Seit Monaten schaut Palästina gebannt nach Syrien. Doch die öffentliche Meinung ist gespalten und auch die politischen Parteien haben Schwierigkeiten, sich zu Syrien zu positionieren. Ein Blick auf das palästinensische Meinungsbild.
Spätestens, als vor wenigen Wochen Anhänger von Baschar al-Assad zu einer Demonstration in Ramallah, der inoffiziellen Hauptstadt des Westjordanlands, aufriefen, zeigte sich die palästinensische Anteilnahme an den Entwicklungen in Syrien. Wie die palästinensische Nachrichtenagentur Maan berichtete, hätten Demonstranten Banner gegen NATO-Intervention und Medienberichterstattung zu Syrien hoch gehalten.
Als Assad-Unterstützer auf Assad-Gegner gestoßen seien, sei es zu Auseinandersetzungen und einigen Verhaftungen gekommen. Wenige Tage zuvor hatte dieselbe Nachrichtenagentur bereits von einer anderen Kundgebung zu Syrien berichtet. Diese war jedoch im Gaza-Streifen abgehalten und von Assad-Gegnern organisiert worden.
In einem Gebiet, das seit Jahrzehnten als Subjekt und Objekt politischer Geschehnisse fungiert, sind derlei politische Emotionen selten geworden. Syrien ist eine Ausnahme. Die Geschichte der Palästinenser ist seit jeher eng mit der Syriens verknüpft. Durch die geografische Nähe, politische Beziehungen und letztlich auch durch die vielen palästinensischen Flüchtlinge in Syrien, wirken sich Entwicklungen bei den Nachbarn unmittelbar aufeinander aus.
Von den Straßen bis in die Parteizentralen dienen Palästinensern die derzeitigen Umbrüche in Syrien deshalb als Projektionsfläche für Hoffnungen und Befürchtungen gleichermaßen – aber auch für politisches Kalkül. Grund genug, um das palästinensische Stimmungsbild zu Syrien genauer unter die Lupe zu nehmen.
Strikte Ablehnung einer Intervention
So verschieden die im folgenden dargestellten Positionen auch sind, so einig sind sie sich in einem Punkt: eine Intervention, insbesondere durch NATO-Truppen, lehnen Palästinenser strikt ab. Wenn sich viele auch einen Sturz des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad herbeiwünschen, sei der Preis einer Intervention zu hoch.
Viele Intellektuelle der unterschiedlichsten palästinensischen Lager sind mittlerweile an die Öffentlichkeit gegangen, um sich für eine interne Lösung des syrischen Bürgerkriegs stark zu machen. Der palästinensische Geschichts-Professor Joseph Massad ist einer von ihnen. Er folgert aus den Lehren vorheriger Interventionen, dass syrische Oppositionelle historisch falsch liegen, wenn sie davon ausgehen, dass eine internationale Intervention Frieden und Demokratie für Syrien bringen kann. »Die vielen Opfer des Irak-Kriegs und die Zerstörung des Landes, sowie das andauernde Verwüsten und Morden in Libyen widerlegen sie.«
Palästinenser stellen sich gegen ein militärisches Eingreifen, weil sie die Folgen fürchten, die ein Eingreifen in Syrien mit sich bringen könne. Neben Mitgefühl werden sie in ihrer Kritik auch von Ängsten um ihre eigene Situation angetrieben. So gehörten beispielsweise zu den Flüchtlingsströmen, die den Irak in Folge der amerikanischen Invasion 2003 verließen, tausende palästinensischer Flüchtlinge.
Eine Intervention in Syrien könnte wegen der geografischen Nähe Palästina weitaus direkter betreffen. Der palästinensische Soziologe Nassar Ibrahim, bringt die Stimmung in Palästina auf den Punkt: »Wie ich glaube, sind 99 Prozent aller Palästinenser gegen eine NATO-Intervention in Syrien.«
Fatah sieht sich bestätigt
Darüber hinaus herrscht jedoch Uneinigkeit. Lediglich die Nähe zu den politischen Lagern gibt Aufschluss auf die verschiedenen Meinungen zu Syrien. Wer der Fatah, der Hamas oder sonst einer Partei nahe steht, der vertritt zumeist eine ähnliche Position wie die entsprechende Partei.
So lässt sich das Lager der Fatah tendenziell zu den Gegnern des syrischen Regimes zuordnen. Deren Assad-kritische Perspektive spiegelt sich in der parteinahen Presse wider; Meldungen zu Syrien werden meist aus Sicht der Rebellen geschildert, es werden regelmäßig Stimmen syrischer Oppositioneller abgedruckt, während kritische Kommentare über den syrischen Aufstand die Ausnahme sind.
Auch die Hamas tendiert in Richtung syrischer Opposition – seit kurzem auch offiziell. Bei einem Besuch in Kairo durchbrach Ismail Haniyeh, Vorsitzender des Gaza-Flügels der Bewegung, das Schweigen der Partei und stellte sich hinter die Rebellion in Syrien. Lange Zeit hatte sich die Parteiführung der Hamas mit Stellungnahmen zu den Umbrüchen sichtlich zurückgehalten, doch mittlerweile sind sich Analysten einig – die Hamas hat dem syrischen Regime den Rücken gekehrt.
Lediglich die palästinensische Linke stellt sich zumindest teilweise hinter Assad. Wie auch die Hamas pflegen linken Parteien in Palästina seit Jahren enge Beziehungen zu Damaskus. Anders als die Hamas scheint sich zumindest aber die PFLP vorerst nicht von Syrien abzuwenden. So hatte Maher al-Taher, Vorsitzender der Exil-Führung der PFLP, jüngst bestätigt, dass das Hauptquartier der Partei in Damaskus weiterhin normal operiere und damit Gerüchte widerlegt, wonach sich auch seine Partei aus Syrien zurückziehe.
Konkurrent statt Widersacher?
Die Geschehnisse in Syrien würden in Palästina jedoch nicht derart für Aufregung sorgen, wenn die Fronten den Positionierungen der Parteien entsprechen würden. Es spricht vieles dafür, dass auch die Parteipositionen weniger eindeutig sind und dass sich hinter ihnen Richtungs- und Machtkämpfe verbergen.
Ein genauerer Blick auf das Fatah-Lager offenbart beispielsweise, dass sich die Partei in einer heiklen Situation befindet. Seit den in Palästina umstrittenen Oslo-Abkommen Anfang der 1990er Jahre ist ein Zwist zwischen Fatah und Syrien zu beobachten. Das traditionell panarabistische Syrien, damals noch unter der Führung von Baschar al-Assads Vater, lehnte Verhandlungen mit Israel unter der Schirmherrschaft der USA strikt ab, während sich die Fatah auf die Abkommen mit Israel einigte.
Seither wurde Syrien von der Fatah-Führungsriege »als Feind betrachtet, der die palästinensische Opposition unterstützt«, schaut Nassar Ibrahim zurück. »Tatsächlich hatten alle Parteien, die sich gegen Oslo gestellt hatten, ihre Hauptquartiere in Damaskus bezogen und von dort aus ihre Kampagnen gegen die palästinensische Autonomiebehörde gestartet.«
Vor diesem Hintergrund sollte ein Sturz Assads also im Interesse der Fatah sein – wäre da nicht der Arabische Frühling und der rasante Aufstieg der Muslimbrüder. Mit dem Sturz des ägyptischen Despoten Hosni Mubarak hatte die Fatah bereits einen wichtigen Verbündeten verloren und sich in der Region zunehmend isoliert. Da die Muslimbrüder nun auch in Syrien zu einem möglichen Nachfolger von Assads Baath-Partei heranwachsen könnten, muss die Fatah befürchten, regional weiter marginalisiert zu werden. Assads Sturz würde für sie bedeuten, dass ein Widersacher entfallen, aber ein anderer Konkurrent gestärkt werden könnte.
Das Dilemma der Hamas
Dieser andere Konkurrent ist die Hamas. Die Partei war 1987 als palästinensischer Ableger der Muslimbrüder gegründet worden und pflegt bis heute enge Beziehungen zu ihnen. Wie Analysten vermuten, könnte die Hamas nun als Sieger der Umbrüche in der Arabischen Welt hervor gehen und damit ihre rasante Geschichte fortsetzen.
»Obwohl sich die Macht-Diskrepanz zwischen Israel und den Palästinensern kaum verändert hat, ist die Hamas von einem lokalen Flügel der ägyptischen Muslimbrüder zu einer tour de force in der palästinensischen Gesellschaft geworden«, beschreibt der palästinensische Journalist Ramzy Baroud den Aufstieg der Partei. Nun könne sie »auch zu einem wichtigen regionalen Akteur heranwachsen.«
Die jetzige Situation in Syrien stellt jedoch auch die Hamas vor große Fragen. Seit den 1990er Jahren hatte sie – wie auch die anderen Parteien, die sich gegen die Oslo-Abkommen gestellt hatten – in Damaskus Quartier bezogen. Nach und nach hatte sich die Partei dem regionalen Lager um den Iran, dem auch Syrien angehörte, angenähert. Während insbesondere die Gaza-Führung finanziell durch den Iran unterstützt wurde, diente Syrien der Exil-Führung der Partei als politische Plattform, von welcher aus sie ihren Einfluss ausbauen konnte.
Dementsprechend lässt sich die späte Positionierung der Hamas zu Syrien einfach erklären: die Partei stand vor einem Dilemma. Der Arabische Frühling hat dem politischen Islam im Allgemeinen und den Muslimbrüdern im Besonderen zu einem rasanten Aufstieg verholfen. Die Hamas wiederum möchte an diesem Aufschwung teilhaben. Nun müssen sie in Syrien beobachten, dass die Muslimbrüder zur wichtigen Fraktion innerhalb der Opposition heran gewachsen sind, »aber sie kann die Hilfe nicht leugnen, die sie in der Vergangenheit durch die syrische Führung bekommen hat«, legt Nassar Ibrahim das Dilemma der Partei dar.
Das Misstrauen der Linken
Das linke Spektrum in Palästina sieht sich bezüglich Syriens mit ähnlichen Schwierigkeiten konfrontiert und steht vor einem Zwiespalt. Viele palästinensische Linke gehören seit langem zu den stärksten Kritikern des syrischen Regimes, obwohl auf politischer Ebene durchaus Beziehungen bestehen. Die linke Perspektive auf Syrien ist jedoch weitestgehend unberührt von Planspielen und politischem Kalkül der linken Parteien, da die Linke in Palästina kaum mehr parteipolitisch organisiert ist.
Als Assad nun mit Brutalität auf die aufkommenden Proteste im eigenen Land reagierte, verspielte sich der syrische Präsident auch den letzten Rückhalt in der palästinensischen Öffentlichkeit. »Die schiere Gewalt ist einfach nicht zu verteidigen«, verurteilt Ramzy Baroud die brutalen Methoden Assads, mit denen das Regime gegen den Aufstand vorgeht. Andererseits aber gehe es in Syrien um mehr, als es in den Medien dargestellt werde. Syrien sei kein weiteres Tunesien oder Ägypten. »Ein gewaltfreier Volksaufstand unterscheidet sich fundamental von einer bewaffneten Rebellion.«
In Barouds Medienkritik drückt sich die zunehmende Skepsis gegenüber den syrischen Rebellen aus, die sich unter palästinensischen Linken ausbreitet. In den vergangenen Monaten waren nicht allein Meldungen über Gräueltaten der syrischen Armee nach Palästina gedrungen – auch das Image der syrischen Rebellen, insbesondere das der »Freien Syrischen Armee« hatte stark gelitten. Zudem hatte das engagierte Verhalten der Golfstaaten einige Fragezeichen hervorgerufen – insbesondere die Rufe nach Intervention haben viele Palästinenser aufhorchen lassen.
Vor diesem Hintergrund ergibt sich der Zwiespalt der Linken: sie vertrauen weder Regime noch Opposition. Wenn auch Assad in der palästinensischen Linken mittlerweile ein kleines Comeback gefeiert hat, würden nur wenige Palästinenser soweit gehen und der Propaganda des syrischen Regimes, wonach der Aufstand von Beginn an ein amerikanischer Komplott gewesen sei, Glauben schenken. Mehr und mehr Palästinenser gehen aber davon aus, dass – genau wie der Iran oder Russland hinter dem syrischen Regime vermutet wird – auch die syrische Opposition ausländische Unterstützung bezieht.