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Zivilgesellschaft in Armenien

Katz und Maus mit den Oligarchen

Reportage

Armeniens Präsident will der russischen Zollunion beitreten – diese Abkehr von der EU stößt viele Menschen vor den Kopf. Die junge zivilgesellschaftliche Szene der Kaukasusrepublik könnte von dem Schritt paradoxerweise profitieren.

Weder war die Menge besonders groß, noch wirkte sie besonders gefährlich. Gut 130 überwiegend junge Demonstranten hatten sich am Mittwoch vergangener Woche in Eriwan vor der Residenz des armenischen Präsidenten Sersch Sargsjan versammelt, um gegen seine Ankündigung zu protestieren, dass Armenien der russisch dominierten Zollunion beitreten werde. Die im Fernsehen – bezeichnenderweise von Moskau aus – verkündete Entscheidung traf das Land unvorbereitet, selbst Politiker der Regierungspartei waren verblüfft.

 

Vor allem aber die oppositionelle und zivilgesellschaftliche Szene der kleinen Kaukasusrepublik reagierte empört: Sie sieht Armeniens Annäherung an die Europäische Union gefährdet. »Wir werden in einem Club mit Russland, Kasachstan und Weißrussland sein – sagt das nicht schon alles?«, kommentierte eine Journalistin konsterniert. »Ein Desaster«, meinte ein Oppositionspolitiker schlicht.

 

De facto bedeutet der Beitritt zur Zollunion eine noch engere Bindung des Landes an Russland, das denn auch im Vorfeld erheblichen Druck auf Armenien ausgeübt hatte. »Jeder weiß, dies ist ein erster Schritt in dem Versuch, die Sowjetunion wiederherzustellen«, empörte sich der Oppositionspolitiker Paruyr Hayrikyan. Im Januar war auf den damaligen Präsidentschaftskandidaten ein Attentat verübt worden, noch immer trägt er eine Armbinde. Das Vorhaben des Präsidenten richte sich »gegen die nationalen Interessen Armeniens«, sagte Hayrikyan, denn: »Entweder die EU oder gar nichts – das sind die Alternativen.«

 

Eriwans Aktivisten sehen sich als Vorreiter der Gezi-Park-Bewegung in Istanbul

 

Folglich zogen schon am nächsten Tag Gegner des Plans vor den Präsidentenpalast. So wie das neoklassizistische Gebäude aus Sowjetzeiten wie eine etwas zu pompös geratene Botschafterresidenz wirkt, glich auch die Demonstration jedoch eher einer studentischen Versammlung. Vereinzelt wurden »Sersch tritt zurück«-Rufe laut, möglicherweise in Anlehnung an die Protestparolen des Arabischen Frühlings. Erst als einzelne Aktivisten versuchten, die Polizistenkette vor dem Palast zu überwinden, kam es zu Übergriffen seitens der Sicherheitskräfte.

 

Eine Demonstrantin mit Guy-Fawkes-Maske lieferte sich ein Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei, sieben Demonstranten wurden vorübergehend festgenommen. Nach zwei Stunden war die Straße wieder frei. Nichts, was Armeniens herrschende Clique erschüttern würde. Der gesamte Vorgang war bezeichnend: Armeniens kleine zivilgesellschaftlich-demokratische Szene ist noch zu schwach, um das Regime ernsthaft herausfordern zu können.

 

»Wir haben einen Kern von vielleicht 100 Aktivisten«, sagt Arthur Avtandilyan, einer der Köpfe der Bewegung; diese überschaubaren Ressourcen müsse man gezielt einsetzen: »Wir können nicht zu viele Brände auf einmal löschen.« Nichtsdestotrotz hatte die außerparlamentarische Opposition in den vergangenen Monaten und Jahren einige spektakuläre Erfolge zu verzeichnen. Anhaltende Proteste führten etwa dazu, dass die Pläne, einen kleinen Park in der Innenstadt in ein Einkaufszentrum umzuwandeln, vorerst gestoppt wurden.

 

Die Aktivisten sehen sich seither als Vorreiter der Gezi-Park-Bewegung in Istanbul. Und im Juli scheiterte Eriwans Stadtverwaltung damit, die Tickets für den innerstädtischen Bus- und Metroverkehr um 50 Prozent zu erhöhen – nach massivem Widerstand der Bürger musste die Maßnahme zurückgenommen werden. »Seither sind wir ein Faktor, mit dem die Regierung rechnen muss«, sagt Avtandilyan.

 

Vor allem junge Menschen verlassen das Land, viele gehen nach Russland

 

Die jungen Kämpfer für mehr Demokratie sehen sich jedoch machtvollen Gegnern gegenüber. Seit der Unabhängigkeit 1991 wird Armenien von eng verbandelten Oligarchen kontrolliert; anders als etwa im benachbarten Georgien ist hier nie eine explizit westorientierte Regierung an die Macht gekommen, noch gab es einen wirklichen Bruch mit der ehemaligen Kolonialmacht Russland. Russisch ist immer noch Lingua franca, Moskau unterhält in Armenien eine Militärbasis.

 

Auch die außenpolitische Lage ist kompliziert: Das Verhältnis zur Türkei im Westen ist aus historischen Gründen ebenso schlecht wie das zu Aserbaidschan im Osten: Seit Mitte der 1990er Jahre hält Armenien dort die Enklave Berg-Karabach besetzt, Friedensverhandlungen kommen nicht voran. Offene Grenzen besitzt das gebirgige, zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer gelegene Armenien nur zu Georgien im Norden und Iran im Süden. Armenien ist klein, die Korruption groß.

 

Die Bevölkerungszahl des Landes erreicht nicht einmal diejenige Berlins – und sinkt konstant: Vor allem junge Menschen verlassen das Land, viele gehen nach Russland. Allein seit den Präsidentschaftswahlen im Februar 2013 – bei denen Amtsinhaber Sargsjan bestätigt wurde, in von der OECD als teilweise fair eingestuften Wahlen – seien mehr als 120.000 Menschen emigriert, sagt Vahagn Khachatrzyan, der frühere Bürgermeister Eriwans.

 

Die Lage ist nicht katastrophal, aber Armenien – das sich als Teil Europas betrachtet – könnte, ja müsste es eigentlich viel besser gehen. Bei vielen hat sich Resignation eingestellt. Ani, eine junge Armenierin, die als Reporterin für ein unabhängiges Magazin arbeitet, beschreibt die Stimmung so: »Eigentlich möchtest du dieses Land nicht verlassen, denn es ist doch deine Heimat, und deine Freunde und Familie leben hier. Aber es kommt dir beinahe so vor, als wolle die Regierung dich mit aller Macht aus dem Land drängen.« Intelligenz und Kreativität junger Menschen seien in Armenien nicht gefragt – »alles, was unsere Oligarchen brauchen, sind sie selbst und ihre Söhne und die Polizei«.

 

Erweist sich Armeniens Beitritt zur Zollunion als Eigentor für Präsident Sargsjan?

 

Arthur Avtandilyan, der Zivilgesellschaftsaktivist, erwartet, dass die Repression gegen Oppositionelle im Zuge des anstehenden Beitritts zur Zollunion zunehmen wird. Denn viele Armenier würden sich lieber der Europäischen Union annähern – das geplante Assoziierungsabkommen, das auf einem EU-Gipfeltreffen in Vilnius Ende November unterzeichnet werden sollte, ist nun jedoch in weite Ferne gerückt. »Wir machen weiter, auch wenn das seit der Entscheidung von letzter Woche schwerer werden wird«, sagt Avtandilyan.

 

Die umstrittene Entscheidung des Präsidenten bietet jedoch auch eine Chance: Der Ärger in der Bevölkerung über den Kotau gegenüber Russland ist enorm. »Armenien hat in Moskau de facto kapituliert«, sagt der Politikanalyst Richard Giragosian, der einen Think-Tank in Eriwan leitet. Ja, offenbar habe Sersch Sargsjan ganz persönlich versagt: Der Präsident habe anscheinend nicht einmal versucht, sich den russischen Wünschen zu widersetzen. Giragosian bescheinigt dem Staatsoberhaupt gar einen »Mangel an staatsmännischen Fähigkeiten«.

 

Der Beitritt zur Zollunion und eine härtere Gangart gegenüber dessen Gegnern könnten sich folglich sogar als Eigentor erweisen: wenn der Unmut unter den Menschen so sehr zunimmt, dass die kleine Gruppe zivilgesellschaftlicher Aktivisten mit ihren Forderungen auch in breiteren Bevölkerungsschichten auf offene Ohren trifft. Schon jetzt, glaubt Arthur Avtandilyan, sei die Polarisierung unter den Armeniern weit vorangeschritten: »Kaum noch jemand hat sich nicht für eine Seite entschieden.«

 

Manche erinnert die Stimmung unter den jungen Menschen gar an die Atmosphäre in Tunesien oder Ägypten Ende 2010. »Es geht auch um Jobs, aber vor allem geht es um unsere Würde«, sagt die Journalistin Ani, wenn sie die Missstände in ihrem Land beklagt. »Würde« – das war eines der Schlagwörter des Arabischen Frühlings. Politikberater Giragosian hält die Fälle jedoch nur bedingt für vergleichbar: »Im Nahen Osten hatten sich Jahrzehnte von Wut und Hoffnungslosigkeit angestaut. So weit sind wir in Armenien noch nicht.«

 

Die gute Nachricht sei jedoch: Armenien sei viel kleiner als etwa Ägypten oder Tunesien, auch seien Regierung und Sicherheitskräfte fragiler. »Mit anderen Worten: Es braucht nicht viel, und es braucht nicht viele.« Schon ein kleiner Anlass könne ausreichen, um Unruhen auslösen – oder gar eine Revolution.


Dieser Beitrag entstand mit freundlicher Unterstützung von taz.Reisen – Reisen in die Zivilgesellschaft.

Von: 
Christian Meier

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