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Muslimischer Dichterwettstreit

Die Fünf Säulen des »i, Slam«

Feature

»i, Slam« ist ein »muslimischer Dichterwettstreit«. Die Initiatoren wollen eine Lücke in der Szene schließen; auch Kritiker haben sich schon eingestellt. Demnächst sollen sogar Muslime, Christen, Juden und Bahai gemeinsam in den Ring.

»So, wie ich das Araber-Gen in mir trage, was mich zum potenziellen Selbstmordattentäter macht, habt ihr das Deutsch-Gen, was euch zu potenziellen Massenzwangopfern macht«, trägt Youssef Adlah in einem Poetry-Slam in Magdeburg vor. Sein Text hat einen langen Titel: »Ein Text, den ich nicht schreiben wollte, aber dennoch geschrieben habe, weil mir nichts besseres eingefallen ist, was wahrscheinlich an meinem Ausländer-Gen liegt«.

 

Der 23-jährige Student der Luft- und Raumfahrttechnik, der mit 10 Jahren nach Deutschland kam, knöpft sich den Migrationsdiskurs in deutschen Massenmedien und Thilo Sarrazin vor. Das Publikum ist außer sich vor Begeisterung. Die Welle der »Poetry-Slam-Kultur« nahm ihren Ausgang im Chicago der 1980er Jahre – auch wenn diese Form des »spontanen Dichterwettstreits« vermutlich älter ist als jede niedergeschriebene Form der Lyrik.

 

»Slammer« haben fünf bis acht Minuten Zeit, um ihre Texte vorzutragen. Jury ist das Publikum – auch bei »i, Slam«. Adlah sagt, dass er die Dichtung zur »Verarbeitung schwieriger Lebenssitutionen und seiner Kindheit« nutze. »Die Vollkommenheit finde ich in meinen Texten«, erklärt er. Große Worte, die zu seiner bemerkenswerten Bühnenpräsenz und seiner erkennbaren Routine passen.

 

Am Ende jedes Textes finde er »immer die Lösung für seine Probleme«, fügt er hinzu. Der Slammer Adlah tritt oft mit seinem Freund Younes Al-Amayra auf die Bühne: »Ich bin noch sehr grün hinter den Ohren, was das Slammen angeht«, sagt Amayra und schweift mit dem Blick zu seinem Freund und Slammer-Vorbild.

 

Seine Bescheidenheit legt Amayra jedoch auf der Bühne schnell ab: Ein Blatt nach dem anderen lässt er neben seine knöchelhohen Lederstiefel fallen und schießt dabei die Worte in die Menge – »vom Anblick der Opfer erschrocken nahm ich die erste Ausfahrt Richtung Freiheit, ich setzte meinen Ritt fort auf der Suche nach der nächsten Gelegenheit, in die Gedankenwelt eines vernunfbegabten Wesens einzutauchen.« 

 

Nur für Muslime?

 

Inzwischen ist »i, Slam« fast schon eine Marke: Auf einer muslimischen Netzwerkkonferenz erhielten die beiden Freunde 2000 Euro für ihr Projekt. Mit weiterer Unterstützung des Berliner Dialogprojekts »JUMA« veranstalteten Adlah und Amayra dann Ende 2011 den ersten Poetry-Slam für Muslime. Nach der Auftaktveranstaltung in Berlin folgten weitere Slams – in Hamburg, Köln und Bremen.

 

»Der Andrang macht deutlich, dass muslimische Jugendliche den Wunsch haben, ihre Meinung rauszulassen. Sie brauchen eine Plattform und diese haben wir ihnen geschaffen«, sagt Amayra, der Islamwissenschaft und Politikwissenschaft studiert hat. Die Veranstaltung soll maßgeschneidert für junge Muslime sein – eine Marktnische gewissermaßen.

 

Es gilt die Einhaltung der »Fünf Säulen des i, Slam«, im Wortlaut zitiert: 1. »Respect the Poet – jeder Poet bekommt seine Anerkennung völlig unabhängig von seiner Leistung. 2. Own Construction – jeder Poet muss gewährleisten, dass es sich bei den Poems um seine eigenen Texte handelt – kein geistiger Diebstahl!!!
 3. No Aids – der Dichter darf keine Requisiten wie Kostüme oder Musikinstrumente benutzen
. 4. Time Limit – der Poet darf das Zeitlimit von 6 min. nicht überschreiten, sonst droht Punktverlust.
 5. No Verbalism – verbale Attacken jeglicher Art sind zu unterlassen – der islamische Rahmen muss hier gewahrt bleiben.«

 

»Islamisch« sind natürlich auch die Trophäen für Gewinner: Während es bei anderen Poetry-Slams zur Belohnung Freibier gibt, wartet auf die Preisträger des »i, Slam« eine Kaaba-Miniatur und Wasser des heiligen Brunnens Zamzam in Mekka, abgefüllt in PET-Flaschen. Aber was wäre eine richtige Kulturveranstaltung ohne ernste Kritiker? Neulich war das ZDF-Team des »Forum am Freitag« zu Gast, einer wöchentlichen Sendung zu interreligiösen und islambezogenen Themen.

 

Younes al-Amayra freut sich gar nicht darüber, dass die Redakteure in ihrem Stück zu »i, Slam« sagten, es handle sich um eine Veranstaltung »von Muslimen für Muslime«. Das klinge ja so, als wolle man Nicht-Muslime kategorisch ausschließen, sagt Amayra. »Beim nächsten ›i, Slam‹ werden Juden, Christen, Muslime und Bahai gemeinsam antreten«, kündigte sein Partner an.

 

Zudem sei das Projekt ein Versuch, eine muslimische Jugendkultur zu stimulieren und die Kreativität junger Muslime zu wecken. Der »i, Slam« sei nur ein erster Schritt, um die muslimischen Teilnehmer für den Mainstream der Poetry-Slams konkurrenzfähig zu machen. Ein Trainingslager für die großen Bühnen des Dichterwettstreits?

 

»Wir tragen eine große Verantwortung«

 

Das Publikum setzt sich bislang hauptsächlich aus Muslimen zusammen – von 12 bis 30 Jahren. »Younes und Youssef« haben ihre Fangemeinde. Obwohl ihr Auftritt längst vorbei ist, kommen ständig Jugendliche auf sie zu und wollen Autogramme oder Handyfotos schießen. Wie ein Kolibri umkreist ein junges Mädchen mit dem dazu passenden eisblauen Kopftuch den Tisch, an dem die Beiden sitzten.

 

Ab und zu dreht sich Adlah zu ihr und schenkt ihr ein begehrtes Lächeln. Dann legt er wieder eine ernste Miene auf – ein falsch gewähltes Wort oder eine unbedachte Geste könnten die Vorbildfunktion der beiden Künstler in Frage stellen: »Wir tragen eine große Verantwortung gegenüber den Jugendichen und versuchen dieser gerecht zu werden«, betont Amayra, der derzeit als Grundschullehrer arbeitet.

 

Sie sind ein eingespieltes Team – der eine gibt sich verantwortungsbewusst, staatstragend und hilfsbereit, der andere witzig, charmant und etwas kindgeblieben. Nun planen sie, neue Talente für die Kunst des Poetry-Slam zu scouten. Ein Lyrik-Workshop für interessierte Jugendliche. Das Angebot ist natürlich kostenlos. Die Resonanz des Publikums ist wichtig für die Initiatoren. Kritik an den eigenen Texten haben sie noch nie gehört, zumindestens nicht vom Publikum.

 

»Younes und Youssef« jedenfalls sind überzeugt davon, dass sie in der muslimischen Community schon viele kennen. Für Popularität darüber hinaus müssen die beiden Macher allerdings noch arbeiten.    Der nächste »i, Slam – we, Slam«  findet als erster interreligiöser Poetry-Slam mit einem Rabbi, einem Imam und christlichen und bahaischen Geistlichen am 20. Oktober 2012 in der Berliner Urania statt.

Von: 
Sümeyye Çelikkaya

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