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Wahlverlauf in Afghanistan

Warten auf den Sieger

Feature

Trotz vieler Unregelmäßigkeiten beim Wahlverlauf loten die beiden führenden Kandidaten bereits mögliche Allianzen aus. Eine wichtige Rolle könnte ausgerechnet dem scheidenden Präsidenten zufallen. Teil 5 des Wahltagebuchs von Martin Gerner.

Eine Woche nach den Präsidentschaftswahlen in Afghanistan ist das Ausmaß der Unregelmäßigkeiten nach wie vor nicht abschließend geklärt. Es dauert seine Zeit, bis aus allen Ecken des Landes, den Bergen von Badakhshan, den Wüsten von Helmand und über Wegpassagen, die Sicherheitsrisiken darstellen, zehntausende von Wahlurnen in die regionalen Auszählungszentren transportiert worden sind und von dort weiter zum Doppelcheck bei der unabhängigen Wahlkommission in Kabul lagern.

 

Deren Sitz ist, wie ich mich in den vergangenen Tagen selbst überzeugen konnte, äußerlich so gut gesichert wie Fort Knox. Wobei die Unregelmäßigkeiten naturgemäß zu einem viel früheren Zeitpunktvonstatten gingen. So wurden wie erwartet außerhalb Kabuls und der anderen großen Städte Wähler mit Waffengewalt eingeschüchtert.

 

Weitere berichtete Verstöße betreffen unter anderem Wahlbeobachter, denen der Zutritt zum Wahllokal verboten wurde, verkaufte Stimmen und Stimmzettel am Wahllokal, das nachträgliche Füllen von Wahlurnen mit Stimmzetteln durch bewaffnete politische Platzhirsche; und vor allem südlich von Kabul sogenannte Geister-Wahllokale, wo keine Person gesehen wurde, die gewählt hätte, am Ende aber doch Stimmen gezählt wurden. In einigen Fällen ist ungeklärt, ob eine Fälschungsabsicht hinter dem Mangel an Stimmzetteln in vielen Wahlbüros bestand. Die Anzahl der Beschwerden ist insgesamt recht hoch.

 

Positiv zu vermerken ist nach der vergangenen Woche: Keiner der beiden führenden Kandidaten hat den bisherigen Auszählungsverlauf ernsthaft in Frage gestellt oder sieht sich einseitig benachteiligt. Das lässt hoffen, denn nach 2009, hatte ein eben solcher Eindruck den damaligen und heutigen Herausforderer Abdullah Abdullah davon abgehalten, im zweiten Wahlgang anzutreten. Zwar hat insbesondere Ashraf Ghani den Wahlsieg für sich reklamiert und zahlreiche Manipulationen gegen sich suggeriert und damit die Wahlkommission mächtig unter Druck gesetzt.

 

Im Ton geschah dies allerdings moderater als noch im Wahlkampf. Nachdem jetzt offiziell knapp 10 Prozent der Stimmen ausgezählt sind, liegt Ex-Außenminister Abdullah Abdullah allem Anschein nach mit 42 Prozent vorn, gefolgt von dem Wirtschaftsexperten Ashraf Ghani mit 37 Prozent. Demnach käme es Ende Mai zu einer Stichwahl. Dass die restlichen sechs Kandidaten die ersten offiziellen Teilergebnisse als inakzeptabel bezeichnen und eine Überprüfung fordern, erscheint ebenfalls noch moderat – keiner hat seine Anhänger zu Protesten aufgerufen.

 

Was wenn Karzai doch nicht geht?

 

Afghanische Medien spekulieren aber auch, inwiefern ein zweiter Wahlgang unter Umständen politischen Deals weichen könnte. Keiner gehört gern zu den Verlierern in einer politischen Kultur voller Stolz und vielfältigen Arrangements. Das wäre ausdrücklich gegen die Verfassung. Andererseits hat das Land in den vergangenen Jahren mancherlei erlebt, was gegen konstitutionelle Regeln verstoßen hat. Auch die internationale Staatengemeinschaft hat dies nicht verhindern können. Sie sitzt – ob sie will oder nicht – mit im Boot, denn diese Wahl ist mit einem UN-Mandat ausgestattet.

 

Zugleich gilt: Nicht jedes Gerücht ist für bare Münze zu nehmen. Viel wahrscheinlicher ist, dass es jetzt um taktische Winkelzüge geht. Wichtig für beide Spitzenkandidaten ist jetzt, die Stimmpotenziale der unterlegenen Kandidaten auf der Suche nach einer absoluten Mehrheit an sich zu reißen, etwa mittels ethnischer Allianzen. So haben sich Abdullah Abdullah und Zalmay Rassoul, der lange als Protegé von Präsident Karzai galt, bereits gegenseitig Avancen gemacht.

 

Es ist interessant zu beobachten, dass sich die drei am weitesten mediatisierten Kandidaten alle bereits für eine weitere »wichtige Rolle« des scheidenden Präsidenten an einer neuen Regierung ausgesprochen haben. Nichts beweist deutlicher, dass Hamid Karzai lange Zeit und gerne von westlichen Medien als »lame duck«, also lahme Ente, im Kabuler Präsidentenpalast beschrieben, tatsächlich noch über viel Einfluss verfügt. Wenn seine möglichen Nachfolger ihm nun bescheinigen, ihn auch künftig in Fragen der Innen- wie Außenpolitik zu konsultieren – und so lesen sich ihre Aussagen – dann wirft dies die Frage auf, wie viel Neuanfang es wirklich geben wird am Hindukusch.

 

Am Ende ist nicht auszuschließen, dass Washington, das seit Monaten sein zerrüttetes Verhältnis zu Karzai pflegt, von der Präsenz des scheidenden Präsidenten sogar profitieren könnte. Denn neue Hauptmieter im Kabuler Präsidentenpalast, dem Arg, bedeuten immer auch Unsicherheiten. Viele Wähler dürfte ein solcher Szenario allerdings nicht wirklich gefallen. Die massive Wahlbeteiligung ist in erster Linie als ein Wunsch nach einem Neuanfang und für mehr Transparenz gedeutet worden. Mehr vom Alten dürfte dagegen Skepsis auslösen.

Von: 
Martin Gerner

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