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IS-Offensive in Syrien

Die Entscheidungsschlacht der Kurden?

Analyse

Nach der Großoffensive im Irak wendet sich der »Islamische Staat« (IS) wieder gen Syrien. Hilfe für Einwohner und Zivilisten in den kurdischen Enklaven ist nicht in Sicht. Wie lange kann Kobani den hochgerüsteten Dschihadisten standhalten?

Die schlimmsten Befürchtungen der syrischen Kurden haben sich bewahrheitet: Der »Islamische Staat« (IS, vormals ISIS) attackiert seit dem 6. Juli die kurdische Enklave Kobani, arabisch Ayn al-Arab, mit allen verfügbaren Kräften. Nachdem IS im Irak große Gebietsgewinne verzeichnen konnte, wurden moderne Waffensysteme, die die irakische Armee auf ihrer Flucht aus Mossul zurückgelassen hatte, in Richtung Syrien transportiert. Schnell wurde klar, welche Region die Islamisten in den Blick nahmen.

 

In Kobani übten die Kurden 2012 ihren ersten Aufstand – sowohl gegen das syrische Regime wie auch die arabische Opposition. Es ist die Wiege des kurdischen »dritten Weges«. Neben dieser symbolischen Funktion sind aus strategischer Sicht der Grenzübergang zur Türkei wie auch die Landwirtschaft und der Zugang zu Trinkwasser in der fruchtbaren Region wichtige Faktoren. Ab den Abendstunden des 6. Juli griff IS daher auf breiter Front die Verteidigungslinien der kurdischen Miliz YPG an.

 

Dabei setzen die Islamisten auch die erbeuteten schweren Waffen wie moderne Panzer, schwere Artillerie, Nachtsichtgeräte und gepanzerte Humvees ein. Die YPG konnte den Angriff immer wieder zurückschlagen – unter steigenden Verlusten. In wenigen Tagen kamen nach offiziellen Angaben über 60 kurdische Kämpfer ums Leben – eine Verlustrate, welche bis dato bei den kampferfahrenen Kurden undenkbar war. Die Kämpfe sind seitdem immer wieder aufgeflammt und IS konnte mehrere Dörfer erobern. Der Bewegungsraum der Kurden wird somit Stück für Stück eingeengt – denn die Islamisten haben die Kurden von allen Seiten umzingelt – nur der Grenzübergang zur Türkei ist in kurdischer Hand.

 

Neben den militärischen Verlusten ist die humanitäre Situation katastrophal. In der Stadt Kobani selber leben neben den 200.000 ursprünglichen Einwohnern auch weitere 200.000 arabische, christliche und kurdische Flüchtlinge aus allen Landesteilen. Das Krankenhaus ist mit der täglichen Flut an Verwundeten – überwiegend Zivilisten, die durch den feindlichen Granatbeschuss verletzt wurden – überfordert. Die Versorgungslage mit frischen Nahrungsmitteln wird zunehmend schwieriger – auch da die Türkei die Grenze nur unregelmäßig und für kurze Zeit öffnet.

 

Noch einen Rückschlag haben die Kurden durch die internationale Gemeinschaft hinnehmen müssen: Der UN-Sicherheitsrat hat am 14. Juli beschlossen, unabhängig von einem Zugeständnis der syrischen Regierung, Flüchtlinge in Syrien mit Hilfsgütern zu versorgen. Jedoch liegen alle Grenzübergänge, die dafür ausgewählt wurden, in nicht-kurdischen Gebieten – der Grenzübergang Kobani steht nicht auf der Liste. Das gefährdet auch die aktuellen Verhandlungen zwischen der türkischen Regierung und der PKK: Kurdische Anwohner aus dem türkischen Grenzgebiet haben in den vergangenen Nächten angefangen, die Grenzanlagen zwischen der Türkei und Syrien einzureißen.

 

Hunderte von Freiwilligen sind bereits in Richtung Kobani aufgebrochen, um die YPG zu unterstützen. Bisher haben sich die türkische Polizei und das Militär zurückgehalten – die Frage bleibt, für wie lange. Die kommenden Tage werden zeigen, wie sich die Situation weiter entwickeln wird und ob sich die Kurden ohne internationale Hilfe weiterhin gegenüber IS behaupten können. Zur Zeit bereiten die Islamisten einen weiteren Großangriff vor – diesmal auf die Stadt Serekanye (Ras al-Ayn), um die kurdischen Kräfte in einem größeren Gebiet zu binden.

 

Ob die YPG, waffentechnisch weit unterlegen, auf die Dauer solche großen Angriffswellen zurückschlagen kann, ist fraglich. Und die kurdischen Bewohner wissen aus Erfahrung, was ihnen im schlimmsten Fall droht: Vertreibung und Hinrichtung wegen Zusammenarbeit mit der YPG und des tödlichen Vorwurfs der Apostasie.

Von: 
Benjamin Hiller

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