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75 Jahre Israel, 75 Jahre Nakba

Was von Al-Bassa blieb

Feature
75 Jahre Israel, 75 Jahre Nakba
Auf dem Gelände des einstigen Al-Bassa findet man diesen Graffito. Die von Naji Salim al-Ali 1969 erschaffene Comicfigur des Handala stellt einen palästinensischen Flüchtlingsjungen dar.

Während des Ersten Nahostkriegs und der »Nakba« vor 75 Jahren verschwand ein arabisch-palästinensisches Dorf in Galiläa aus der Geschichte. Eines der damaligen Tagebücher könnte das nun ändern.

Im Verlauf der »Nakba« verloren etwa 800.000 Palästinenserinnen und Palästinenser ihre Heimat. Mehr als 400 der insgesamt über 500 arabischen Dörfer in Palästina fielen der Zerstörung anheim. Der israelische Staat konfiszierte das neugeschaffene Land, den einstigen Bewohnern war es verwehrt, in ihre Dörfer zurückzukehren. Palästinensische Binnenflüchtlinge verblieben als kleine Minderheit im neuen Staat Israel. Als Folge der Nakba sollten sich zahlreiche Palästinenser unter der Fremdherrschaft verschiedener Regime wiederfinden. Sie blieben ihrer Heimat und ihres Eigentums beraubt und hatten die Kontrolle über wesentliche Aspekte ihres Lebens verloren.

 

Die vertriebenen Menschen nahmen ihre Erinnerungen mit in die Fremde. Um dem Vergessen entgegenzuwirken, schrieben einige von ihnen individuell und oft unabhängig von irgendwelchen Institutionen ihre Erinnerungen an die verschwundenen Dörfer auf. Diese Schriften richteten sich an die junge Generation, die keine eigenen Erinnerungen mehr an ihre Heimatdörfer hatte. Die Benennung von Familiennamen, die Beschreibung von Familienhäusern und Schulen sowie die Schilderung der Sitten und Gebräuche, die in den Dörfern geherrscht hatten, sollten die Vergangenheit für die nachfolgenden Generationen bewahren. Das verschwundene Dorf wurde so zum imaginären Fixpunkt palästinensischer Identität in der Diaspora.

 

Manche Erinnerungsschriften wurden publiziert. Andere blieben unveröffentlicht und wurden von Generation zu Generation weitergereicht. Dieser Beitrag beruht weitgehend auf den privaten Aufzeichnungen des Historikers Jamil M. Abun-Nasr, der zum Zeitpunkt der Vertreibung aus Al-Bassa 16 Jahre alt war und später in Deutschland lebte. Bei der Niederschrift seiner Erinnerungen stützte er sich teilweise auf das Tagebuch seines Vaters Mir‘i Abun-Nasr. Das Schicksal Al-Bassas und seiner Bewohner soll hier beispielhaft für die Geschehnisse und Folgen der Nakba geschildert werden.

 

Al-Bassa war in den 1940er-Jahren ein vergleichsweise großes und wohlhabendes Dorf. Im äußersten Zipfel von Nordwest-Galiläa gelegen, lag das Dorfzentrum kaum drei Kilometer von der Küste des Mittelmeers entfernt. Die Grenze zum Libanon verlief durch die Hügel von Al-Mushaqqa, die man vom Dorf herkommend zu Fuß erreichen konnte. Im Osten von Al-Bassa lag der Kibbuz Hanita, der im Jahr 1938 gegründet worden war.

 

Gemäß einer Statistik der britischen Mandatsmacht lebten 2.950 Menschen 1945 in Al-Bassa. Jamil Abun-Nasr schreibt, dass 60 Prozent der Dorfbevölkerung Christen waren. Der größte Teil von ihnen gehörte der katholischen Kirche an, der Rest war entweder griechisch-orthodox oder protestantisch. Im Dorf standen denn auch drei christliche Gotteshäuser, die katholische Kirche stammte von Mitte des 19. Jahrhunderts. Die muslimische Gemeinde umfasste etwa 1.300 Gläubige, wobei die Sunniten eine knappe Mehrheit bildeten. Sunniten und Schiiten beteten in derselben Moschee, die gegen Ende der 1920er-Jahre erbaut worden war.

 

Die Bewohner von Al-Bassa bewirtschafteten eine Fläche von etwa 15.000 Hektar. Vor allem Oliven, daneben Orangen, Bananen, verschiedene Gemüsesorten sowie Weizen wurden angepflanzt. Der größte Teil des Kulturlandes befand sich im Besitz ortsansässiger Familien, die die Felder auch selbst bestellten. Der Landbesitz war jedoch ungleich verteilt: Einige wenige Dorfnotabeln und ihre Familien besaßen ausgedehnte Ländereien, die sie von Dorfbewohnern gegen ein festgelegtes Jahresgehalt bewirtschaften ließen. Zur Olivenernte heuerten die wohlhabenden Grundbesitzer zusätzliche Arbeitskräfte aus den nahgelegenen schiitischen Dörfern im Süden des Libanon an.

 

Der Beschuss löste die von den Angreifern intendierte Fluchtbewegung aus. Innerhalb eines Tages kollabierte der Widerstand der kleinen Dorfmiliz in Al-Bassa

 

In seinem Tagebuch fasst Mir‘i Abun-Nasr die Situation für die ersten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg zusammen. Offensichtlich verbesserte sich die wirtschaftliche Lage Al-Bassas beträchtlich. Sorge bereitete dem Tagebuchschreiber hingegen der Konflikt zwischen Arabern und Juden, der in den Nachkriegsjahren auf einen weiteren Höhepunkt zusteuerte.

 

Das Tagebuch listet die Schauplätze gewaltsamer Zusammenstöße auf, verzeichnet die Zahl der Getöteten und die Namen der damals von den Briten verhafteten arabischen Führer. Dennoch konnte sich der Tagebuchschreiber kaum vorstellen, dass der Konflikt das Leben seiner Familie und das Schicksal von Al-Bassa nachhaltig beeinträchtigen könnte. Anfang 1948 rechnete er mit einer guten Olivenernte und verwies im Tagebuch auf laufende Projekte zur Verbesserung der dörflichen Infrastruktur.

 

Dass zwischen 1947 und 1949 die palästinensische Seite im Kampf ums Land die schlechteren Karten hatte, darüber ist in der einschlägigen Literatur viel geschrieben worden. Der gescheiterte arabische Aufstand zwischen 1936 und 1939 gegen die britische Mandatsmacht hatte letztlich zu einer Zerschlagung der arabischen Führungsstrukturen und weitgehenden Entwaffnung der Palästinenser geführt. Als sich der Konflikt zwischen Arabern und Juden nach dem Zweiten Weltkrieg intensivierte, offenbarten sich die Schwächen der palästinensischen Seite. Die Palästinenser begannen die Kämpfe, die auf die UN-Resolution zur Teilung Palästinas folgten, mit einer tief zerstrittenen Führung, überaus limitierten militärischen Kräften und finanziellen Mitteln. Ihnen gegenüber stand eine politisch geeinte, sehr gut geführte und hoch motivierte jüdische Gemeinschaft.

 

Im April 1948 ging die Hagana zur systematischen Eroberung der von der zionistischen Führung vorgezeichneten Orte und Gebiete über. Am 14. Mai 1948 griffen Einheiten der Yiftach-Brigade im Rahmen der »Operation Ben-Ami« nachts das Dorf Al-Bassa an. In Mir‘i Abun-Nasrs Tagebuch wird der Angriff nicht detailliert geschildert. Wir erfahren jedoch, dass Al-Bassa mit Mörsergeschützen beschossen wurde, und dass bei diesem Bombardement zwölf Dorfbewohner ums Leben kamen. Unter den Getöteten waren auch fünf Kinder.

 

Der Beschuss löste die von den Angreifern intendierte Fluchtbewegung aus. Innerhalb eines Tages kollabierte der Widerstand der kleinen Dorfmiliz in Al-Bassa. In seiner bahnbrechenden Studie »Die ethnische Säuberung Palästinas« schreibt der israelische Historiker Ilan Pappe, dass die Hagana kaum 30 Stunden brauchte, um nach Ablauf des britischen Mandats nahezu sämtliche Dörfer in den Nordwestbezirken Galiläas einzunehmen und zu zerstören.

 

In großen Lettern notierte Mir‘i Abun-Nasr in seinem Tagebuch: »Palästina ist verloren. Es ist von der Landkarte verschwunden«

 

Die Einwohner von Al-Bassa flohen mit ihren Habseligkeiten über die libanesische Grenze. Die zionistischen Kräfte ließen sie ziehen und errichteten Patrouillen, um eine Rückkehr der Geflüchteten zu verhindern. Das Tagebuch berichtet, dass die libanesische Armee auf der anderen Seite der Grenze nicht in das Geschehen eingriff und die Flüchtenden passieren ließ. Die Menschen warteten tagelang im libanesischen Dorf Alma Al-Scha’b auf eine mögliche Rückkehr nach Al-Bassa. Auch der Tagebuchschreiber Mir‘i Abun-Nasr war durchaus hoffnungsvoll. Allerdings erfuhr er, so wie viele andere Flüchtlinge, dass ein Großteil Palästinas zwischen dem 27. und dem 30. Mai in die Hände der Zionisten gefallen war. In großen Lettern notierte er in seinem Tagebuch: »Palästina ist verloren. Es ist von der Landkarte verschwunden.«

 

Mitte Juni 1948 wurde ein Teil der Flüchtlinge von den libanesischen Behörden nach Miya wa-Miya nahe Sidon verbracht. Andere Flüchtlinge aus Al-Bassa wurden nach Syrien weitergeschickt. Die Namen der in Miya wa-Miya Gestrandeten weisen darauf hin, dass es sich dabei hauptsächlich um christliche Familien handelte. Tagebuchschreiber Mir‘i Abun-Nasr vermutete, dass der christlich dominierten Regierung in Beirut daran gelegen war, muslimische Familien nach Syrien zu transferieren. Einige Bassawis schafften es dennoch, irgendwie in Israel zu verbleiben. Sie wurden von den Israelis zu sogenannten Present Absentees erklärt, ihrer Landrechte im Heimatdorf beraubt und auf Ortschaften im Raum Nazareth verteilt.

 

Im Lager Miya wa-Miya empfand Mir‘i Abun-Nasr die von den libanesischen Behörden geleistete Hilfe als unzureichend. Die Situation verbesserte sich erst, als ab Mai 1950 die Arbeit der UNRWA, des neugegründeten Hilfswerkes der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten, einsetzte. Die UNRWA lieferte nicht nur Nahrungsmittel, sondern gründete in Flüchtlingslagern wie Miya wa-Miya auch Schulen und einfache Gesundheitszentren. Qualifizierte Flüchtlinge, die in der Lage waren, durch bezahlte Arbeit für die UNRWA etwas Geld anzusparen, nutzten die Gelegenheit, mithilfe ihrer Ersparnisse das Lager zu verlassen und beispielsweise nach Beirut zu ziehen.

 

Mit der Vertreibung der Menschen aus Al-Bassa begann die radikale Umgestaltung der Landschaft. Nichts mehr sollte an das palästinensische Erbe erinnern. Bis auf einige Wohnhäuser und wenige Sakralbauten wurde das Dorf unmittelbar nach der Eroberung vollständig zerstört. Im Verlauf weniger Jahre – zwischen 1949 und 1951 – bauten die Zionisten einige Siedlungen auf dem Gelände von Al-Bassa.

 

So entstand der Moschaw Betzet, in dem sich in der Folge jüdische Immigranten aus Jugoslawien und Rumänien ansiedelten. Demobilisierte Palmach-Kämpfer aus Hanita gründeten den Kibbuz Rosh HaNikra. Und ebenfalls auf den Ländereien des einstigen Al-Bassa wurde die Siedlung Shlomi errichtet. Damit war nicht nur die physische Präsenz des palästinensischen Erbes vernichtet worden. Die palästinensische Vergangenheit war gleichsam mit den Neugründungen der jüdischen Siedlungen überschrieben und so dem Vergessen anheimgegeben worden.

 

Vertriebene Bassawis, die in Israel verblieben, sowie deren Nachkommen bemühen sich seit Jahren auf juristischem Weg um die Restitution der historischen Stätten

 

2002 gründete eine kleine Gruppe von jüdisch-israelischen Aktivisten die Organisation Zochrot, deren Ziel die »Hebräisierung der Nakba« ist. Die Geschehnisse des Jahres 1948 sollten in der jüdischen Gesellschaft Israels nicht weiter verschwiegen oder geleugnet, sondern Bestandteil des öffentlichen Diskurses werden. Zochrot organisiert bis heute Touren durch all jene israelischen Ortschaften, die auf den Trümmern palästinensischer Dörfer errichtet wurden. Interessierte jüdische Israelis und überlebende Vertriebene sowie deren Nachfahren werden zu den Touren eingeladen, an deren Ende jeweils Ortsschilder mit den Namen der ursprünglichen Dörfer aufgestellt werden. Aktivisten berichten, dass diese Ortsschilder der Erinnerung meist binnen weniger Stunden wieder entfernt werden.

 

Auf der Suche nach den Überresten von Al-Bassa finden auch im Industriegebiet der Kleinstadt Shlomi wiederholt Touren statt. Inmitten von Gestrüpp und Büschen ragt die Ruine der einstigen orthodoxen Kirche hervor. Aus Stein erbaut und versehen mit reichhaltigen Verzierungen im Innern wurde das Gotteshaus bis in die 1980er-Jahre hinein als Schafskoppel verwendet. Auch der christliche Friedhof ist in einem bedauernswerten Zustand. Nördlich davon erkennt man die Überreste des Familienhauses der Al-Khoury, ein zweistöckiges Gebäude mit kunstvollen Säulen.

 

Die Ruine der Moschee steht ebenfalls noch. Es ist ein rechteckiger, einstöckiger Bau aus Stein, dessen Minarette längst abgetragen worden sind und der von den jüdischen Siedlern zeitweise als Kuhstall zweckentfremdet wurde. Südlich der einstigen Moschee steht ein verfallenes Gebäude, das den Bassawis einst als »Bayt al-Sittat al-Alman – Haus der deutschen Frauen« bekannt war. Es stammt aus den 1930er-Jahren und diente nicht nur als Primarschule für Mädchen, sondern auch als Heim der Diakonissinnen der deutschen Karmel-Mission.

 

Vertriebene Bassawis, die in Israel verblieben, sowie deren Nachkommen bemühen sich seit Jahren auf juristischem Weg um die Restitution der historischen Stätten. Sie sollen der Vertriebenenorganisation übergeben und renoviert werden. Derlei Pläne sind bisher am Widerstand der für die Verwaltung des Geländes in öffentlichem Besitz zuständigen Behörde gescheitert. Vorbereitende Renovationsarbeiten des Vertriebenenverbandes an der Moschee wurden denn auch von den israelischen Behörden gestoppt.

 

Breite gesellschaftliche Unterstützung für solche Bemühungen der palästinensischen Zivilgesellschaft ist angesichts des derzeitigen politischen Klimas in Israel wenig wahrscheinlich. Umso wichtiger ist es, dass außerhalb Israels die Geschehnisse der Nakba nicht in Vergessenheit geraten. Und es allseits bekannt ist, dass inmitten zahlreicher jüdisch-israelischer Siedlungen Zeugnisse palästinensischer Vergangenheit sichtbar sind.


Peter Haenger ist freier Historiker mit Forschungsschwerpunkten in Sozial- und Wirtschaftsgeschichte.

Von: 
Peter Haenger

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