Die Siedlungshügel im Nordosten Syriens sind Zeugen von Jahrtausenden Geschichte. Krieg und Klimawandel bedrohen dieses einzigartige Kulturerbe. Archäologen und Aktivisten vor Ort feiern dennoch Erfolge im Kleinen.
Das Thermometer klettert an diesem Sommertag auf schwüle 40,8 Grad Celsius. Die Passagiere, die an der Grenze warten, schwenken behelfsmäßige Ventilatoren um ihre verschwitzten und erschöpften Gesichter. 80 Kilometer entfernt hatten sich die Menschen vor 5.500 Jahren in Tel Hamoukar an diese Hitzewellen angepasst, indem sie das erfanden, was heute als die älteste Klimaanlage der Geschichte bekannt ist: Ein System aus Gebäuden mit parallelen Doppelwänden, die durch einen Abstand von nicht mehr als 15 Zentimetern voneinander getrennt waren, so dass die einzelnen Abschnitte des Komplexes durch die Frischluft gekühlt werden konnten.
Auf der Weiterfahrt kommen wir an Städten und Ortschaften vorbei, die mit Hunderten von Dörfern verbunden sind, die im Horizont der Weizenfelder aufgehen. Die goldenen Spitzen kontrastieren mit dunkelbraunen Lehmziegelhäusern und Siedlungshügeln, die in der Archäologie als Tells bezeichnet werden, abgeleitet vom arabischen Wort für Hügel. Diese Tells bestehen aus angesammeltem und geschichtetem Schutt – Besiedelungsschichten unzähliger Generationen.
Einige dieser Tells in Nordsyrien haben vor allem europäische Archäologen in den letzten drei Jahrhunderten ausgegraben. Viele dieser Stätten sind Zeugen von Imperien und Zivilisationen, von den Sumerern und Assyrern bis zu den Römern und Osmanen. Obwohl diese Stätten so viele Bedrohungen überstanden haben, die so alt sind wie die Zeit selbst, darunter Grabräuber oder auch die Zerstörung durch Kriege, sehen sie sich nun einer neuen Gefahr gegenüber: den Auswirkungen des Klimawandels – und die fallen infolge des anhaltenden Konflikts noch verheerender aus. Die kurdisch dominierten »Demokratischen Kräfte Syriens« (SDF), das syrische Regime sowie von der Türkei unterstützte Milizen ringen im Nordosten Syriens um die Macht.
Die Mischung aus Überschwemmungen und sinkenden Pegeln haben dazu geführt, dass die Schichten in Trockenzeiten teilweise eingestürzt sind
»Diese in Lehmbauweise errichtete Stätte bedarf dringend einer Instandhaltung und Restaurierung«, sagt Montaser Qasim über Sukur Al-Uhaymar, eine dieser Tell-Siedlungen, deren Besiedlung bis ins siebte Jahrtausend v. Chr. zurückreicht. Der Archäologe leitet seit 2017 die Altertumsverwaltung in der Region Jazira der Autonomen Verwaltung Nordostsyriens, auch bekannt unter der Eigenbezeichnung Rojava.
Qasim setzt sich seit Beginn des Konflikts in Syrien im Jahr 2011 für den Schutz von Altertümern vor Schmuggel, Plünderung und Sachbeschädigung ein. Die durch den Klimawandel verursachten extremen Witterungsbedingungen haben viele archäologische Stätten in der Gegend in Mitleidenschaft gezogen, insbesondere an Flussufern gelegene. Die Mischung aus Überschwemmungen und sinkenden Pegeln haben dazu geführt, dass die Schichten in Trockenzeiten teilweise eingestürzt sind. Der Wassermangel ist nicht nur auf Dürre zurückzuführen, sondern auch Ergebnis der Drosselung von Euphrat und Tigris durch die Staudämme in der benachbarten Türkei.
Einerseits haben die sinkenden Flusspegel mitunter antike architektonische Strukturen wie Mauern, Höfe und Töpferwaren freigelegt. »Andererseits sind Stätten wie Tell Taban, das wie eine Art Damm in der Mitte des Flusses Khabur in Hasakah liegt, aufgrund der Trockenheit der Erosion ausgesetzt, was zum Einsturz der architektonischen Strukturen führt«, erklärte Archäologe Qasim.
Obwohl das Epizentrum in der Südtürkei lag, waren auch archäologische Stätten im Norden Syriens vom Erdbeben im Februar 2023 betroffen
Nach Angaben der staatlichen Generaldirektion für Altertümer und Museen sind im Nordosten Syriens 1.500 archäologische Stätten registriert, darunter über 1.400 im Gouvernement Hasakah. Allerdings ist nur ein verschwindend geringer Teil davon eingehend untersucht worden. Zu den insgesamt elf offiziellen Grabungsstätten gehört Tell Fekheriye, in dem einige Altertumsforscher die Hauptstadt des bronzezeitlichen Mitanni-Reichs vermuten. Doch die zweifellos berühmteste Grabungsstätte ist diejenige am Tell Halaf, die der deutsche Diplomat und Archäologe Max von Oppenheim 1899 leitete.
Viele von Oppenheims Funden aus den Expeditionen 1911–13 und 1927–29 gelangten nach Berlin und wurden 1931 im privaten Tell-Halaf-Museum ausgestellt. Nach der Zerstörung des Museums an der Berliner Franklinstraße dauerte es Jahrzehnte, bis die Skulpturen und Reliefplatten wiederentdeckt, restauriert und schließlich im Pergamonmuseum ausgestellt wurden.
In den letzten 7.000 Jahren hat die Region des »Fruchtbaren Halbmonds« erhebliche klimatische Veränderungen durchlaufen. Steigende Temperaturen und veränderte Niederschlagsmuster in den vergangenen Jahren sind jedoch in erster Linie auf menschliche Aktivitäten zurückzuführen – mit tiefgreifenden Auswirkungen auf die Umwelt und die Gesellschaft in der Region. Während es einst Oppenheim gelang, einige Artefakte des Tell Halaf zu retten, sind andere Stätten durch den anhaltenden Krieg und den Klimawandel nun vom teilweisen oder vollständigen Zerfall bedroht.
Am 6. Februar 2023 erschütterte ein Erdbeben der Stärke 7,8 die Region. Obwohl das Epizentrum in der Südtürkei lag, waren auch archäologische Stätten im Norden Syriens betroffen. So auch die Burg Najm in der Region Manbidsch am Euphrat. Die imposante Festung geht auf das 7. Jahrhundert zurück – womöglich gar auf den Kalifen Uthman Ibn Affan (644–656). Die meisten Bauten stammen aber aus dem Mittelalter. Der seldschukische General Nur Al-Din Zengi (1118–1174), der dem ersten Kreuzfahrerstaat, der Grafschaft von Edessa, ein Ende bereitete, ließ die Burg restaurieren.
Viele der notwendigen Daten sind bei der staatlichen Antikenbehörde in Damaskus gespeichert – und die steht unter Kontrolle des Assad-Regimes
Die strukturelle Integrität der Festung mit ihrem Bäderkomplex aus vier Flügeln und einer Moschee mit Außenarkade war bereits in den vergangenen Jahren durch Starkregen geschwächt worden. Das Erdbeben hat die Anlage weiter beschädigt: Wände, Böden und Decken sowie große Teile der Außenmauern der Burg brachen vollständig ab.
Die Burg Sukkara in den Abdul-Aziz-Bergen etwa 20 Kilometer südwestlich von Hasakah stammt ebenso aus der Zengiden-Zeit. Die Ruinen waren zwar schon zuvor wesentlich stärker erodiert als die Festung Najm, daher haben die verbliebenen Türme das Erdbeben nicht überstanden. Da die Antikenbehörde der Autonomieverwaltung nur über wenige Experten und Ressourcen verfügt, beschränkt sich ihre Arbeit auf Sofortmaßnahmen, wie die Reparatur von Rissen in Burgtürmen und den Schutz akut einsturzgefährdeter Anlagen vor Starkregen und sengender Sommerhitze.
»Es ist schwierig, sich ein umfassendes Bild über den Zustand aller Stätten zu machen«, beklagt Montaser Al-Qasim. Denn viele der dafür notwendigen Daten sind bei der staatlichen Antikenbehörde in Damaskus gespeichert – und die steht unter Kontrolle des Assad-Regimes. Das erschwert es, die Auswirkungen des Klimawandels auf archäologische Stätten über einen längeren Zeitraum zu analysieren und auszuwerten.
Lokale Initiativen versuchen, gemeinsam mit internationalen Organisationen einige der Kulturerbestätten zu bewahren. So etwa Tell Baydar, das seine Blütezeit etwa 2.500 v. Chr. erlebte. Seit 2021 bemüht sich ein Projekt der Schweizer NGO »Fight for Humanity« darum, die empfindlichen Lehmwände des Siedlungshügels 20 Kilometer nördlich von Hasakah vor weiterem Schaden durch Starkregen zu schützen.
Der Einsatz der 3D-Drucktechnologie ermöglichte etwa die Herstellung dreidimensionaler Modelle für 50 geplünderte Artefakte aus Raqqa
Weiter westlich der Jazira widmet sich eine lokale NGO dem Erhalt der Altertümer in Raqqa – der syrischen Hauptstadt des sogenannten Islamischen Staats (IS). »Ru'ya« (zu Deutsch »Vision«) wurde nach der Befreiungs der Stadt im Jahr 2017 gegründet. Die Organisation arbeitete zunächst daran, vollständig und teilweise zerstörte Teile des Archäologischen Museums von Raqqa wieder instand zu setzen. Dabei archivierte sie 1.090 Artefakte – und setzte 3D-Drucker ein, um fehlende Stücke zu rekonstruieren.
Auch die Wartungsarbeiten an der Zitadelle von Raqqa, beschädigt durch Raubgrabungen der IS-Terroristen ebenso wie die Folgen von Artilleriebeschuss, schreiten voran. Sorgen bereitet dagegen der Zustand der historischen Stadtmauer, die teils auf die Gründung in abbasidischer Zeit zurückgeht. Auch hier hat unter anderem Starkregen dazu geführt, dass sich Ziegelsteine von den Mauern lösen und ganze Abschnitte einzustürzen drohen.
»Ru'ya« hat ein Programm zum präventiven Erhalt des materiellen und immateriellen Erbes aufgelegt, das ein elektronisches Archivierungsprogramm verwendet – speziell für die Bewahrung archäologischer Funde entwickelt. Die Artefakte werden in Boxen mit detaillierten Beschreibungen aufbewahrt. Verzeichnet sind dort unter anderem die Art des Artefakts, der Fundort, der historische Zeitraum sowie der Restaurierungsbedarf. Diese Informationen werden sowohl auf Arabisch als auch auf Englisch vermerkt und mit Fotos als Referenz versehen.
Der Einsatz der 3D-Drucktechnologie ermöglichte etwa die Herstellung dreidimensionaler Modelle für 50 geplünderte Artefakte aus Raqqa. Im nächsten Schritt werden diese Modelle mit Hilfe spezieller Materialien eingefärbt, damit sie optisch den Originalen entsprechen. Trotz solcher Teilerfolge bleibt die Bewahrung des materiellen und immateriellen Kulturerbes in diesem Teil Syriens ein langfristiges Unterfangen, das oft von der sporadischen Finanzierung durch auswärtige Geber abhängt, während die Organisationen vor Ort nur über begrenzte Ressourcen, dafür aber über beträchtliches Fachwissen verfügen.
Khabat Abbas lebt und arbeitet im Nordosten Syriens. Die freie Journalistin berichtet vor allem über die Folgen von Krieg und Klimawandel für das kulturelle Erbe der Region Jazira.