersten Gerichtshof weitergeleitet wird. Dafür schreiben die Anwälte einen Bericht, in dem alles festgehalten wird, was sie zum Urteil sagen wollen.

 

Auch der Großmufti Shawki Ibrahim Abdel-Karim Allam muss noch seine Empfehlung aussprechen. Wird diese Empfehlung irgendetwas ändern?

Nein, gar nichts. Der Mufti gibt nur eine Empfehlung, also keine Erlaubnis oder irgendetwas in der Art. Mit hundertprozentiger Sicherheit wird er zustimmen. Der Oberste Gerichtshof ist wichtiger als der Mufti.

 

Wann wird der Oberste Gerichtshof über den Fall entscheiden?

Nach Urteilsspruch wird der Fall an den Obersten Gerichtshof weitergeleitet. Da er dort auf sehr detaillierte Weise durchgesehen wird, dauert es drei bis vier Monate bis zur Entscheidung. Wenn das Urteil als rechtswidrig eingestuft wird, übergibt der Oberste Gerichtshof den Fall einem anderen Gericht und das Verfahren beginnt von vorne.

 

Amnesty International erklärte das Urteil zu einem »grotesken Beispiel« für die Missstände im ägyptischen Justizsystem.

Es ist ein faires System, aber hat seine Fehler. Genauso wie jedes andere System in Ägypten.

 

Das Urteil wirkte politisch motiviert. Glauben Sie der Richter bekam Anweisungen von oben?

Der Richter bekam sicher keine Anweisungen, aber er ist einer der Leute, die generell gegen die Muslimbrüder sind. Die Mehrheit der ägyptischen Gesetzesvertreter sind gegen die Muslimbrüder, da sie in unseren Augen viele Probleme in Ägypten verursacht haben.

 

»Nicht gut oder schlecht, richtig oder falsch – das Urteil ist einfach nichtig!«

 

Die Muslimbrüder wurden von der ägyptischen Regierung zu einer terroristischen Organisation erklärt und ihre Partei am 23. September 2013 verboten. War das notwendig?

Die Muslimbrüder sind eine aggressive und gefährliche Gruppierung, die ihre Standpunkte mit Macht und Gewalt ausdrückt. Also muss sie ihre Aktivitäten einstellen oder wenigstens auf friedlichere Weise durchführen.

 

Wie ist die Stimmung an Ihrem Arbeitsplatz? Sprechen die Staatsanwälte über den Fall von Minya?

Meine Kollegen teilen im Wesentlichen meine Einschätzung. Wir sind gegen eine Missachtung gesetzlicher Vorschriften und für die Wahrung der Rechte der Angeklagten. Meiner Meinung nach ist das Urteil rechtswidrig und drängt die Leute in Meinungslager. Vor wenigen Tagen bin ich mit dem Taxi gefahren. Der Fahrer war Kopte. Natürlich war er total glücklich über das Urteil. Er sagte, dass die Angeklagten so behandelt werden müssten, da sie Mörder seien. Natürlich bewertet er nach dem, was den Kopten nach dem Sturz von Mursi widerfahren ist. Mehrere Kirchen wurden angezündet. Und auch die »Fulul«, die Günstlinge des Mubarak-Regimes, freuen sich über das Urteil, da sie es als willkommene Abschreckung gegen die Muslimbrüder sehen. Für Gesetzesvertreter wie mich ist das Urteil einfach nur beschämend. Aber wir wissen auch, dass es rechtswidrig ist – und es sich im Wesentlichen um eine Propagandamaßnahme gegen die Muslimbrüder handelt. Diese Zurschaustellung provoziert Proteste und Gewalt. Es ist ein dummes Urteil zu einem sehr ungünstigen Zeitpunkt.

 

Sie sagen, das Urteil sei Propaganda. Abdelfattah Al-Sisi trat etwa zeitgleich zur Urteilsverkündung vom Verteidigungsministerium zurück und kündigte seine Kandidatur für das Präsidentschaftsamt an. Zufall?

Ich glaube nicht, dass der Richter des Urteils vorsätzlich Propaganda machen wollte. Nur das Resultat des Urteils ist, dass die Leute darüber sprechen. Es wird diskutiert, ob das Urteil gut oder schlecht, richtig oder falsch sei – dabei ist es einfach nichtig! Zwischen dem Urteil und der Abdankung von Sisi gibt es keine Verbindung. Es ist einfach Zufall. Sisis Abdankung war keine Überraschung oder Propaganda. Wir wussten, dass es passieren würde. Es ist passiert und er wird Präsident werden. Ohne Korruption oder derartige Dinge. Sisi repräsentiert die Mehrheit. Er hat viele Unterstützer und wir glauben, dass er großartig ist. Natürlich gibt es Leute, die gegen das Militär sind, aber Sisi ist der einzige, der unser Land wieder in die Normalität führen kann. Wenn Ägypten wieder stabil ist, können wir über einen anderen Präsidenten reden. Ich bin selbst dagegen, dass das Militär das Land regiert, aber wir haben im Moment nur diese eine Option.

 

Wird sich die Justiz nach den Präsidentschaftswahlen verändern?

Nein, aber ich glaube, dass es weniger politische Fälle geben wird.

 

Gibt es irgendeine Verbindung zwischen diesem Fall und dem gegen zwanzig Journalisten von Al-Jazeera?

Keinesfalls.

 

Hat sich Ihre tägliche Arbeit seit Mursis Sturz verändert?

Nein, es gibt nur mehr politische Fälle, da die Demonstranten mehr Gewalt anwenden, Gebäude oder andere Dinge anzünden und zerstören.

 

Was muss am ägyptischen Justizsystem geändert werden?

Das Justizsystem braucht nicht geändert zu werden. Es muss nur unabhängiger von der Regierung werden.

Von: 
Laura Pannasch

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