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Ärzte ohne Grenzen und die Corona-Lage im Nahen Osten

»Wir müssen Krankenhäuser am Laufen halten«

Interview
Ärzte ohne Grenzen und die Corona-Lage im Nahen Osten
Ärzte ohne Grenzen stoßen im Jemen bereits bei der Bekämpfung der Cholera an die Grenzen. Nuha Haider/MSF

Caroline Seguin koordiniert die Arbeit von Ärzte ohne Grenzen im Irak, Jemen und Jordanien. Ihre Kollegen stehen im Kampf gegen Corona an vorderster Front – und kämpfen nicht nur mit dem Virus. Doch es gibt auch Nachrichten, die Hoffnung machen.

zenith: Viele der Länder im Nahen Osten, in denen Ärzte ohne Grenzen (MSF) arbeitet, sind bereits schwer gezeichnet von Krieg und Konflikt. Vor welche Herausforderung stellt das Ihre Organisation im Kampf gegen die Verbreitung des Coronavirus?

Caroline Seguin: Unser größtes Problem ist, dass die Flughäfen geschlossen sind und wir keine Verstärkung zu unseren Teams schicken können. Wir sitzen alle fest. Also müssen die, die bereits vor Ort sind, noch härter arbeiten – auch wenn es sich dabei in vielen Fällen nur um die Notbesatzung handelt. Die zweite große Herausforderung ist die Versorgung mit medizinisch notwendigem Material, allen voran Schutzmasken, Sauerstoff und so weiter. In den Ländern, in denen wir arbeiten, ist es unmöglich, diese Ausrüstung zu besorgen. Selbst in anderen Länder außerhalb der Region gelingt uns das kaum noch und dann stellt sich wiederum die Frage, wie wir das Material angesichts der geschlossenen Flughäfen einfliegen können.

 

In Ländern wie Jemen und Syrien kommt außerdem hinzu, dass jahrelange Konflikte wichtige Teile der Infrastruktur zerstört haben.

Natürlich, einige der Länder befinden sich im Krieg und in so einer Situation müssen wir mit unserer Arbeit besonders vorsichtig sein. Schon heute sehen wir, wie die Ausbreitung des Coronavirus die ohnehin angespannte Lage weiter verschärft.

 

Ausgangssperren, Einreiseverbote, steigende Fallzahlen: Wie koordinieren sich die Teams unter diesen Bedingungen?

Wir sind in gutem Kontakt zur Weltgesundheitsorganisation (WHO), um eine Antwort auf diese Krise zu finden. In einigen Ländern gelingt es uns aber nicht einmal, die Regierung oder die Verantwortlichen im nationalen Gesundheitsministerium zu erreichen – alle sind permanent beschäftigt und kaum erreichbar. Parallel versuchen wir Schutzkleidung zu besorgen, was nur bedingt möglich ist. Außerdem bieten wir Fortbildungen für medizinisches Personal an, um es auf den Umgang mit dem Virus vorzubereiten.

 

»Wegen der Ausgangssperre können unsere Mitarbeiter das medizinische Personal in den Krankenhäusern kaum noch erreichen«

 

Wie funktioniert das genau?

Wir bereiten Ärzte, Ärztinnen, Krankenpfleger und Krankenschwestern auf die spezifischen Herausforderungen vor, die Covid-19 mit sich bringt. Keine einfache Aufgabe, denn die Menschen haben große Angst vor dem Virus. Hinzu kommt, dass in vielen Ländern des Nahen Ostens mittlerweile Ausgangssperren gelten, weshalb unsere Mitarbeiter das medizinische Personal in den Krankenhäusern kaum noch erreichen können.

 

Trauma und Depressionen sind in kriegsversehrten Gesellschaften ohnehin große Probleme, Zwangsisolation und Quarantäne können da verheerend für die mentale Gesundheit sein. Wie geht MSF mit dieser Thematik um?

Das haben wir natürlich im Blick, denn die Berichte aus der Quarantäne in China waren da eindeutig – übrigens auch für das medizinische Personal. Wir haben so gelernt, dass insbesondere die Angehörigen erkrankter Menschen Unterstützung benötigen, so groß sind Angst und Unsicherheit. Insbesondere in Ländern, in denen die medizinische Versorgung schlecht ist. Wir haben mittlerweile 15 Teams aus Psychologen und Psychotherapeuten zusammengestellt, die sich dieser spezifischen Herausforderung stellen. Wir versuchen, sie aus unserem Hauptquartier in Paris heraus zu unterstützten, so gut es eben geht.

 

Binnenvertriebene und Geflüchtete gelten angesichts schwieriger hygienischer Bedingungen in vielen Unterkünften als besonders schutzbedürftig. Wie sieht denn die Situation in den Flüchtlingslagern des Nahen Osten aus?

Im Irak, für den ich zuständig bin, ist die Lage enorm angespannt. Die Lebensbedingungen dort sind schon im Normalfall problematisch, in einigen Fällen gibt es nicht mal sauberes Wasser. Deshalb ist der Schutz dieser Menschen eine Priorität für uns. Aber es ist nicht einfach und beginnt bereits mit der Isolation, selbst bei denjenigen, die sich bereits infiziert haben. Aber im Moment ist es das einzige, was wir tun können: Uns um Isolation bemühen und so das Ansteckungsrisiko in den Lagern zu senken.

 

»Wie soll denn die jemenitische Regierung auf dem globalen Markt um PPE-Schutzmaterial konkurrieren?«

 

Wie reagieren die Regierungen auf Ihre Arbeit in den Lagern?

Es ist eine schwierige Situation, denn die meisten Geflüchteten in Jordanien, Libanon oder Irak stammen ja aus anderen Ländern. Wir wissen schlicht nicht, wie die Regierung mit ihnen umzugehen gedenkt. Wollen sie vielleicht zuerst ihre eigene Bevölkerung geschützt sehen? Und ich könnte es ihnen ja nicht mal verdenken, das ist ja auch ihre Aufgabe. Deshalb befürchten wir, dass der Schutz solcher Lager nicht immer die oberste Priorität haben wird.

 

Dabei ließe sich argumentieren, dass ohne entsprechende Schutzmaßnahmen exakt jene Lager zu neuen Hotspots für die Verbreitung des Virus werden könnten.

Im Moment können wir es einfach nicht sagen, jeder scheint da sein eigenes Süppchen zu kochen. Keine einfache Situation, weil wir ja oft nicht einmal den Regierungsplan zum Schutz der eigenen Bürger kennen. Klar ist: Der politische Druck, auch durch die eigene Bevölkerung, ist immens.

 

2012 verbreitete sich von Saudi-Arabien aus ein neuer Virus in der Region und dann auch in anderen Teilen der Welt: MERS-CoV, ebenfalls ein Coronavirus. Hat diese Erfahrung dafür gesorgt, dass einige Länder im Nahen Osten besser auf die jetzige Pandemie vorbereitet waren?

Das ist von Land zu Land unterschiedlich. In den VAE, allen voran Dubai, etwa wird viel getestet und die Behörden arbeiten hart daran, die Übertragungskette zu brechen. In anderen Ländern, Jemen etwa, bleibt den Behörden angesichts des mangelhaften Gesundheitssystems nichts anderes übrig, als den Flughafen zu schließen und ihren Bürgern zu raten, daheim zu bleiben. Viel mehr können sie nicht tun. Das ganz große Problem ist und bleibt aber der Nachschub. Es fehlt an Schutzkleidung und Tests. Im Südjemen etwa sind die ersten Test-Kits erst vorige Woche eingetroffen. Ohne Testergebnisse ist die Grundlage für politische Entscheidungen aber mangelhaft. Selbst wenn die Regierungen etwas tun wollen, sind ihnen oft die Hände gebunden: Es mangelt an Tests, Ausrüstung und qualifiziertem medizinischen Personal.

 

Eine Herausforderung, vor der auch europäische Länder stehen.

Die haben einige der besten Gesundheitssysteme weltweit und dennoch gigantische Probleme. Das vermittelt vielleicht ein Gefühl dafür, wie die Lage hier ist, wo die medizinischen Systeme bereits kollabierten, in Staaten ohne finanzielle Mittel oder politischen Einfluss. Wie soll denn die jemenitische Regierung auf dem globalen Markt um PPE-Schutzmaterial konkurrieren, wenn selbst innerhalb der EU darum gerungen wird, wer was bekommt?

 

»Dubai macht keinen schlechten Job«

 

Neben Schutzkleidung und Beatmungsmaschinen werden auch Labore benötigt, die Corona-Tests auswerten können. Wie ist der Nahe Osten in dieser Hinsicht aufgestellt?

Sehr, sehr schlecht. Im Irak etwa gibt es genau ein Labor in Bagdad, das dazu in der Lage ist. Man muss sich das mal vorstellen: Im gesamten Land gibt es ein Labor und dort sollen dann alle Tests ausgewertet werden. Und solche Labore sind aus meiner Sicht essenziell, um die Ausbreitung des Virus zu stoppen. Denn ohne Labore gibt es keine Diagnose und ohne solche Befunde tappen alle im Dunkeln.

 

Angesichts all dieser Herausforderungen scheint der Anreiz für Regierungen zu steigen, das wahre Ausmaß des Problems herunterzuspielen.

Die Zahlen sind oftmals ja nur so niedrig, weil die meisten Länder der Region nicht flächendeckend testen können. Zu diesem Mangel an Material kommt vielleicht auch ein Mangel an politischem Willen, mehr zu testen. Denn wenn die Fallzahlen steigen, wächst auch der Druck, Entscheidungen zu treffen, die einen starken negativen Einfluss auf die Wirtschaft des Landes haben.

 

In Europa wird gerade deutlich, wie wichtig der Austausch von Informationen und Material zwischen den einzelnen Ländern ist. Beobachten Sie etwas ähnliches in der Region?

Überhaupt nicht, ich sehe nichts dergleichen. Es gibt schlicht keinen gemeinsamen Plan, das kann ich für die Länder, in denen wir arbeiten, mit Sicherheit sagen.

 

Die finanzielle Situation der einzelnen Länder unterscheidet sich enorm, wie wirkt sich das auf die Möglichkeiten der Regierungen aus, auf die Krise zu reagieren? Wer ist am besten vorbereitet?

Ich denke, Dubai macht keinen schlechten Job. Die Häfen haben die Behörden bereits vor einem Monat geschlossen, am Flughafen wird ausgiebig getestet. Viele Einrichtungen wurden geschlossen, das waren harte politische Maßnahmen. Ohne die genaue Zahl der Tests zu kennen, ist klar, dass Dubai im regionalen Vergleich an der Spitze steht. Auch die Krankenhäuser sind gut und so scheint es, als ob viele Golfländer, aber besonders Dubai, gut auf das Virus vorbereitet sind. Zwar gibt es keine absolut strikte Ausgangssperre, aber auf den Straßen ist kaum noch etwas los.

 

»50 Betten, sechs davon für Intensivbehandlung. Kurz bevor es dazu kam, hat uns die Revolutionsgarde gestoppt«

 

Am anderen Ufer des Persischen Golfs scheint die Lage hingegen dramatisch: Selbst die WHO vermutet, dass Iran das wahre Ausmaß der Infektionen runterspielt, obwohl selbst schon diese offiziellen Zahlen eine Katastrophe andeuten.

Wir haben der Regierung in Teheran angeboten, ein Behandlungszentrum für Corona-Kranke zu errichten. 50 Betten, sechs davon für Intensivbehandlung. Kurz bevor es dazu kam, hat uns die Revolutionsgarde gestoppt, dabei hatten andere Behörden schon ihre Zustimmung signalisiert. Jetzt sind wir in Verhandlungen, wie es weitergehen kann. Dabei waren wir schon so weit, haben sogar die Ankunft medizinischen Personals vorbereitet. Jetzt hängt es an der Regierung, wie es weitergeht. (Anm. d. Redaktion: Die iranische Regierung hat das Hilfsangebot von MSF mittlerweile abgelehnt und dies mit der Angst vor Spionage begründet.)

 

In Jordanien hat die Regierung hingegen hart und drastisch mit einem Ausgangsverbot reagiert, dass selbst die Maßnahmen im besonders gebeutelten Italien übertrifft. Was ist das Kalkül dahinter?

In Jordanien, Irak und Nordjemen wurde quasi das gesamte öffentliche Leben lahmgelegt. Ich denke, nach den Bildern aus China, Italien und Iran war die Sorge in den Regierungen enorm groß – insbesondere mit Blick auf die eigene, mangelhafte medizinische Ausstattung, etwa was Tests betrifft. Die Regierungen spielen auf Zeit, so wie die meisten Länder in Europa. Zeit, die genutzt werden kann, die Zahl der Tests hochzuschrauben und eine Antwort auf die Pandemie zu finden. Ich denke, das ist kein schlechter Ansatz.

 

Entsteht hier eine Blaupause für den Rest der Region?

Was für Alternativen haben die Länder denn schon? Meiner Meinung nach müssen wir uns jetzt darauf konzentrieren, die Krankenhäuser am Laufen zu halten. Denn ich habe große Sorge, dass das mit der Schließung von Häfen und Flughäfen zunehmend schwieriger wird. Schon jetzt ist es für Patienten, die nicht an Corona erkrankt sind, schwer, Aufnahme zu finden. Die Kapazitäten müssen erweitert werden, damit weiterhin alle behandelt werden können. Für uns als internationale Organisation ist diese Situation ein Alptraum. Ein Alptraum, weil wir nicht tun können, was wir wissen, was nötig wäre. Wir können nicht helfen, weil alles stillgelegt ist. Das hat wahnsinnige Auswirkungen auf unsere Arbeit. Wir arbeiten hart daran, frisches Personal in die Region zu fliegen. Aber noch einmal: Ohne Masken und Sauerstoff können wir auch dann nichts ausrichten.

 

Aus Italien und anderen schwer betroffenen Ländern mehren sich Berichte über erkranktes Pflegepersonal. Gibt es bereits erste Fälle bei MSF?

In der Region noch nicht, aber das wird sich ändern. In Frankreich und Italien ist es bereits soweit. Weltweit arbeiten 42.000 Menschen für uns, das Risiko ist groß. Es gibt keine Garantien für uns, wir haben oftmals nicht genügend Schutzmaterial. Trotzdem arbeiten wir weiter, im Jemen etwa betreiben wir ja mehrere Krankenhäuser. Irgendwie müssen wir einen Weg finden, unsere Arbeit fortzusetzen.

Von: 
Florian Guckelsberger

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