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Drei Monate EU-Tunesien-Abkommen zu Migration

Dieser Pakt wird die Migrationsfrage nicht lösen

Analyse
Drei Monate EU-Tunesien-Abkommen zu Migration
Agenzia Nova

Migration bleibt das Schlüsselthema: für die EU, aber auch die Nachbarn im Süden. Das Abkommen mit Tunesien sollte Abhilfe und eine Vorlage schaffen, scheitert aber an den eigenen Widersprüchen. Dabei ginge es auch anders.

Es war das erste greifbare Symptom einer neu entfachten Debatte über Europas südliche Nachbarschaft: Am 16. Juni 2023 unterzeichneten die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte eine gemeinsame Absichtserklärung mit dem tunesischen Präsidenten Kais Saied. Auf den ersten Blick wirkte das »Memorandum of Understanding on a strategic and global partnership between the European Union and Tunisia« (MoU) überzeugend: Makroökonomische Stabilität, Wirtschaft und Handel, grüne Energiewende, zwischenmenschlicher Austausch. Es sah aus, als hätten von der Leyen, Meloni und Rutte gemeinsam mit der tunesischen Seite aus all dem, was transmediterrane Denker seit Jahren fordern, in nur drei Monaten ein umfassendes Paket geschnürt.

 

Doch bei näherer Betrachtung wird deutlich: Das MoU könnte sich als Irrweg erweisen – sowohl für die EU als auch für ihre Beziehungen zu ihren südlichen Nachbarn, in wirtschaftlicher, sozialer und diplomatischer Hinsicht. Bestenfalls sinnlos, im schlimmsten Fall gefährlich, denn letztlich macht das MoU dringend notwendige Investition in eine gemeinsame Zukunft von Willen und Fähigkeit der Exekutivgewalt Tunesiens ab, Migranten auf ihrem Weg nach Europa aufzuhalten. Ist dies ein erster Ausblick darauf, wie sich Populisten die künftigen Beziehungen der EU zu ihren südlichen Nachbarn vorstellen? Welche weiteren Entwicklungen sind zu erwarten? Und gibt es glaubwürdige Alternativen?

 

Aufgrund besorgniserregender Staatsverschuldung, Mangel an natürlichen Ressourcen und Reformstau ist Tunesien immer wieder auf externe Hilfe angewiesen, zuletzt durch Saudi-Arabien, das die tunesische Regierung mit einem Umschuldungs- und Budgethilfepaket in Höhe von 500 Millionen US-Dollar vor der drohenden Zahlungsunfähigkeit bewahrte – mit unklaren Konditionen. Gleichzeitig hat Präsident Saied seine Machtposition erheblich ausgebaut, auf Kosten der Fortschritte bei Demokratie, Meinungsfreiheit und Pluralismus, die sich die Tunesier nach 2011 hart erkämpft hatten.

 

Auch in der Exekutive hinterlässt Saieds Griff nach der Macht tiefe Spuren: Während sich die Entscheidungsgewalt immer stärker im Präsidentenpalast konzentriert, bleiben zahlreiche Spitzenposten in Ministerien, Gouvernements und Verwaltung unbesetzt. Die Folge: Vorgänge verzögern sich auf unbestimmte Zeit, selbst einfache Verfahren können zum Teil kaum abgeschlossen werden. Teilweise stehen Behörden still, auch aus Angst vor Korruptionsverfahren, die Präsident Saied nutzt, um sich politischer Gegner zu entledigen.

 

Die Spannungen zwischen einflussreichen Größen der tunesischen Wirtschaft und dem Präsidentenpalast entladen sich immer wieder auf Kosten der Bevölkerung

 

Die Auswirkungen dieser negativen Entwicklungen sind in der tunesischen Gesellschaft immer stärker zu spüren. Die Spannungen zwischen einflussreichen Größen der tunesischen Wirtschaft und dem Präsidentenpalast entladen sich immer wieder auf Kosten der Menschen im Land: Sie verschlimmern Versorgungsengpässe bei wichtigen Gütern des täglichen Bedarfs, deren heimische Produktion ohnehin durch Wassermangel und Hitzewellen bereits erheblich beeinträchtigt ist.

 

Migration ist dennoch der bestimmende Faktor im Diskurs um die Beziehungen des nordafrikanischen Landes mit Europa – obwohl Umwelt- und Sozial- und Themen eigentlich auch in der EU immer relevanter werden. Erst am 17. September veröffentlichte die EU angesichts des dortigen Ausnahmezustands einen Zehn-Punkte-Plan für Lampedusa. Die wichtigsten Punkte sprechen für sich: »Unterstützung des Transfers von Menschen aus Lampedusa (2)«, »Verstärkte Rückführungen (3)«, »Unterstützung der Verhinderung von Ausreisen (4)«, »Verstärkte Grenzüberwachung (5)« und schließlich »Umsetzung der EU-Tunesien-Vereinbarung (MoU) (10)« – Abschottung und Abwehr an allen Fronten. Bereits kurz nach der Unterzeichnung war Manfred Weber, Vertreter der Konservativen im EU-Parlament, nach Tunesien gereist, um deutlich zu machen, dass man das MoU nur umsetzen werde, wenn Ankunftszahlen sinken.

 

Warum dieses negative Bild? Es scheint insbesondere in Deutschland vielerorts noch immer der Gedanke vorzuherrschen, dass unsere Form der parlamentarischen Demokratie nur ein begrenztes Maß an Dissens vertrage. Daher auch das Narrativ, dass eine Art Leitkultur notwendig sei, um ausufernden Streit über die Grundlagen des Systems zu vermeiden. Die Gesellschaft wäre sonst in entscheidenden Momenten nicht handlungsfähig, so die Sorge. Heterogenität, und damit Zuwanderung, lässt sich vor diesem Hintergrund schnell als potenzielle Gefahr für den gemeinsamen Wohlstand verstehen. Für Deutschland findet sich diese Logik in den Erfahrungen zahlreicher gesellschaftlicher Konflikte wieder – zum Beispiel um Vertriebene aus den Ostgebieten, die Gastarbeiter und das »Wirtschaftswunder« oder die »Schwarzen Adler« im Fußball.

 

Einerseits glauben wir, auf Migration angewiesen zu sein, um unseren Wohlstand zu erhalten, andererseits sind wir der Meinung, dass Migration begrenzt werden muss – um unseren Wohlstand zu erhalten

 

Gleichzeitig zeigt die Debatte um Fachkräfte, dass Europäer sich überwiegend darüber im Klaren sind, dass sich weder ihr Wohlstand noch ihre Lebensqualität ohne zusätzliche Arbeitskräfte erhalten lässt. Auch angesichts der demografischen Entwicklung europäischer Gesellschaften ist so eigentlich nur ein Schluss möglich: Europäischer Wohlstand hängt von Zuwanderung ab. Und dennoch: Unsere Perspektive auf Migration ist zutiefst ambivalent: Einerseits glauben wir, auf Migration angewiesen zu sein, um unseren Wohlstand zu erhalten, andererseits sind wir der Meinung, dass Migration begrenzt werden muss – um unseren Wohlstand zu erhalten.

 

Hier setzten populistische Strömungen an: Sie bieten für die paradoxe Situation eine einfache Lösung. Mit dem Abschottungsnarrativ treiben Populisten das Argument der Leitkultur gewissermaßen auf die Spitze. Die politischen Kosten dafür halten sich in Grenzen; die tatsächlich Betroffenen sind in der Regel nicht wahlberechtigt. Diese Rechnung geht auf: In Italien und Ungarn regieren Rechtspopulisten bereits, in Deutschland seit 2021 und zuletzt bei den Landtagswahlen in Hessen und Bayern konnte die rechtspopulistische AfD signifikante Wahlerfolge einfahren. Vor diesem Hintergrund erscheint die Konstruktion des MoU, die vier positive mit einem negativ gezeichneten Aspekt verknüpft, in einem anderen Licht. Aber nicht nur die Inhalte des MoU sind Ausdruck von Ambiguität, sondern auch die Hauptakteure des Abkommens.

 

Ursula von der Leyen braucht vor den 2024 anstehenden Europawahlen dringend politische Erfolge. In den vergangenen vier Jahren als Chefin der EU-Kommission hat sie sich vor allem einen Namen als exzellente Krisenmanagerin gemacht. Gleichzeitig gerieten langfristig angelegte Projekte wie der »European Green Deal« und die große Reform des »Gemeinsamen Europäischen Asylsystems« entweder ins Stocken oder brachten kaum greifbare Ergebnisse. Migration als Krise darzustellen, spielt ihr daher in die Karten: Wenn von der Leyen nach der Wahl eine neue Amtszeit an der Spitze einer Rechtskoalition (ID, EVP, ECR) anstrebt, könnte sich die Fortsetzung der bisherigen »Ad-hoc-Migrationsdiplomatie« auszahlen.

 

Die mögliche Parteiengruppe, der auch populistische Parteien wie Fidesz, Fratelli d'Italia und Prawo i Sprawiedliwość (PiS) angehören würden, hat in den Umfragen deutlich zugelegt, seit im März 2023 die vermehrte Ankunft von Menschen aus Tunesien wieder prominent öffentlich diskutiert wird. Von der Leyen sucht bislang keine ganzheitlichen Lösungen. Sie versucht vielmehr, die monetären Kosten gering zu halten und sich dabei stillschweigend für strengere Grenzkontrollen einzusetzen. Nur ein Bruchteil der 900 Millionen Euro, die der tunesischen Regierung versprochen wurden, sind tatsächlich »frisches Geld« – und auch dabei handelt es sich um eine Mischung aus EU-Geldern und Mitteln einzelner Mitgliedsstaaten.

 

Giorgia Melonis politische Agenda hängt ebenso von einem negativen Migrationsdiskurs ab: Sie begann bereits kurz, nachdem sie Mario Draghi in den Quirinalspalast gefolgt war, mit einem beispiellosen Umbau zentraler Strukturen ihres Landes. Dabei zielten ihre Maßnahmen vor allem auf die Medien, soziale Sicherungssysteme und gesellschaftliche Minderheiten. Nach Außen hin blieb sie den hergebrachten Grundsätzen italienischer Außenpolitik treu: Ein starkes Bekenntnis zum transatlantischen Bündnis, klare Unterstützung Israels und die Vermeidung offener Affronts gegenüber Brüssel.

 

Kais Saied ist ein Populist ohne Populus

 

Dieser Spagat zwischen innenpolitischer Agenda und außenpolitischem Image machte es notwendig, ihre Anhängerschaft mit hartem Vorgehen in der Migrationspolitik kaum weniger harte sozialpolitische Maßnahmen wie die Kürzung der Sozialhilfe (»Reddito di Cittadinanza«) zu mobilisieren. Meloni braucht die Migrationsdebatte, um von anderen, entscheidenden Fragen abzulenken. So steht sie nicht als knallharte Sparpolitikerin da, sondern ist in der Lage, sich als Schutzengel ihres Landes zu präsentieren, der die italienische Bevölkerung vor einer »stillen Invasion« bewahrt. Tatsächlich positive Entwicklungen in der Migrationpolitik hingegen könnten ihrem Machtanspruch ernsthaft schaden.

 

Mark Rutte sorgte bereits im Frühjahr für Schlagzeilen, als er vorschlug, Geflüchtete in den Niederlanden in zwei Kategorien einzuteilen und diese im Asylverfahren unterschiedlich zu behandeln, etwa im Hinblick auf Familienzusammenführung. Mit diesem Vorschlag regierte der Premier auf eine Studie, die darauf hingewiesen hatte, dass 2023 deutlich mehr Geflüchtete in den Niederlanden ankommen würden, als Ruttes Regierung ursprünglich erwartet hatte. Rutte wusste, dass die Christdemokraten (CU), Koalitionspartner seiner eigenen Mitte-Rechts-Partei VVD in der niederländischen Regierung, dem Vorschlag nicht zustimmen konnten, ohne bei ihrer Wählerschaft so dazustehen, als hätten sie deren Werte verraten.

 

Rutte ließ das Kabinett dennoch über seinen kontroversen Plan abstimmen – mit der Folge, dass die CU die Regierungskoalition verließ. Rutte war bereits vorher bewusst gewesen, dass dieses Ergebnis seiner Partei nicht unbedingt schaden musste, lag sie doch in den Meinungsumfragen weit vor der CU. Die VVD konnte also von Anfang an darauf hoffen, aus vorgezogenen Neuwahlen gestärkt hervorzugehen. Vor diesem Hintergrund lässt sich Ruttes Unterstützung des MoU als Signal an potenzielle Wähler weiter rechts deuten: Nur auf seine Partei sei Verlass, wenn es darum ginge, in Ermanglung systemischer Lösungen Sofortmaßnahmen umzusetzen.

 

Gleiches gilt für Kais Saied. Ob er für seine Politik auf Unterstützung zählen kann, hängt auch in hohem Maße davon ab, wie die Bevölkerung seines Landes Migranten – insbesondere aus Subsahara-Afrika – wahrnimmt. Saied ist eine komplexe Figur: gewissermaßen ein Populist ohne Populus: Viele, gerade junge Tunesier, die 2021 noch mit wehenden Fahnen seine politische Agenda unterstützten, fragen sich heute, wohin seine Politik das Land führen wird. Einst war er der Politiker, der handelte, der etwas gegen das unfähige Parlament unternahm und in der Pandemiebekämpfung wichtige Entscheidungen traf. Er galt als unparteiisch, als Kämpfer gegen die Korruption, hatte keine mafiösen Strukturen hinter sich.

 

Mittlerweile ist aber deutlich geworden: Kais Saied hat keinen Kreis von Anhängern, keine große Unterstützung und keine Partei, die hinter ihm und seinen Entscheidungen steht. Stattdessen versucht der Präsident, die Wirtschaftselite und die Menschen am unteren Ende der Nahrungskette für die miserable wirtschaftliche Lage seines Landes verantwortlich zu machen.

 

Meloni, Rutte, von der Leyen und Saied sind allesamt hochriskante Wetten eingegangen

 

Im Februar sagte er nach einer Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates, dass die irreguläre Migration aus den Ländern südlich der Sahara die demografische Struktur des Landes untergrabe und dass etwas gegen diese »Horden« unternommen werden müsse. Ein Narrativ, das nicht nur nationalistische und rechtsgerichtete Akteure in seinem eigenen Land anzieht, sondern auch auf Europäer mit ähnlicher Agenda verführerisch wirkt. Ob Saieds Rechnung aufgeht, wird sich im Januar 2024 zeigen, dem Monat, in dem die Belastungen für die Tunesier regelmäßig am stärksten sind und in dem es daher auch in der Vergangenheit regelmäßig zu Unruhen gekommen ist.

 

Meloni, Rutte, von der Leyen und Saied sind allesamt hochriskante Wetten auf eine krisenhafte Wahrnehmung der Migration in Europa eingegangen. Keiner von ihnen hat ein Interesse daran, die mit Migration verbundenen Herausforderungen tatsächlich nachhaltig aufzulösen – jedenfalls nicht sofort. Das Risiko, das Meloni, Rutte, von der Leyen und Saied gemeinsam eingegangen sind, zahlt sich nur dann aus, wenn Migration vorerst weiterhin als Problem wahrgenommen wird, zumindest bis zu den politischen Terminen, auf die jeder von ihnen hinarbeitet. Ein schwieriger Balanceakt: Einerseits muss Wählern signalisiert werden, dass man willens und in der Lage ist, entschlossen zu handeln, andererseits gilt es, deren Problemempfinden aufrechtzuerhalten, um daraus politisches Kapital zu schlagen. Keiner der beteiligten Parteien ist an einer wirklichen Verbesserung der Situation gelegen – weder für die Migranten, noch für Tunesien oder die europäischen Mitgliedsstaaten, weil sonst die nötige Argumentationsgrundlage und damit der eigene politische Handlungsspielraum verloren ginge.

 

Auf den ersten Blick wirken die im MoU versprochenen 900 Millionen Euro wie eine enorme Investition. Tatsächlich war aber ein Großteil des Geldes im EU-Haushalt bereits für Tunesien vorgemerkt, bevor das Abkommen geschlossen worden war – in Form von Entwicklungsprojekten, die bereits von der EU finanziert werden. Es handelt sich im Wesentlichen also lediglich um das Resultat kreativer Buchhaltung – der größte Teil der Mittel bleibt auch mit dem MoU an eine zentrale Bedingung geknüpft: den Abschluss eines Sofortprogramms mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF).

 

Das wiederum zögert Präsident Saied seit zwei Jahren heraus, denn der IWF stellt Bedingungen: Tunesien müsste Stellen im öffentlichen Dienst streichen, staatliche Unternehmen privatisieren und Subventionen abbauen, auch für Benzin und Grundnahrungsmittel. Die tunesische Bevölkerung profitiert seit Jahren davon, dass ihre Regierung bei diesen Gütern die Differenz zum Weltmarktpreis ausgleicht. Kommt es zu einer plötzlichen Teuerung, drohen soziale Unruhen.

 

Präsident Saied steht also vor einer unmöglichen Wahl: Entweder, er akzeptiert die Bedingungen und riskiert die Stabilität seiner Regierung, oder er verzichtet auf europäische Unterstützung, auf die nicht nur er selbst, sondern auch die vielen tunesischen Gemeinden, Unternehmen und NGOs angewiesen sind, mit denen die EU seit 2011 zusammenarbeitet. Eine breite Umsetzung der positiven Aspekte des MoU scheint vor diesem Hintergrund unwahrscheinlich.

 

Je höher die angekündigten Hürden, desto höher der Druck, noch vorher in Europa anzukommen und auch zu bleiben, notfalls in der Illegalität

 

Bedingungslos zugesagt ist lediglich die finanzielle und technische Unterstützung der tunesischen Küstenwache und Grenzbehörden in Höhe von circa 100 Millionen Euro, was einer Aufstockung dieser Mittel im mittleren zweistelligen Millionenbereich entspricht. Allerdings ist unklar, ob und wie schnell Tunesiens Institutionen derzeit die geplanten Maßnahmen umsetzen können. Denn zu funktionsfähigen Sicherheitsbehörden gehört nicht nur modernes Material, sondern auch die Fähigkeit, dieses in Operationen sinnvoll einzubinden. Saieds Machtkonzentration aber führt dazu, dass sich auf allen Ebenen wichtige Entscheidungen verzögern. Auch hier heißt es also: Implementierung fraglich.

 

Auch die inhaltliche Logik des MoU könnte gravierende Fehler aufweisen. Durch die erhoffte Abriegelung des Landes wollen Meloni, Rutte und von der Leyen die Kontrolle über den Zustrom von Menschen nach Europa zurückgewinnen. Dagegen stehen jedoch wissenschaftliche Erkenntnisse: Im Bereich Migration haben sich die Ankünfte immer dann besonders unberechenbar entwickelt, wenn neue Restriktionen durchgesetzt wurden, so etwa auch im Rahmen des Anwerbestopps 1974 in Deutschland. In den unmittelbar darauffolgenden Jahren kamen circa zweieinhalbmal so viele Menschen nach Deutschland, wie seit dem Ende der Anwerbeabkommen.

 

Im Sommer 2023 lässt sich eine ähnliche Entwicklung mit Blick auf Tunesien beobachten. Dabei bestimmt ein grundlegender menschlicher Wesenszug das Handeln: Je höher die angekündigten Hürden, desto höher der Druck, noch vorher in Europa anzukommen und auch zu bleiben, notfalls in der Illegalität – wenn nicht jetzt, dann nie. Die Ankündigung schärferer Kontrollen führt dazu, dass mit einer gestiegenen Risikobereitschaft eben diese Kontrollen noch aufwendiger und kostspieliger werden. Das MoU macht insofern derzeit genau die Migrationsbewegungen unberechenbarer, die die Autoren der Vereinbarung vorgeben, kurzfristig besser steuern zu wollen.

 

Die Debatte, die im Europäischen Parlament mit dem MoU angestoßen und mit dem Zehn-Punkte-Plan für Lampedusa fortgesetzt wurde, zeigt sich zunehmend fragmentiert. Der konservative Europaabgeordnete Manfred Weber skizzierte im Anschluss an seine Tunesien-Reise im Juli 2023 drei »Lager«: Auf der einen Seite sieht Weber diejenigen, die sich jeglicher konstruktiver Kooperation unter Berufung auf grundlegende Werte verweigerten – hier spielt Weber auf Sozialdemokraten und Grüne an. Auf der anderen Seite stünden »rechte Hetzer«, die diese Werte zugunsten partikularer Interessen völlig ignorierten. In der Mitte stünden die »Pragmatiker«, die Einzigen, die zur nüchternen Analyse und ernsthaften Umsetzung von Lösungsansätzen bereit seien.

 

Solange diese Analyse und die darauf aufbauenden Lösungsansätze zwar anschlussfähiger formuliert sind, jedoch im Wesentlichen den Ideen der zweiten Gruppe entsprechen, droht damit allerdings nur eines: Der äußere rechten Rand wird in der öffentlichen Wahrnehmung weiter legitimiert. Wählerstimmen lassen sich dadurch kaum gewinnen. Vielmehr hat es zur Folge, dass sich sowohl Vertreter extrem rechter Ansichten, als auch potenziell Unterstützungswillige in ihrer Position bestätigt fühlen. So werden extreme Strömungen auch über die Migrationspolitik hinaus weiter gestärkt, während gleichzeitig die politischen Handlungsspielräume für tatsächlich lösungsorientierte, vermittelnde Positionen abnehmen – problematisch in einer globalen Krisenlage, in der es darauf ankommt, ausgeglichen mit sich häufenden und stetig wachsenden gesellschaftlichen Herausforderungen umzugehen.

 

Kais Saied befindet sich immer noch in einer komfortablen Position: Er hat Unterstützungszusagen der EU erwirkt und kann weiter Druck ausüben

 

Auch die Entstehungsgeschichte des MoU bietet Anlass zur Sorge. Grundsätzlich werden bindende Abkommen mit Drittstaaten wie Tunesien in Form völkerrechtlicher Verträge geschlossen. Diese bedürfen jedoch aufgrund des Einstimmigkeitsprinzips in der EU-Außen- und Sicherheitspolitik der Zustimmung des EU-Rates, also aller 27 Mitgliedsstaaten. Dieses aufwendige und langwierige Verfahren kann mit nicht-bindenden Vereinbarungen umgangen werden, zu denen auch Absichtserklärungen zählen.

 

Die EU hatte dieses Instrument im Migrationsbereich schon einmal eingesetzt: 2016, im Rahmen einer umstrittenen Vereinbarung mit der Türkei. In der damaligen Debattensituation wäre eine Zustimmung aller Mitgliedsstaaten – wie heute im Falle des MoU – schwer vorstellbar gewesen. Absichtserklärungen schaffen also politischen Handlungsspielraum in Situationen besonderer Dringlichkeit, bei denen die Meinungen über die richtige Lösung gleichzeitig stark auseinandergehen.

 

Instrumente wie das MoU gehen jedoch auch mit potenziell hohen politischen Kosten einher, denn sie berühren einen zentralen Pfeiler des repräsentativen Demokratiemodells: Die Legitimation politischer Entscheidungen durch partizipative Entscheidungsprozesse. Es geht darum, dass nicht einfach stets nach dem Willen der Mehrheit entschieden wird, sondern dass auch abweichende Meinungen einbezogen werden. Eine Umgehung vereinbarter Verfahren hat daher immer auch Einfluss auf die Legitimation des politischen Systems als solchem. Weitere Beeinträchtigungen ihrer Legitimation aber kann sich die EU eigentlich nicht leisten, wenn sie in der Lage sein möchte, Lösungen für künftige Herausforderungen effektiv umzusetzen, denn dafür braucht es auch die Bereitschaft derjenigen an gemeinsamen Projekten mitzuwirken, die nicht mit jeder Entscheidung einverstanden sind.

 

Vor diesem Hintergrund ist es mindestens bemerkenswert, dass die an die Presse durchgesickerte Kritik des Auswärtigen Amtes am Alleingang von Meloni, Rutte und von der Leyen keine stärkere Resonanz fand. Schließlich fühlte sich auch im Falle des MoU der Rat von der Kommission übergangen. »Es ist nicht akzeptabel, dass ein solches (MoU) ohne vorherige Zustimmung des Rates unterzeichnet wird«, heißt es in einem internen Dokument. Der Juristische Dienst des Rates, der Europäische Auswärtige Dienst, mehrere Mitgliedstaaten und der Hohe Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik stehen dem Vorgehen der Kommission ebenfalls kritisch gegenüber. Solche Bruchlinien gefährden Vertrauen – in die europäische Demokratie im Inneren und in Europa als Partner auf der Weltbühne.

 

Und wie ist es um die Partner auf der anderen Seite bestellt? Kais Saied befindet sich immer noch in einer komfortablen Position: Er hat Unterstützungszusagen der EU erwirkt und kann weiter Druck ausüben, indem er das Bild einer möglichen Welle an Geflüchteten heraufbeschwört – eine wirkungsvolle und unberechenbare politische Waffe im Ringen mit der EU. Saied inszeniert sich bereits jetzt als Verteidiger tunesischer Souveränität, wenn er verlauten lässt, sein Land werde nicht der »Gendarm Europas«.

 

Die so gebundenen Kapazitäten würden zudem für kaum absehbare Zeit an anderer Stelle fehlen. Europa würde geostrategisch angreifbarer

 

Im Oktober lehnte er das MoU in Gänze ab, mit der Begründung, der versprochene Betrag sei zu gering und stünde im Widerspruch zum Vorschlag vom Juni desselben Jahres. Als die EU dann Gelder an Tunesien auszahlte, stellte er dies, obwohl die Mittel in keinem Zusammenhang mit dem MoU standen, als Eingriff in das tunesische Selbstbestimmungsrecht dar. Auch wenn sich die EU-Kommission um schnelle Klarstellung bemühte – der kommunikative Schaden für Europa war bereits entstanden.

 

Weitere Episoden dieser Art könnten folgen: Auch Saied muss klar sein, dass seine Verhandlungsposition von vielem abhängt, nicht aber von seinem politischen Willen allein. Er hat durch seine Rhetorik ein gesellschaftliches Risiko geschaffen, dass sich nur schwer kontrollieren lässt, wie die jüngsten Übergriffe gegen Migranten in Tunesien zeigen. Selbst wenn es in Zusammenarbeit mit ihm langfristig gelingen sollte, Migranten an der Überfahrt nach Europa zu hindern, zeigen die Vorfälle in der Wüste zwischen Libyen und Tunesien, als Hunderte von Migranten in der sengenden Hitze ausgesetzt wurden und starben, dass die EU sich mit Vereinbarungen wie dem MoU dauerhaft in die Mitverantwortung für menschenrechtliche Katastrophen begibt.

 

Die drei Szenarien für einen Umgang mit der Migrationsfrage

 

Europa setzt im Sinne einer »Null-Chancen«-Politik für irreguläre Migration die Logik des MoU konsequent und mit harter Hand durch – notfalls mit massivem eigenem Engagement auf hoher See, etwa nach dem Vorbild Australiens. Um eine Verlagerung auf andere Routen zu verhindern, wäre dafür allerdings eine aufwendige und kostspielige Grenzschutz- und Rückführungsmission notwendig, gegebenenfalls auch mit militärischer Unterstützung. Teuer wird es vor allem, wenn eine solche Operation langfristig mit immer drastischeren Maßnahmen aufrechterhalten werden muss – nicht unwahrscheinlich, angesichts des psychologischen »Jetzt-oder-Nie«-Effekts erhöhter Hürden. Das Risiko ist hoch, dass eine solche Eskalation unfassbares menschliches Leid auslöst. Die so gebundenen Kapazitäten würden zudem für kaum absehbare Zeit an anderer Stelle fehlen. Europa würde geostrategisch angreifbarer.

 

Ein solcher »Null-Chancen«-Ansatz gegen irreguläre Migration müsste daher mit der sofortigen gezielten Öffnung legaler Migrationswege verbunden sein. Dabei spielen nicht zuletzt Rücküberweisungen der Diaspora eine entscheidende Rolle. Auf die sind viele Herkunftsländer für ihre wirtschaftliche Stabilität angewiesen. Bereits jetzt machen sie etwa in Tunesien circa 7 Prozent des Bruttoinlandprodukts aus – Tendenz steigend. Zum Vergleich: Die tunesische Landwirtschaft trägt gerade einmal 10 Prozent bei. Brechen Migrationsbewegungen ab, bedeutet das also auch eine ökonomische Gefahr.

 

Auf beiden Seiten ist fraglich, ob die erforderlichen Kapazitäten für einen sofortigen Ausbau verstärkter legaler Migration überhaupt vorhanden sind: Ausbildung von Fachkräften braucht Zeit. Eine deutliche Verkürzung der Bearbeitungsdauern von Visums- und Aufenthaltsgenehmigungsverfahren ist mit der derzeitigen behördlichen Personalausstattung unwahrscheinlich. Schließlich gilt es auch, strukturellem Rassismus in Europa zu begegnen, einem echten Standortnachteil im globalen Wettbewerb um Arbeitskräfte, etwa gegenüber Ländern wie Kanada, die sich bereits als Einwanderungsnationen verstehen. Andernfalls verliert Europa doppelt: Weil niemand kommt, aber auch, weil niemand bleibt.

 

Ein Visumantrag für ein Studium in Europa darf unter dem Strich nicht mehr kosten als eine Bootsüberfahrt

 

Europa setzt auf eine langfristige, schrittweise, an klare Bedingungen geknüpfte Liberalisierung der Visumpolitik – keine sofortige Öffnung, sondern die sofortige Kommunikation einer Öffnungsperspektive. Es gilt hier vor allem darum, nachhaltig Kosten und Risiken für Migrationswillige zu senken: Ein Visumantrag für ein Studium in Europa darf unter dem Strich nicht mehr kosten als eine Bootsüberfahrt. Sonst läuft sowohl die Schaffung neuer legaler Migrationswege als auch die Verbesserung von Visumverfahren ins Leere, weil auch potenzielle Antragsteller mit guten Aussichten auf ein Visum ein solches gar nicht mehr beantragen – eine Bootsüberfahrt bietet zumindest die Sicherheit, das Land verlassen zu können, sei es auch kurzfristig.

 

Tunesier selbst machen immerhin die drittgrößte Gruppe derjenigen aus, die derzeit über das Mittelmeer in Europa ankommen. Ist andererseits glaubhaft gemacht, dass die Umsetzung eines Reisevorhabens in einem halben, in einem, in zwei Jahren jeweils deutlich günstiger wird, lässt sich der positive Gegeneffekt des »Jetzt-oder-Nie« nutzen, um Migration berechenbar zu machen: Warum heute gehen und nicht erst die Schule, die nächsthöhere Ausbildung oder den Sprachkurs beenden, wenn Kosten und Risiken dann erwartbar deutlich geringer sind? Und warum um jeden Preis bleiben, wenn nach einer Rückreise ins Heimatland die Rückkehr nach Europa jederzeit möglich ist? Die Auswirkungen dieser Effekte müssen dringend quantifiziert werden.

 

Gleichzeitig könnte sich Europa in der Zwischenzeit auf den Umgang mit legaler Migration vorbereiten, öffentliche Strukturen aufbauen, von denen nicht nur Migranten, sondern auch Menschen profitieren, die bereits in Europa sind. Eine gestärkte lokale Behördeninfrastruktur etwa nützt Ortsansässigen wie Zugezogenen gleichermaßen; von aufgestockten verlässlichen Sozialversicherungsfonds für Studierende profitieren junge Europäer ebenso wie junge Menschen aus Drittstaaten. So sinkt der Druck – das vereinfacht die Situation für die Menschen, die unmittelbar von dieser Perspektive profitieren ebenso wie für Europa: Das würde auch helfen, erforderliche Grenzschutz- und Rückführungsmaßnahmen im Rahmen zu halten.

 

Die Debatte verharrt im Patt und vertieft so die gesellschaftliche Spaltung, die für die Migrationsdebatte symptomatisch ist. Bislang sieht es ganz danach aus, als bliebe vom MoU kaum mehr als die Schlagzeilen bei seiner Unterzeichnung. Die bisherige Bilanz des politischen Stillstandes: In der Woche vom 17. September kamen mehr als 7.000 Migranten auf der italienischen Insel Lampedusa an, deren Aufnahmezentren gerade einmal eine Kapazität von 400 Personen haben. Dieser Zustand ist offensichtlich unhaltbar – und am Ende profitiert nur eine Gruppe: die Populisten.

 

Sollten wir bereit sein, dieses Ergebnis hinzunehmen, müssen wir bedenken: Wenn wir als Europäer etwas aus unserer jüngsten Geschichte gelernt haben sollten, dann, dass noch so hohe Mauern Menschen nicht davon abhalten werden, ihre Träume zu verfolgen – zumindest nicht für immer.

Von: 
Sophia Hiss und Alexander Weber

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