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Projekt »Time in Turkey«

Schau dir die Türkei an und zeig mir, was du siehst

Feature

25 Weltklassefotografen, 25 Perspektiven, ein gemeinsames Thema: Mit dem Projekt »Time in Turkey« feiert die türkische Zeitung Zaman ihr 25-jähriges Bestehen, die moderne Türkei – und den engagierten Fotojournalismus.

Wie sieht die moderne Türkei aus? Wo sind die Orte, an denen man ein Gefühl für das Land bekommt? Wer sind die Menschen, die das Bild der Türkischen Republik heute prägen?

 

Sind es die Reichen und Schönen von Istanbul, die vom Finanzboom der letzten Jahre profitieren? Sind es die armenischen, griechischen und kurdischen Minderheiten, die jenseits vom gesellschaftlichen Mainstream ihre Existenz behaupten? Sind es die Bergleute, Textilarbeiterinnen und Teebauern, die große Teile zum Wirtschaftswachstum beitragen? Oder sind es Fußballfans, Serienstars, tanzende Derwische?

 

Die Antwort, soviel versteht sich von selbst, ist eine Mischung aus all diesen Gruppen, einer Vielzahl von Orten, Gegensätzen und Geschichten.

 

25 dieser Geschichten, erzählt aus der Perspektive von Außenstehenden, wurden nun im Rahmen eines ehrgeizigen Fotoprojektes mit dem Titel »Time in Turkey« zusammengeführt, auf die Beine gestellt von der türkischen Tageszeitung Zaman. 25 Fotografen von Weltrang, 25 beeindruckende Bildreportagen, 25 unterschiedliche Blicke auf die Türkei – ein wahrlich ehrgeiziges Prestigeprojekt, das sich das religiös-konservative Blatt anlässlich seines 25-jährigen Jubiläums leistete.

 

Das Ergebnis der einzigartigen Kollaboration ist seit Mitte November in Istanbul zu sehen, verteilt auf sieben verschiedene Galerien entlang der Istiklal-Straße, dem meistbesuchten Einkaufsboulevard der Stadt. Die moderne Türkei, die von den am Projekt beteiligten Fotografen hier präsentiert wird, das sind unter anderem die Farben von Istanbul, luxuriöse Wohnanlagen und nagelneue Autobahnen. Das sind aber auch die von Staudamm-Projekten bedrohten Kulturschätze des Südostens, die rücksichtslose Verdrängung sozial schwacher Anwohner aus dem Istanbuler Viertel Tarlabasi im Zuge der urbanen Erneuerung oder das Leben gesellschaftlicher Randgruppen in den Vororten türkischer Großstädte.

 

Vom Präsidentenpalast bis zur Kohlemine

 

»Alle Fotojournalisten, die wir für das Projekt gewinnen konnten, haben uns Geschichten aus unserer Heimat gezeigt, bei denen wir selbst vorher nicht wirklich hingesehen haben«, sagt Selahattin Sevi, Bildredakteur der Zaman und Ideengeber von »Time in Turkey«, der vor Begeisterung strahlt, wenn er von dem Projekt erzählt. Inhaltlichen Einfluss habe seine Zeitung in keinster Weise genommen, und die Themen seien gemeinsam mit den beteiligten Fotografen festgelegt worden. Die einzige Zielvorgabe sei gewesen, dass die Bilder keine orientalistischen Klischees bedienen durften.

 

Das wäre den für das Projekt engagierten Fotografen aber vermutlich ohnehin nicht eingefallen. Die Liste der Beitragenden liest sich wie ein Who is Who des internationalen Fotojournalismus: Der amerikanische Fotograf Steve McCurry, dessen in den 1980-ern entstandenes Porträt eines afghanischen Mädchens zum Markenzeichen des Magazins National Geographic wurde und ihn weltberühmt machte, ist dabei. Der Italiener Paolo Pellegrin, Mitglied bei der Agentur Magnum und Gewinner des »World Press Photo Award« ebenfalls. Und der mehrfach preisgekrönte Schwede Anders Petersen, um nur einige Beispiele zu nennen.

 

Die einzelnen Fotoarbeiten ergeben zusammen ein kaleidoskopartiges Bild der Türkei: Private Einblicke in den Alltag des türkischen Staatspräsidenten Abdullah Gül, fotografiert von Obama-Fotograf Christopher Morris, gehören ebenso dazu wie Istanbuler Polizisten bei der Nachtstreife, dokumentiert von dem Franzosen Eric Bouvet, oder Bergleute in einer Kohlemine in Zonguldak, begleitet von der amerikanischen Fotografin Jane Evelyn Atwood.

 

»Ich wollte die Menschen erreichen, die stellvertretend für den Wandel sind«

 

Einige der beteiligten Fotografen leben in der Türkei, manche haben zum ersten Mal im Land gearbeitet, andere wiederum sind für das Projekt nach vielen Jahren erstmals wieder hierher zurückgekehrt. Pulitzer-Preisträger Anthony Suau etwa, der vor 20 Jahren zuletzt hier war und das Land dieses Mal kaum wieder erkannte: »Ich wusste innerhalb von zwei Stunden nach meiner Ankunft, was ich fotografieren wollte«, erzählt er, »denn die Türkei, die ich vorfand, hatte nichts mehr mit der Türkei zu tun, die ich von früheren Reisen kannte. Ich wollte die Menschen erreichen, die stellvertretend für diesen Wandel sind.« Seine Bilder zeigen das moderne, urbane Istanbul bei Nacht, eine Stadt wie ein Glitzermeer, sie zeigen die neue türkische High Society auf Golfplätzen, in Luxusvillen, mit Ferraris und Yachten.

 

Die impressionistischen Aufnahmen von türkischen Schiiten bei der Aschura-Prozession wiederum, fotografiert von dem gefeierten iranisch-stämmigen Fotografen Reza, zeugen davon, wie Religion und Moderne in der Türkei zusammen finden: Weil die im Iran und anderen schiitischen Ländern übliche Selbstgeißelung in der Türkei verboten ist, spenden türkische Schiiten Blut am Aschura-Tag.

 

Für Reza, der schon in vielen verschiedenen muslimischen Ländern Aschura-Prozessionen dokumentiert hat, eine zukunftsweisende Lösung. Wie fast alle beteiligten Fotografen lobt er das Fotoprojekt in den höchsten Tönen: »›Time in Turkey‹ dokumentiert die Brüche und Veränderungen, die sich durch alle Ebenen der türkischen Gesellschaft ziehen, auf sehr intelligente Art. Das Besondere an dem Projekt ist außerdem, dass es nicht nur die Perspektiven 25 bedeutender Fotografen zusammen bringt, sondern dass diese Fotografen aus unterschiedlichen Kulturen und Gesellschaften stammen und stellvertretend für ihre Herkunftsländer den Blick auf die Türkei gerichtet haben – das Projekt hat also das Potential, Brücken zwischen der Türkei und dem Rest der Welt zu bauen.«

 

Im kommenden Jahr soll die Ausstellung auch im Ausland gezeigt werden – geplant sind Stationen unter anderem in Paris, London, Moskau und New York.

Von: 
Yasemin Ergin

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