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Israels Gesellschaft und die Siedlerbewegung

Der Sozialstaat auf der anderen Seite

Feature

Während Israels Regierungen der vergangenen Jahre einen luxuriösen Sozialstaat jenseits der Grünen Linie aufbauten, wächst die Kritik gegenüber den Siedlungen innerhalb der israelischen Gesellschaft – und in Reihen des Kabinetts Netanjahu.

Die Entführung von drei Teenagern hält Israel in Atem. Zwei 16-Jährige und ein 19-Jähriger wurden am Donnerstagabend des 12. Juni aus einer Siedlung im Westjordanland entführt. Sie wollten von einer von Siedlern stark frequentierten Kreuzung nach Hause trampen. Der öffentliche Verkehr zwischen den Siedlungen im Westjordanland ist spärlich und Trampen vor allem abends eine übliche Praxis unter Siedlern. Laut Israels Regierung seien die Drahtzieher der Entführung bei der islamistischen Hamas zu vermuten.

 

Die israelische Armee und der Inlandsgeheimdienst Schin Bet führten deshalb in den vergangenen Tagen Großrazzien in der Hamas-Hochburg Hebron, in Nablus und Jenin durch: der größte israelische Militäreinsatz im Westjordanland seit dem Ende der zweiten Intifada 2005. Vier Palästinenser kamen dabei ums Leben, mehr als 360 wurden mittlerweile verhaftet, darunter etwa 250 Hamas-Mitglieder. Zudem wurden 50 Palästinenser, die 2011 im Gefangenenaustausch gegen den fünf Jahre entführten israelischen Soldaten Gilad Schalit freigelassen wurden, wieder verhaftet.

 

Unter den Verhafteten sind auch Mitglieder der Fatah. Erst am 2. Juni 2014 hatte ihr Vorsitzender, der Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) Mahmud Abbas, eine Übergangsregierung mit der rivalisierenden Hamas vereidigt. Seit 2007 kontrolliert die Hamas den Gazastreifen, während im Westjordanland die Fatah das Sagen hat. Die innerpalästinensische Versöhnung rief jedoch in Israel Kritik hervor. Israels Premier Benjamin Netanjahu macht nun auch die Fatah für die Entführung mitverantwortlich: Durch ihre Entscheidung, nach der gescheiterten Friedensinitiative von US-Außenminister John Kerry eine Einheitsregierung mit der Hamas zu bilden, habe sie sich einer terroristischen Organisation geöffnet.

 

Wie meist in Fällen gewaltsamer Eskalation oder Entführungen geht eine Welle der Solidarität durch weite Teile der israelischen Bevölkerung. Vielerorts finden Mahnwachen und Gebete für die Entführten statt, im Fernsehen wird in den Halbzeitpausen der WM-Spiele vom aktuellen Stand der Fahndung berichtet. Die Entführung ist für die Regierung ein Härtetest. Es gilt zu beweisen, dass die Sicherheit jedes einzelnen Bürgers oberste Priorität besitzt. Unkluge Entscheidungen in diesem Bereich gelten als die Achillesferse jedes Spitzenpolitikers des Landes.

 

Kritische Stimmen werfen Netanjahu jedoch auch vor, dass der mediale Fokus auf die Fahndung einen willkommenen Nebeneffekt für seine Regierung hat: Die gesellschaftliche Debatte über die Siedlungspolitik wird dadurch aufgeschoben. Laut Umfragen sinkt die Unterstützung für die Siedlungspolitik innerhalb der israelischen Gesellschaft seit 2009 stetig.

 

Siedeln ist teuer

 

In einer aktuellen Umfrage des »Samaria and Jordan Valley Research and Development Center« gaben knapp über die Hälfte der Befragten an, dass die Ausgaben für die Siedlungen zulasten des staatlichen Sozialsystems und der Bildungsausgaben innerhalb Israels gingen. Ebenso befürwortet eine knappe Mehrheit der Befragten eine Räumung der Siedlungen als Teil eines umfassenden Friedensschlusses – über 80 Prozent nennen jedoch ein komplettes Ende von palästinensischen Terrorakten als unabdingbare Voraussetzung dafür.

 

Im Gegensatz zu diesem skeptischen Trend gegenüber der Siedlungspolitik hat die aktuelle Regierungskoalition die Bautätigkeit in den Siedlungen eher beschleunigt als gedrosselt. Der drittgrößte Koalitionspartner von Netanjahus Parteienbündnis Likud-Beitenu ist die national-religiöse Partei HaBeit HaJehudi (»Jüdisches Haus«), zu deren Stammwählern viele Siedler zählen. Mit Wohnungsbauminister Uri Ariel hat HaBeit HaJehudi einen für die Genehmigung von neuen Wohneinheiten in den Siedlungen entscheidenden Schlüsselposten im Kabinett inne.

 

Ein Ja aus dem Amt für Wohnungsbau kann in höherer Instanz nur noch vom Obersten Gerichtshof oder der Militärverwaltung des Westjordanlandes kassiert werden. Ein Fortsetzen der Siedlungspolitik war nicht alleine ein Markenzeichen rechter Regierungskoalitionen in Israel. Gebaut wurde in den vergangenen 20 Jahren von allen israelischen Regierungen. Seit 1993, zu Beginn des Friedensprozesses zwischen Yasser Arafats PLO und der Regierung Jitzhak Rabins, ist die Siedlerbevölkerung im Westjordanland und Ostjerusalem von 240.000 auf 560.000 Menschen angestiegen – damit leben heute fast zehn Prozent der jüdischen Gesamtbevölkerung Israels jenseits der Grünen Linie, die das Westjordanland von israelischem Gebiet trennt.

 

Die Siedlergesellschaft ist durchaus heterogen

 

Allerdings stellen diejenigen Siedler mit national-religiöser Gesinnung nur eine Minderheit. Ungefähr 160.000 Menschen, die quer verstreut im Westjordanland leben, prägen so das international verbreitete Bild der Siedler. Die Mehrheit der Israelis jedoch, die unter dem Sammelbegriff »Siedler« zusammengefasst wird, dringt weniger weit in Palästinensergebiete vor. Sie leben in den jüdischen Vierteln Ostjerusalems und den großen Siedlungsblocks nahe der Grünen Linie. Alleine in den jüdischen Stadtvierteln Ostjerusalems, die 1967 von Israel errichtet wurden, leben heute ungefähr 200.000 Israelis.

 

Würde die Jerusalemer Straßenbahn auf ihrem Weg in die Ostjerusalemer Siedlung Pisgat Ze'ev nicht in den palästinensischen Stadtvierteln Beit Hanina und Schuafat Station machen, würde man kaum bemerken, im mehrheitlich arabischen Osten Jerusalems zu sein. Kaum etwas vermittelt dort den Eindruck einer klassischen Siedlung. Es gibt keine Zäune und keine bewaffneten Selbstschutzeinheiten, wie in den kleinen Siedlungen im Westjordanland. Auch die Bevölkerung in den Siedlungen Ostjerusalems ist keineswegs homogen.

 

Während manche der jüdischen Stadtviertel wie Ramat Eshkol fast ausschließlich von Ultraorthodoxen bewohnt sind, haben andere Viertel wie Pisgat Ze'ev einen großen Anteil an säkularen Neueinwanderern, vor allem aus der ehemaligen Sowjetunion. Was Viertel wie Ramat Eshkol und Pisgat Ze'ev miteinander verbindet, ist vor allem der hohe Anteil an Menschen am unteren Ende der Einkommensskala. Die Armutsrate unter der ultraorthodoxen Bevölkerung zählt neben der der arabischen Bevölkerung zu der höchsten in Israel.

 

Doch der Staat investiert immerhin in Wohnraum, Gesundheit und Bildungseinrichtungen für die Ultraorthodoxen. So wurde ab 1994 in Ostjerusalem das Viertel Ramat Shlomo (»Salomonshöhe«) für die unter Wohnungsnot leidende und schnell wachsende ultraorthodoxe Bevölkerung errichtet. Zum selben Zweck wurde ein Jahr zuvor Modi'in Illit gegründet. Durch massives Bevölkerungswachstum, Zuzug von ultraorthodoxen Juden aus der englischsprachigen Welt und den gezielten Ausbau der Siedlung stieg ihre Bevölkerung auf 60.000 Menschen an.

 

Damit ist Modi'in Illit heute die größte israelische Siedlung. Mit der Stadt El'ad wurde in den 1990er Jahren zwar auch eine Stadt für die Ultraorthodoxen innerhalb Israels gebaut – doch staatliche Subventionen und die Verfügbarkeit von unterdurchschnittlich bezahlten palästinensischen Arbeitskräften machen es für die Baufirmen billiger, jenseits der Grünen Linie zu bauen.

 

Subventionswirtschaft jenseits der Grünen Linie

 

Zudem ließen staatliche Subventionen am Rande mancher Siedlungen florierende Gewerbegebiete entstehen. Alleine im Gewerbegebiet der Siedlung Barkan haben sich 120 Firmen niedergelassen, die rund 5.000 Menschen beschäftigen. So etwa der israelische Weinhersteller »Barkan Wine Cellars«: Er ließ in den späten 1980er Jahren in Barkan ein großes Weingut anlegen und ist mittlerweile der zweitgrößte Weinproduzent Israels. Mangels Arbeitsmöglichkeiten in den arabischen Ortschaften pendeln auch viele Palästinenser zum Arbeiten in das Gewerbegebiet Barkan, sie machen hier fast 90 Prozent der Arbeiter aus.

 

Doch der israelische Staat subventioniert nicht nur großflächig die ökonomischen Aktivitäten von Firmen jenseits der Grünen Linie, sondern auch die Lebenshaltungskosten jedes einzelnen Siedlers. Wohnraum ist billiger, Immobilienkredite sind subventioniert, Lehrer bekommen höhere Löhne und das Bildungssystem ist kostenlos. Die staatlichen Ausgaben für einen Israeli innerhalb der Grünen Linie betragen nur ungefähr 40 Prozent der Ausgaben für einen Israeli in den Siedlungen. Mit dem »Yesha-Rat« verfügen die Siedler über eine Interessenvereinigung, die versucht, ihrer Sache ein modernes, zeitgemäßes Gewand zu verleihen.

 

Ihr Vorsitzender Danny Danan verurteilt die regelmäßig von radikalen Siedlern aus kleinen Außenposten ausgehenden Übergriffe an Palästinensern und die gelegentlichen Angriffe auf Armeeposten als »moralisch bankrott und kontraproduktiv«. Der aus Argentinien eingewanderte, säkulare Geschäftsmann und IT-Milliardär gilt als die gewandteste öffentliche Stimme der Siedler. Unter dem Titel »Israeli settlers are here to stay« (»Israelische Siedler sind hier, um zu bleiben«) war Dayans Haltung 2012 als Gastbeitrag in der New York Times zu lesen.

 

Er argumentiert, die internationale Gemeinschaft sei besser damit bedient, den Status Quo zu verbessern, anstatt eine perspektivlose Zweistaatenlösung voranzutreiben. Neben Danny Danan sitzt auch der heutige Wirtschaftsminister Naftali Bennet von HaBeit HaJehudi in der Führungsriege des »Yesha-Rats«. Bennet schlug während der jüngsten Verhandlungen unter der Regie John Kerrys eine Annexion der C-Gebiete vor – jene 60 Prozent der Fläche des Westjordanlandes, die unter völliger Kontrolle der israelischen Armee stehen und auf der sich die meisten Siedlungen befinden.

 

Die palästinensische Bevölkerung in den C-Gebieten beträgt nur ungefähr 300.000 Menschen – aus einer demographischen Perspektive wäre die Annexion also keine Bedrohung für den jüdischen Mehrheitscharakter des Staates. Andere Stimmen aus dem Lager der Siedler schlagen vor, das gesamte Westjordanland zu annektieren. Der palästinensischen Bevölkerung sollen laut diesem Konzept zwar Bürgerrechte in den meisten Bereichen, jedoch kein Wahlrecht verliehen werden.

 

Das Zahlenspiel der Siedlerstrategen

 

Anlässlich des Staatsbesuches von US-Präsident Barack Obamas in Israel 2013 verfasste der »Yesha-Rat« ein über 70-seitiges Strategiepapier für »Judäa und Samaria«. Zahlen spielen darin eine zentrale Rolle. Laut den Hochrechnungen der Siedlerstrategen beträgt die tatsächliche Zahl der palästinensischen Bevölkerung im Westjordanland und dem Gaza-Streifen lediglich 2,5 Millionen Menschen – fast zwei Millionen weniger als gemeinhin angenommen.

 

Die verbreitete Zahl von über vier Millionen sei eine gezielte Übertreibung der Palästinensischen Autonomiebehörde, um ihre Verhandlungsposition zu verbessern. In Anbetracht der steigenden natürlichen Wachstumsrate der jüdischen Bevölkerung bei abnehmenden arabischen Bevölkerungswachstum sei es daher möglich, mit Hilfe von jüdischer Einwanderung und arabischer Auswanderung über kurz oder lang eine jüdische Mehrheit in »Judäa und Samaria« zu erreichen.

 

Mit ihren eigenen demographischen Kalkulationen versuchen die Siedlerstrategen vor allem, eine Kernthese zu widerlegen, die sich mittlerweile in weiten Kreisen der liberalen, linken israelischen Öffentlichkeit durchgesetzt hat: Dass eine Aufgabe von großen Teilen des Westjordanlandes letztendlich unumgänglich sei, wenn Israel seinen Charakter als jüdischer und demokratischer Staat bewahren wolle. Wolle Israel am gesamten Territorium festhalten und dabei demokratisch bleiben wolle, müsse es auch der arabischen Bevölkerung das Wahlrecht verleihen, was langfristig wiederum seinen Charakter als jüdischen Staat gefährde.

 

In den vergangenen Wochen hat sich auch innerhalb der Regierung eine Zerreißprobe über das Thema der Siedlungspolitik und der militärischen Kontrolle des Westjordanlandes abgezeichnet. Finanzminister Yair Lapid aus der säkularen, liberalen Partei Yesh Atid forderte Netanjahu auf, über die zukünftigen, endgültigen Grenzen des Staates nachzudenken – und drohte mit dem Koalitionskollaps, sollte die Regierung eine Teilannexion des Westjordanlandes durchführen, wie dies von Yair Lapids Koalitionspartner Bennet und anderen Politiker aus dem rechten Lager gefordert wird.

 

Justizministerin Tzipi Livni drückte sich noch deutlicher aus. Die Siedlungen seien keine Sicherheitsgarantie für den Staat Israel – wie dies im rechten Lager häufig dargestellt wird – sondern vielmehr eine Belastung, welche Israel unnötige Ausgaben koste und die Beziehungen zur internationalen Gemeinschaft verschlechtere. Für B’Tselem ist es schon lange ausgemachte Sache, dass die Siedlungspolitik Israels demokratischen Charakter untergräbt: Laut Angaben der israelischen NGO kontrollieren alleine die 121 offiziell anerkannten Siedlungen im Westjordanland 42 Prozent der Landfläche und über 80 Prozent der Wasserreserven.

 

Um die Mittagszeit ist der Bus von Jerusalem nach Ariel bis auf den letzten Platz besetzt. Die meisten Passagiere tragen den typischen Kleidungsstil der religiös konservativen, aber nicht ultraorthodoxen Bevölkerung: Die Männer Kippas und manchmal Schläfenlocken, die Frauen lange Röcke und, sofern verheiratet, das charakteristische, über das Haar gebundene Tuch. Die Fahrgäste des Busses sind polyglott. Eine Frau spricht wechselnd Hebräisch und Englisch mit ihrer Tochter, man hört Französisch und Russisch.

 

Ein beträchtlicher Teil der Israelis, die auf der anderen Seite der Grünen Linie leben, sind religiöse Neueinwanderer. Vom Jerusalemer Busbahnhof fährt die Linie 148 einmal stündlich die Siedlungen im zentralen Westjordanland an. Endstation ist Ariel, mit knapp 20.000 Einwohnern die viertgrößte jüdische Siedlung, fernab der Grünen Linie nahe der palästinensischen Stadt Nablus gelegen.

 

Zerreißprobe für Netanjahus Koalition

 

Der Bus verlässt Jerusalem Richtung Norden, allerdings nicht durch das Nadelöhr des Qalandia-Checkpoints, an welchem sich der palästinensische Verkehr in die Gegenrichtung oft stundenlang staut. Auch die seit dem Jahr 2002 graduell errichtete Mauer, welche im Norden Jerusalems in weitem Bogen bis fast nach Ramallah ausufert, um die jüdischen Stadtviertel Ostjerusalems Pisgat Zeev und Neve Ya'acov einzuschließen, bleibt nur eine Randnotiz, wenn man im Siedlerbus in Richtung Norden fährt. Die Linie folgt der Route 60, der zentralen Achse, welche das Westjordanland von Süd nach Nord durchzieht.

 

Ursprünglich führte die Straße von Jerusalem durch Ramallah Richtung Norden, doch infolge der zweiten Intifada, während der es zu regelmäßigen Angriffen militanter Palästinenser auf passierende Siedler-Autos kam, ließ Israel eine Umgehungsstraße bauen. Jetzt ist die Stadtlandschaft des palästinensischen Wirtschaftszentrums Ramallah mit seiner Handvoll Hochhäusern nur noch als Kulisse im Hintergrund zu sehen, wenn der Bus die Siedlung Kochav Ya'acov anfährt. Am Eingang der Siedlung weist ein Schild auf ein Museum über das jemenitische Judentum, ein Weingut und einen Streichelzoo hin.

 

Die Hinweisschilder unterscheiden sich nicht von jenen diesseits der Grünen Linie. Auch das Logo der Firma, die die Tankstelle betreibt, sieht man hundertfach innerhalb Israels. Kochav Yaco'ov wirkt wie ein verschlafener Vorort Jerusalems, kaum 15 Fahrminuten entfernt. Auch von der militärischen Kontrolle des Westjordanlandes durch die israelische Armee ist wenig zu spüren, wenn man im Siedlerbus sitzt. Nur die Straßenkontrollen an den großen Kreuzungen, an denen israelische Soldaten die Autos passierender Palästinenser durchsuchen, erinnern daran, dass man sich nicht mehr im Israel innerhalb der Grünen Linie befindet.

 

Hier und da nimmt der Bus eine der Abzweigungen und schlängelt sich auf die Anhöhen. Die meisten Siedlungen sind schon von weitem als solche zu erkennen. Im Gegensatz zu den meisten palästinensischen Dörfern liegen sie auf den Hügelkuppen und haben einen charakteristischen Baustil, der sie von den arabischen Ortschaften unterscheidet. Ein Wachposten öffnet die elektrische Schranke, Kontrollen gibt es keine, wenn der Bus der staatlichen israelischen Busfirma Egged sich nähert. Die meisten Siedlungen geben ein wenig spektakuläres Ortsbild an: Rundstraßen, rote Ziegeldächer, Häuser aus einem Guss.

 

Wären da nicht die grandiosen Aussichten auf die umliegende Hügellandschaft des Westjordanlandes und die vereinzelten Außenposten und Barracken auf den Nachbarhügeln, könnte man sich auch in einem deutschen Einfamilienhaus-Wohngebiet wähnen. Um die Mittagszeit sind die Straßen bis auf die sporadischen Gruppen von Kindern, die aus den Schulen und religiösen Yeshivas nach Hause kommen, weitestgehend leer. Der Großteil der Bevölkerung ist religiös, die Rollenverteilung der Geschlechter klassisch. Viele Frauen bleiben zu Hause, während die Männer zur Arbeit in die naheliegenden Gewerbegebiete oder in die urbanen Zentren auf der anderen Seite der Grünen Linie pendeln.

 

Der israelische Staat kam den Siedlern nicht nur in diesem Bereich entgegen. Die ökonomischen Aktivitäten der im Westjordanland niedergelassenen Firmen sind durch Steuererleichterungen großzügig subventioniert. Darüberhinaus hat Israel einen Fond eingerichtet, der den Firmen die Einfuhrgebühren erstattet, die die Europäische Union für die Einfuhr von Waren aus Siedlungen erhebt. Die EU hat ein Zollkooperationsabkommen mit Israel und den Palästinensischen Gebieten abgeschlossen, von dem die Siedlungen ausgeschlossen sind.

 

In den offiziellen Erklärungen europäischer Außenpolitiker werden die Siedlungen protokollhaft »nach internationalem Recht illegal« und ein »Hindernis zum Frieden« genannt. Handelspolitisch haben sich diese Verlautbarungen jedoch kaum ausgewirkt. Die Importe der EU aus den israelischen Siedlungen betragen das 15-fache der Importe aus den palästinensischen Gebieten. Zuletzt waren es 230 Millionen Euro, das sind zwei Prozent der israelischen Gesamtexporte in die EU. Viele der in die EU exportierten Waren aus Siedlungen sind lediglich als »Made in Israel« gekennzeichnet.

 

Zwar sind die europäischen Zollbeamten verpflichtet, bei Waren aus Israel die genaue Herkunft per Postleitzahl zu verifizieren, doch in der Praxis geschieht das selten. Auch in den Supermärkten ist nur in den wenigsten europäischen Ländern zweifelsfrei zu erkennen, wo die Ware genau herkommt: Nur Großbritannien und Dänemark haben bisher die Regelung eingeführt, Waren aus israelischen Siedlungen auch explizit als solche zu kennzeichnen.

Von: 
Martin Hoffmann

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