Land-, Luft- und Seeverkehr sind Schlüsselfaktoren für eine Fortsetzung des türkischen Wirtschaftswachstums. Im Interview erläutert Verkehrsminister Binali Yildirim, wie das Land zur internationalen Drehscheibe werden will.
zenith: Welche Rolle spielen Verkehr und Logistik für die Entwicklungsziele der Türkei bis 2023, dem 100. Jubiläum der Republik?
Binali Yildirim: Wir wollen erreichen, dass die Türkei eine der zehn stärksten Volkswirtschaften der Welt wird. Verkehr und Kommunikation sind dafür von zentraler Bedeutung. Vor dem Jahr 2003 hatten wir mehrspurige Schnellstraßen in einer Gesamtlänge von 6.100 Kilometern, heute sind es 21.300 Kilometer. Wir haben Ost-West-Korridore und Nord-Süd-Achsen geschaffen; vor zehn Jahren waren nur sechs Provinzen durch mehrspurige Schnellstraßen miteinander verbunden – inzwischen sind es 74. Unser Hochgeschwindigkeits-Bahnnetz ist das sechstgrößte in Europa und das achtgrößte weltweit. Wir haben den Luftverkehr für die breite Masse der Bürger zugänglich gemacht; 15 Millionen von ihnen sind zum ersten Mal in ihrem Leben geflogen. Auch bei den Schiffbauaufträgen rangieren wir weltweit auf dem sechsten Platz, und wir sind zum drittgrößten Jachtbauer aufgestiegen. Der entscheidende Aspekt des Verkehrs ist für uns die Logistik: Die goldene Regel des Handels lautet, dass man zur richtigen Zeit mit den richtigen Mengen am richtigen Ort sein muss. Wir haben ein Projekt für »Logistikdörfer« initiiert, in denen Dienstleistungen wie Be- und Umladen sowie Abfertigung an einem Ort verfügbar sind.
Eine der geplanten Hochgeschwindigkeits-Bahnstrecken wird von Istanbul nach Bulgarien führen, eine andere von Istanbul nach Ankara. Werden beide Strecken miteinander verknüpft, oder werden die europäische und die asiatische Seite nur durch das Marmaray-Projekt – den künftigen Eisenbahntunnel unter dem Bosporus – verbunden sein?
Marmaray ist insofern ungewöhnlich, als es U-Bahn, Personen- und Güterzüge auf derselben Strecke umfasst. Es wird das unschätzbare Verbindungsstück zur Schaffung einer modernen EisenbahnSeidenstraße sein, die eine ununterbrochene Fahrt von Ostasien bis Westeuropa ermöglicht. Zusammen mit der Linie Baku–Tiflis–Kars werden die schon bestehenden und die gerade im Bau befindlichen Hochgeschwindigkeitsstrecken die Türkei zum am besten angebundenen Land des asiatisch-europäischen Korridors machen. Wenn Sie danach fragen, ob die asiatische und die europäische Seite des Bosporus ausschließlich durch Marmaray verbunden sein werden, beziehen Sie sich wohl auf den Bahnverkehr. Wie Sie wahrscheinlich wissen, arbeiten wir auch an einem begleitenden Projekt, nämlich dem Eurasia-Tunnel – einer Unterwasserverbindung zwischen den Kontinenten für den Straßenverkehr. Eine zusätzliche Bahnverbindung zwischen Asien und Europa wird es als Teil der dritten Brücke über den Bosporus geben; die Ausschreibungen laufen schon.
Wird der »Istanbul-Kanal« zwischen Schwarzem Meer und Marmarameer tatsächlich gebaut werden, oder wird er – wie einige meinen – eine »verrückte Idee« bleiben? Was bedeutet es für den Seeverkehr, wenn er verwirklicht wird?
Der Istanbul-Kanal ist ein unverzichtbares und notwendiges Projekt sowohl für die Türkei als auch für die anderen Länder der Region. Besonders wichtig ist er für die Schwarzmeer-Anrainer und Russland sowie deren Handelspartner. Wir hoffen, dass wir das Projekt bis 2023 so weit haben. Wenn der Kanal fertig ist, wird er den Verkehr durch den Bosporus senken und damit den Schiffsverkehr sicherer machen und die Gefahr von Unfällen verringern.
Welchen Anteil haben mehrspurige Schnellstraßen an der Reduzierung der Unfallzahlen? Was unternehmen Sie, um die Zahl der Verkehrstoten in der Türkei weiter zu senken?
2003 hatten wir 5,72 Verkehrstote je 100 Millionen Fahrzeugkilometer. 2009 lag diese Zahl noch bei rund 4,41 und sank 2010 weiter auf 3,79 – eine Verringerung um insgesamt 34 Prozent. Heute liegt der Wert bei 3,37. Der Durchschnitt für EU-Länder liegt bei 3,0 Verkehrstoten je 100 Millionen Fahrzeugkilometer – aber das ist nicht unser Maßstab. Um die Verkehrssicherheit zu verbessern, arbeiten wir auch an der Straßenbeschilderung, gehen die Unfallschwerpunkte an und setzen zukunftsweisende Technik für eine intelligente Verkehrssteuerung ein. Die Zahl der Fahrzeugkontrollen auf den Straßen haben wir von 20.000 im Jahr 2003 auf 7,5 Millionen jährlich erhöht. Und dann ist da noch die Verkehrserziehung. Wir haben verpflichtende Schulungen für alle eingeführt, die gewerbsmäßig in der Branche tätig sind – wie etwa kommerzielle Fracht- und Fahrgastunternehmen.
Sie haben einmal gesagt, die Türkei habe die Chance, ein logistisches Drehkreuz für Asien, Europa und Afrika zu werden. Was ist vor allem mit Blick auf den Seeverkehr schon geschehen, um daraus Wirklichkeit werden zu lassen?
Wir sind in den vergangenen Jahren dabei vorangekommen, den kombinierten Güterverkehr zu entwickeln – also den Containerverkehr mit einer Verbindung aus Bahn-, Schiffs- und Lastwagentransport. Das wird nicht nur einen volkswirtschaftlichen Mehrwert bringen, sondern den Frachtverkehr auch günstiger und sicherer machen. Wenn man 2011 und 2003 vergleicht, ist die Zahl der Schiffe unter türkischer Flagge um 27 Prozent und ihre Transportkapazität in DWT um 11 Prozent gestiegen. Zugleich hat die Zahl der Schiffe in türkischem Besitz um 111 Prozent zugelegt und ihre Transportkapazität um 123 Prozent. 2003 wurde Fracht im Wert von 60 Milliarden Dollar verschifft, heute liegt diese Zahl bei 190 Milliarden Dollar. Wir arbeiten auch an einigen sehr großen Hafenprojekten. Ihre Dimension reicht aus, um drei Kontinente zu bedienen. Der Hafen von Candarli bei Izmir in der nördlichen Ägäis wird, wenn er fertig ist, zu den zehn größten Häfen der Welt gehören. Dann ist da das Hafenprojekt Filyos im westlichen Schwarzen Meer. Der Hafen wird kombinierte Frachtdienste mit einer Kapazität von 25 Millionen Tonnen jährlich auf der Nord-Süd-Achse bereitstellen und die Gefahren durch einen Zuwachs des Schiffsverkehrs durch den Bosporus verringern. Außerdem arbeiten wir am Bau des Containerhafens Mersin, um das Handelsvolumen mit Zentralasien und dem Nahen Osten abzuwickeln. Er soll aufgrund seiner idealen Lage zum bestehenden Hafen als Containerumschlaghafen dienen.
Binali Yildirim ist seit Ende 2002 Verkehrsminister der Türkei, damals wurde er auch erstmals ins Parlament gewählt. Er wurde 1955 in Erzincan geboren und erwarb einen Abschluss an der Fakultät für Schiffbau und Meereswissenschaften der Technischen Universität Istanbul. Bei einer Kabinettsumbildung im vergangenen Jahr wurde Yildirim für die dritte Amtszeit in Folge als Minister bestätigt.